Gigerheimat: Worte
Der Simplify-Trend I

 

Der Simplify-Trend

Die neue Einfachheit wird auch das Konsumverhalten beeinflussen

Von Dr. Andreas Giger

»In dieser Studie untersucht das Zukunftsinstitut die Tiefenschichten eines der wohl substantiellsten Trends in der jüngsten Kulturgeschichte. Wir wollen nicht unbedingt von einem Mega-Trend sprechen, aber ein tiefer, substanzieller Trend ist dies auf jeden Fall. Denn die Triebkräfte, die hinter ihm stehen, sind gewaltig. Die Sehnsucht nach mehr Lebensqualität, vor allem im Zusammenhang mit der Re-Konstruktion familiärer Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit Arbeits- und Karriereformen, die Menschen zunehmend auslaugen. Der "Information Overload". Die Überkomplexität unserer technologischen Umwelt. Zusammen mit der derzeitigen Wirtschaftskrise macht dies einen gewaltigen Motivkern aus. Hinter dem Phänomen "Simplifizierung" steckt nichts anderes als der Wandel zu den post-materiellen Werten. Mit anderen Worten: Es geht um die Perspektiven unserer Lebenswelt. Um die Zukunft des Menschlichen per se.«

(Matthias Horx im Vorwort zur Zukunftsstudie "Der Simplify-Trend")

Gibt es überhaupt einen Simplify-Trend ?

Das Zukunftsinstitut von Matthias Horx, das die hier zusammengefasste Studie zum Simplify-Trend herausgibt, definiert den Trend als eine bewusste, auf die Steigerung von Lebensqualität abzielende Entscheidung zur materiellen Reduktion des Lebensstandards. Doch die ungeduldigen Herren von der Marketing- und Meinungsforscher-Gilde leugneten prinzipiell ein solches Phänomen: »Das Institut für Demoskopie Allensbach geht davon aus, dass solche Trends nur Mini-Gruppen betreffen und ihr Verhalten im Bevölkerungsschnitt nicht messbar sei.«

Nun sind repräsentative Bevölkerungsumfragen tatsächlich ungeeignet zur Erfassung subtilerer Trends und ihrer Auswirkungen. Die Studie basiert deshalb auf einer Online-Befragung von SensoNet. SensoNet, eine Entwicklung des Autors, ist das demokratische Delphi des Zukunftsinstituts, das auf dem Grundsatz basiert, wonach in einer Demokratie und Marktwirtschaft gerade die Bürgerinnen und die Verbraucher die wichtigsten Zukunfts-Experten sind. SensoNet ist repräsentativ für jenen Teil der deutschsprachigen Bevölkerung, der sich bewusst mit Zukunftsfragen auseinandersetzt - und damit eine wichtige Rolle als Meinungsbildner für die gesamte Gesellschaft spielt.

Die Studie macht klar: Alles, was wir bei SensoNet über den Simplify-Trend und seine Auswirkungen lernen, wird sich gegenüber heute verstärkt auch in der Gesamtbevölkerung zeigen, moderater und temperierter zwar als bei der Vorhut, aber nichtsdestotrotz mit Konsequenzen.

Auf die Frage Gibt es den Trend zur neuen Einfachheit ("Simplify-Trend") überhaupt, und wenn ja, wie ausgeprägt ? Was ist Ihre Wahrnehmung ? antworteten gerade mal 9% mit einem klaren nein. Umgekehrt sagen nur 4%, der Trend sei schon sehr stark. 33% meinen, der Trend sei schon spürbar, 54% sagen ja, es gibt den Trend, aber erst in Ansätzen.

Nach den Aussichten des Simplify-Trends gefragt, prophezeien nur gerade 15% dem Trend eine glänzende Zukunft. Umgekehrt sagen ihm auch nur gerade 20% eine eher unbedeutende Zukunft voraus. Die grosse Mehrheit (65%) prophezeit, gewiss ganz realistisch, eine mittelprächtige Zukunft. Das heisst, der Simplify-Trend wächst und er hat Auswirkungen, auch auf das Konsumverhalten. Diese Wirkungen werden nicht überwältigend sein, aber darauf kommt es auch gar nicht an. Im Wettbewerb von morgen entscheiden verstärkt die weniger spektakulären, aber umso bedeutsameren "Soft Factors". Und zu denen gehört der richtige Umgang mit dem Simplify-Trend gewiss.

Die Anatomie eines Trends

Um einen Trend nutzen zu können, muss man ihn zunächst verstehen. Und das heisst beim Simplify-Trend: Abschied nehmen von der Vorstellung, es ginge dabei um Askese, also um den lustvollen Verzicht als Selbstzweck. Davon kann keine Rede sein, wie die Anatomie des Trends zeigt:

Der Simplify-Trend kann als Befreiungsstück in zwei Akten gelesen werden, wobei immer die Schaffung von mehr persönlicher Lebensqualität als Ziel, Zweck und Attraktor dient. Die Gestaltung von Lebensqualität braucht, gerade, weil es sich um einen individuellen Gestaltungsprozess handelt, individuelle Gestaltungsspielräume und -freiheiten. Sind diese Spielräume zu eingeengt, entwickelt sich ein wachsendes Bedürfnis nach Befreiung. Freiheit ist ein ebenso kostbares wie empfindliches Pflänzchen, sie erträgt weder Druck noch Ballast. Vor das Projekt Lebensqualität haben die Götter das Projekt Befreiung gesetzt.

Die Eisenreifen, die sich dem zur vollen Blüte seiner eigenen Lebensqualität reifenden Individuum einengend um die Brust legen, sind gleichsam konzentrisch von innen nach aussen angeordnet und werden deshalb am effizientesten in derselben Reihenfolge gesprengt. Genau so klangen die (bei der von SensoNet repräsentierten meinungsbildenden Vorhut) bereits mehrheitsfähigen Verhaltensänderungen: Zunächst das Naheliegendste, das Ausmisten und Entrümpeln der eigenen näheren Umgebung, auf dem Schreibtisch und in den Lebensräumen als Befreiung von unnötigem Ballast. Dann die Befreiung von unnötigem Stress. Und schließlich die Befreiung von der Diktatur der Wünsche durch die Reduktion von materiellen Ansprüchen.

Es folgt, noch etwas weniger ausgeprägt, wenn auch in unterschiedlichen Varianten auftretend, die Befreiung vom Zeitdruck. Und schon zeichnet sich der nächste Emanzipationsschritt ab, die Befreiung vom Zwang zum Konsum.

Je weiter aussen die einengenden Ringe zu finden sind, desto moderater werden sie angegangen. Die Entrümpelung des eigenen Schreibtischs mag noch radikal ausgeführt werden, die Ent-Spannung vom Zeitdruck erfolgt schon in vorsichtigeren Schritten, und Konsumverzicht heisst keineswegs Totalverzicht, sondern selbst bei der gesellschaftlichen Vorhut allenfalls leises Zurückfahren.

Das ist die manifeste, wenn auch keineswegs dramatische Seite der Auswirkungen des Simplify-Trends: Die Befreiung von allerhand belastendem und einengendem Gerümpel, das die eigene Lebensqualität vermindert. Das Essenzielle braucht Raum und Musse, um sich zu entfalten, und die Befreiung von etwas schafft diesen Raum.

An diesen ersten Befreiungsakt schliesst sich nicht notwendigerweise der zweite an, die Befreiung zu etwas. Aber der erste ist die notwendige Voraussetzung für den zweiten Akt. Umgekehrt gibt erst der zweite dem ersten Akt Sinn: Die Befreiung von einengendem Ballast ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, zur Entfaltung des Essenziellen.

Und das ist der Schlüssel zum Verständnis des Simplify-Trends: Reduktion und Vereinfachung geschehen nicht um ihrer selbst willen, sondern um dort, wo es wirklich wichtig ist, ein Mehr zu produzieren, ein Mehr an Lebensqualität, an Sinn, an gepflegten wirklichen Beziehungen, an jener Kreativität, die aus der Langsamkeit wächst. Mit gutem Grund hat SensoNet den Begriff "downshifting" abgelehnt. Es geht nicht um eine Abwärtsbewegung, sondern um eine Umschichtung, und diese Bewegung erfolgt seitwärts oder, je nach Verständnis, gar aufwärts.

Der Befreiungsakt in zwei Akten, der den Simplify-Trend ausmacht, ist und bleibt auf jeden Fall eines: ein Akt, also ein aktives, konkretes Geschehen. Der Trend zur neuen Einfachheit bleibt nicht in den Köpfen stecken, er setzt sich um in aktives Handeln.

Im Hintergrund des Trends: Die Lebensphilosophie des Essenziellen

Matthias Horx hat schon im eingangs zitierten Vorwort darauf verwiesen, hinter dem Simplify-Trend stecke ein fundamentaler Werte-Wandel. Die Werte, die dabei ins Zentrum rücken, lassen sich in einem Begriff zusammenfassen: Die Lebensphilosophie des Essenziellen. Dabei sind mindestens neun Werte weitgehend gleichgewichtig massgeblich. Es sind dies, in der Reihenfolge der Zustimmung:

Die Zustimmung zur aus diesen einzelnen Werten insgesamt destillierten Lebensphilosophie des Essenziellen wächst - und sie wird weiter wachsen. Und zwar nicht nur bei der gesellschaftlichen Vorhut, die SensoNet repräsentiert, sondern insgesamt:

Gerade weil der Wunsch bei der meinungsbildenden Elite, auch die Bevölkerung als ganzes möchte sich an dieser Lebensphilosophie orientieren, so stark ist, wird diese Minderheit alles dazu tun, die Mehrheit zu überzeugen - und das verstärkt den Trend noch einmal.

 

Aufwand für Konsum wird tendenziell sinken

Wirkt sich der Simplify-Trend auf das konkrete Konsumverhalten aus ? Die Antworten gelten natürlich zunächst nur für die vom Trend bereits stärker ergriffene Minderheit, für die SensoNet stellvertretend steht. Diese Minderheit allerdings sagt ziemlich klar voraus, dass die Bedeutung von Konsum in ihrem Leben sinken wird. Differenzierter nach dem Aufwand an Zeit, Geld und Aufmerksamkeit für den Konsum gefragt, bestätigt sich diese Einschätzung:

In den letzten zehn Jahren ist der Aufwand für Konsum praktisch stabil geblieben - beim Geld hat er sogar leicht zugenommen. Von einem Trend kann beim Blick auf die Vergangenheit also keine Rede sein.

In der Vorschau auf die nächste Dekade dagegen wird beim Aufwand für Konsum an Zeit, an Geld und an Aufmerksamkeit überall ein sehr spürbarer Rückgang prognostiziert.

Das Wort "Konsumverzicht" ist dabei natürlich eine Übertreibung: SensoNet gedenkt ja nicht, mit dem Konsum gänzlich aufzuhören. Doch was sie für sich erwarten, ist happig genug: Eine Reduktion der Ausgaben für den Konsum um eine Grössenordnung von zehn Prozent und mehr stellt die ganze Wirtschaft vor eine echte Herausforderung. Ähnliche Reduktionen des Zeitaufwands für den Konsum stellen die ganzen Vertriebskanäle des Handels vor grosse Herausforderungen, die Reduktionen der Aufmerksamkeit wiederum Marketing und Kommunikation.

Dass diese Suppe nicht so heiss gegessen wie gekocht wird, ist klar: Hoch gerechnet auf die Gesamtbevölkerung müssen die Zahlenwerte dieser Prognose deutlich nach unten korrigiert werden. Nicht jedoch deren Richtung: Auch gesamthaft ist mit einer Reduktion der Bedeutung von Konsum und damit verbunden der dafür aufgewendeten Mengen an Geld, Zeit und Aufmerksamkeit zu rechnen. Was nichts anderes bedeutet, als dass der Gesamtkuchen dieser von Konsumentenseite her in den ökonomischen Tauschprozess eingebrachten Güter kleiner wird - und der Wettbewerb damit härter.

In welchem Ausmass und in welchem Tempo dies geschieht, ist dabei weit unerheblicher als dass es geschieht. Ob nun noch etwas mehr oder weniger Zeit bleibt, um sich auf diesen Wandel einzustellen: Hersteller und Handel tun gut daran, sich mindestens gedanklich schon heute damit zu befassen.

Indem die Konsumenten ihr Angebot an Geld, Zeit und Aufmerksamkeit rationieren, erhalten sie zunächst mehr Macht, ihre gestiegenen Ansprüche durchzusetzen. "Mehr für weniger" wird verstärkt zur Devise. Jene Anbieter, die diesem Anspruch genügen, erhalten dadurch einen Wettbewerbsvorteil:

  • wer für geschrumpfte Konsumbudgets wertvollere Angebote macht
  • wer hilft, Zeit zu sparen statt sie zu rauben
  • wer die reduzierte Aufmerksamkeit durch klare und einfache Botschaften kompensiert

Der Trend zur neuen Einfachheit bedeutet für die Wirtschaft nicht nur die Forderung nach Abbau von belastender Komplexität, sondern auch jene nach dem Ausbau von aufbauender Komplexität dort, wo es den Konsumenten um die wirklich wichtigen Dinge geht, um das Essenzielle. Und auch diese Forderung ist einfach und schwierig zugleich zu erfüllen. Es braucht dazu sowohl einfache und klare Grundsätze für die Zielsetzung als auch ein differenziertes und komplexes Instrumentarium für die Umsetzung.

Eine Mär müsste endgültig vom Tisch sein, nämlich die, dass der Trend zur neuen Einfachheit die Ansprüche der Konsumenten mindert und bescheidener macht. Das Gegenteil ist der Fall. Überleben werden im verschärften Wettbewerb nur jene, welche bereit sind, die gestiegenen Ansprüche jener Konsumenten zu befriedigen, die wie Oscar Wilde sagen: Ich habe einen ganz einfachen Geschmack. Ich will immer nur das Beste...

 

 

Der nebenstehende Artikel ist erschienen in der Schweizer Werbeagenda 2004, dem Handbuch der Kommunikation von swa und orell füssli.

Dasselbst folgender Autoren-Hinweis:

Dr. Andreas Giger

Jahrgang 1951, lebt und arbeitet als Zukunfts-Forscher und -Philosoph im appenzellischen Wald. Giger studierte in Zürich Sozialwissenschaften und beschreibt seinen anschliessenden Weg als persönliche Evolution (www.gigerheimat.ch). Erarbeitete in verschiedensten Feldern wie Sozialwissenschaften, Politiker, Magazin-Herausgeber, Unternehmensberater, Ghostwriter oder als Management Trainer. Im Jahre 1989 schrieb er für das grösste Markt- und Meinungsforschungsinstitut der Schweiz einen fiktiven Dialog zwischen dem damaligen Geschäftsleiter und seinem Nachfolger im Jahre 2001. In der Folge entstanden weitere "Prä-Visionen" für verschiedene Unternehmen. 1996 gründete er "SensoNet", ein Netz von Zukunfts-Liebhaberlnnen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, welche regelmässig zu ihren Zukunftsbildern befragt werden. Die Ergebnisse werden publiziert (www.sensonet.org) bzw. für die Beratung von Unternehmen genutzt. Für das Zukunftsinstitut von Matthias Horx schrieb Giger neben der Studie zum Simplify-Trend u.a. auch "Megatrend Reife - Chancen der älter werdenden Gesellschaft" (www.reife.ch).

 

 

zurück zur Übersicht der Wortbeiträge von Andreas Giger