DIE BEWUSSTSEINS-ELITE

 

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Ihrer Zeit voraus - Pioniere der Bewusstseins-Elite

(In dieser Rubrik werden Texte veröffentlicht, die geschrieben wurden, lange bevor es den Begriff der Bewusstseins-Elite gab, und die dennoch auch heute und morgen Impulse geben können. Falls Sie selber solche Texte kennen, lassen Sie es mich bitte per Mail wissen.)

Dieser Artikel erschien als Originalbeitrag erstmals 1986 im Magazin SPHINX, dessen Herausgeber ich damals war, und wurde 1996, also im Todesjahr Learys, als erstes "Informationsgeschenk" an die TeilnehmerInnen von SensoNet abgegeben. Mehr über Timothy Leary am Schluss des Beitrags.


Hermann Hesse, ein Prophet des Informationszeitalters

Von Timothy Leary*

Aus so manchen inneren und äußeren Gefängnissen ausgebrochen, ist Timothy Leary selbst ein Meister des Glasperlenspiels mit den unendlichen Spielformen unserer Welten. Sein »Game of Life« ist ebenso ein Glasperlenspiel wie Hermann Hesses. Er findet in Hesse eine verwandte Seele, die gleich ihm die vorhandene DNS-Information nicht als gegeben hinnimmt, sondern als Aufforderung zum Spiel.

Welcher Hermann?

Wenn ich wissen will, was die Jugend am College dieser Tage bewegt, dann frage ich eine junge Freundin, Daisy. Sie ist Studentin in Harvard, zwanzigjährig, hat einen IQ, der etwa so hoch wie der Dollar- Yen Wechselkurs ist und nennt einen gesunden Instinkt für das, was kulturell gerade in ist, ihr eigen. Ich erwähnte den Namen Hermann Hesse in einem Gespräch mit Daisy, und sie guckte mich erstaunt an. »Tönt nach einem deutschen Tennisprofi«, sagte sie mit einem leicht säuerlichen Grinsen.

»Bum Bum Hesse bekam 1946 den Nobelpreis für Literatur«, erklärte ich.

Was sollen diese Albernheiten«, antwortete Daisy, »Hier, jetzt serviere ich dir eine Knacknuss. Hast du je von Halldor K. Laxness aus Island gehört?« ”Was für ein Haldor?Ý kam meine erstaunte Antwort.

»Eben, er gewann ebenfalls den Nobelpreis, aber 1955«, seufzte Daisy, »so stehts heute um die Berühmtheiten aus der Literatur.«

Soviel über die Dauer der Bedeutung von Philosophen und Feuilletonisten.

Dennoch, vor nur zwanzig Jahren wurde Hesse von College-Studenten verehrt. Er galt damals als die Stimme des Jahrzehnts und hatte den Ruf, ein »Über-Weiser« zu sein, größer als Tolkien oder Kahil Gibran!

In den Sechzigern wurden Hesses mystisch-utopische Romane von Millionen gelesen. Die Pop-Gruppe »Steppenwolf« nannte sich nach dem »psychedelischen« Helden aus Hesses Roman, weIcher jene »langen, dünnen, gelben... unendlich belebenden Zigaretten« rauchte, und sich danach ins Magische Theater aufmachte, einen Weg beschreitend, den kein Romanheld vor ihm beschritten hatte.

Ein anderer Roman Hesses, »Die Morgenlandfahrt«, brachte Armeen von Pilgern dazu, sich auf dem »Haschisch-Pfad« nach Indien aufzumachen. Das Ziel dieses Kreuzzuges der Jugend? Erleuchtung. Kosmische Einheit. Die große Bewusstseinserweiterung.

Das war die Zeit, als Sufi-Mystik, inneres Reisen, die atemlose Suche nach der einen Wahrheit, der letzte Schrei waren. Armer Hesse, er scheint heute, im Zeitalter des High Tech und der Computer-Zeitschriften hoffnungslos aus der Mode gekommen zu sein. Kein Wunder, dass mein Detektor für intellektuelle Strömungen, Daisy, antwortete: »WeIcher Hermann?«

Hermann Hesse, ein Prophet des Computerzeitalters?

Doch unser mitleidiges Bedauern für den sauberen Weisen aus der Schweiz könnte voreilig sein. Denn an den Orten, wo sich die Computer-Avant-Garde zusammenfindet, in der Gegend von Palo Alto in Kalifornien, in den CarnegieMellon Al (Artificial Intelligence)-Laboratorien und in den Computergrafik-Laboratorien des südlichen Kalifornien, scheint sich ein Hesse-Comeback vorzubereiten.

Wie auch immer, diese Wiederentdeckung hat nichts mit Hesses östlich-mystischen Werken zu tun. Sie beruht auf seinem letzten und am wenigsten verstandenen Werk, dem Glasperlenspiel.

Dieses Buch brachte Hesse den Nobelpreis ein und spielt einige Jahrhunderte nach unserer Zeit, in einer Zukunft, in der die menschliche Intelligenz sich weiter entwickelt hat und die Kultur durch eine Methode strukturierten Denkens getragen wird, die sich das Glasperlenspiel nennt.

Erst in diesen elektronischen Achtzigern sind die Leser fähig, richtig einzuschätzen, was Hesse in den Schweizer Alpen sich damals, zwischen 1931 und 42, ausgedacht hatte. Am eigentlichen Höhepunkt des rauchgeschwängerten Mechanischen Zeitalters beschrieb Hermann mit der erstaunlichen Präzision des Hellsichtigen ein bestimmtes postindustrielles Werkzeug, mit dessen Hilfe Gedanken in digitale Elemente umgewandelt und bearbeitet werden konnten. Kein Zweifel, der »Vater« der Hippies nahm damit einen elektronischen Intelligenzverstärker vorweg, dessen Erscheinen auf dem Markt wir erst 1976 erleben konnten. Ich weise damit natürlich auf jene Frucht vom Baume der Erkenntnis hin, die da »Apple« heißt.

Die Aldous Huxley-Hermann Hesse-Fuge

Ich für meine Wenigkeit hörte das erste Mal durch Aldous Huxley von Hermann Hesse. Das war im Herbst 1960, als Huxley Gastprofessor am M.I.T. (Massachusetts Institute of Technology) war. Angekündigt war eine Reihe von sieben Vorlesungen zum Thema: »Welcher Art ist die Arbeit, die der Mensch darstellt?«, An die 2000 Leute hörten jede Vorlesung, und zwischen den Vorträgen verbrachte Aldous den größten Teil seiner Freizeit mit unserer Gruppe vom »Psychedelischen Drogenprojekt« in Harvard. Dabei führte er uns Anfänger in die Geschichte der Mystik ein und in das, was er »Uneigennützige Gnade« nannte. Letzteres betraf eine zeremonielle Rücksicht im Umgang mit den Dingen. In jenem Herbst las Huxley die Werke Hesses und sprach viel über Hermanns Einteilung in drei Ebenen menschlicher Entwicklung:

1. Der Sinn der Stämme für eine glückselige Einheit.

2. Die schrecklichen Polaritäten in den feudal-industriellen Gesellschaften; gut-böse, männlich-weiblich, christlich-islamisch usw.

3. Die offensichtliche Wiederentdeckung der Einheit des Universums, der höheren Wirklichkeit. welche sich mit Worten nicht ausdrücken lässt.

Keine Frage. Hegels drei Fingerabdrücke (These-Antithese-Synthese ) ließen sich noch immer auf dem ganzen bekannten philosophischen Gebäude finden, doch Hermann und Konsorten ließen sich davon nicht abhalten weiterzugehen, und warum sollten wir unverbildeten Harvard-Psychologen es tun? Wir alle machten uns pflichtbewusst ans Lesen von Hesses Werken.

Huxley nahm an, dass seine eigene spirituell-intellektuelle Entwicklung als Engländer ähnlich verlief wie Hesses sich in Deutschland entwickelnde Lebenslinie. Eines Nachts, bei einem Glas Wein in meinem Zimmer am Newton-Zentrum, verwob Huxley in einem Gespräch die Beweggründe in seinem Leben mit denjenigen in Hesses Leben.

Huxley fasst die literarische Philogenie zusammen

Huxley wurde 1894 geboren, sein Großvater, Thomas Huxley, war ein Evolutions-Philosoph und einer der Hauptverfechter des Darwinismus in England. In seiner idealistisch-romantischen Jugend schrieb Huxley kritische Essays und symbolische Poesie. Diese Werke drückten die übliche Unzufriedenheit der gebildeten Klasse aus, welche damit beschäftigt war, das rußverdunkelte industrielle Zeitalter zu verdrängen. Eton-Oxfords Ökologisches Interesse galt hauptsächlich der Landwirtschaft, die rußige Industrie wurde verachtet. Wordsworth hatte für jene Zeit das »Zurück zur Natur«- Thema vorgegeben. Coldridge verfolgte es weiter. Byron, Shelly, Burns, Keats und Southy, einer wie der andere, verabscheuten die teuflischen Maschinen und strebten nach etwas Blumigerem. Thomas de Quincy bekam für seine »Bekenntnisse eines Opiumessers« den Green Preis, der poetischen Kraft seines Werkes wegen. William Blake war damals der unbestrittene literarische Führer. Aldous Huxleys Verwurzelung in der Romantik zeigt sich in einem seiner eindeutigsten Zitate, in der Verwendung von Blakes Worten »Die Pforten der Wahrnehmung« als Romantitel.

Huxleys Ernüchterung zeigte sich im Alter von 25 Jahren, als er eine Reihe spröder, skeptischer Aufsätze über die europäische Dekadenz zu verfassen begann: Chrome Yellow (1921). Antic Hay (1923). Point Cunter Point (1928). Sein neoromantischer Zynismus in Bezug auf die bestehende Gesellschaft gipfelte im Roman »Schöne neue Welt«, dem Portrait einer freudlosen Fließbandgesellschaft des 25. Jahrhunderts. Er schrieb in diesem überaus erfolgreichen Roman über Glückspillen und Retorten-Kinder schon im Jahre 1932, demselben Jahr, in dem Adolf Hitler seinen ersten Kampf um die Wahl zum Kanzler gegen Hindenburg verlor, und Roosevelt seinen Wahlkampf gegen Herbert Hoover gewann.

Ende der dreißiger Jahre, nachdem Huxley seine ironisierende Seite voll entwickelt hatte. folgte er Hesse in die dritte Ebene der Transzendenz (siehe oben), was seine Auswanderung nach Kalifornien zur Folge hatte, wo er sich den Vertretern des Goldenen Zeitalters der »fernwestlichen« Philosophie anschloss, zu denen Thomas Mann, Christopher Isherwood, Alan Watts, Swami Yogananda, Gerald Heard u.a. gehörten. Hier, unter Palmen, widmete Aldous den Rest seines Lebens der transzendentalen Philosophie und der Mystik, als Denker wie als Ausübender.

Parodien des Paradieses

Sein letztes Buch, »Eiland«, stellt ein untypisches, tropisches Utopia dar, in welchem Meditation, Gestalt-Therapie und psychedelische Zeremonien eine Gesellschaft von buddhistischer Gelassenheit schaffen.

Den Nachmittag des 20. Novembers 1963 verbrachte ich am Bett des kranken Huxley, aufmerksam seiner schwachen Stimme zuhörend.

Eine literarische Fuge kreierend, sprach er über drei Bücher, drei »Parodien des Paradieses«, wie er sie nannte; sein eigenes, Eiland, Orwells 1984 und Hesses Glasperlenspiel.

Er erzählte mir mit einem sanften Lächeln, dass der »geliebte« Diktator in Orwells Alptraum-Gesellschaft Churchill nachempfunden sei. »Erinnerst du dich an Big Brothers Sprachmanipulationen, seine Rhetorik in Bezug auf den »Einsatz bis aufs Letzte«, und die Furcht, die er schürte, um jedermann die Verteidigung Eurasiens schmackhaft zu machen? An die Hass-Sitzungen? Den Angriff auf das »böse«Österreich durch den weichen Unterleib Frankreichs? Eine eindeutige Satyre.« Sowie Huxley das sagte, begriff ich: Klar, und der Name des Helden ist »Winston« Smith.

Aldous war zu jener Zeit fasziniert vom Tibetanischen Totenbuch, welches ich eben erst aus einem Viktorianischen Englisch ins Amerikanische übertragen hatte. Dieses Manuskript benutzte Laura Huxley, um ihren Gatten beim Sterben zu leiten. (Deutsch; »Psychedelische Erfahrungen« O.W. Barth Verlag 1971. Volksverlag. Linden.)

Ausgänge: Fortsetzungen

Huxley sprach mit Enttäuschung über den schlimmen Ausgang von Eiland, des Glasperlenspiels und Orwells Klassiker. Die von ihm entworfene idealistische Inselgesellschaft wird von Erdöl suchenden Industriermächten zerstört. Hesses Kastalien löst sich auf, weil es die Beziehung zum menschlichen Alltag verliert; dazu kommt die Zerstörung der Liebe in 1984. Unglückliche Ausgänge. Schüchtern fragte ich, ob er mich damit warnen oder ermahnen wolle, doch er lächelte nur, worauf ich ihm sagte, dass wir eine Fortsetzung für ihn, George und, Hermann schreiben würden, und er lächelte wieder.

Zwei Tage später starb Aldous Huxley. Sein Gehen wurde kaum beachtet, da John F. Kennedy am selben Tag ermordet wurde; es war ein schlimmer Tag für Utopisten und Futuristen.

Die onthologische Evolution von Hermann Hesse

Hermann Hesse seinerseits wurde 1877 in der schwäbischen Kleinstadt Calw als Sohn eines protestantischen Missionars geboren. Sein familiärer Hintergrund und seine Erziehung waren, wie bei Huxley, intellektuell klassisch und idealistisch geprägt.

In Basel, der schweizerischen Grenzstadt, erlernte er den Beruf eines Buchhändlers. Als Buchhändler und Herausgeber klassischer deutscher Literatur verdiente er sich dann auch seinen Lebensunterhalt und lernte dabei Jacob Burckhardt, den großen Schweizer Historiker und Philosophen kennen, welcher ihm später als Vorbild für die Figur des Vater Jacobus im Glasperlenspiel diente. 1919 zog Hesse in das Tessiner Dörfchen Montagnola am Luganersee, wo er his zum Ende seines Lebens blieb.

1923 wurde er Schweizer. Zweifellos hatte Huxley recht, wenn er das Lehen Hesses als beispielhaft für Wechsel und Metamorphose beschrieb. Akzeptieren wir die Ansicht von Theodore Ziolkowski, so folgte Hesses literarische Entwicklung derjenigen der modernen Literatur vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende üher den Expressionismus zum zeitgenössischen Sinn für die menschliche Bestimmung. Zur Erinnerung:

Hesse, eine Stimme der romantischen Realitätsferne?

Hesses erster Roman mit einigem Erfolg, »Peter Camenzind«, aus dem Jahre 1914, gab die frivole Stimmung der Iebensfrohen neunziger Jahre wieder, welche, wie die stürmischen zwanziger Jahre, der letzte Tanz einer Klassengesellschaft waren, die kurz vor dem Untergang stand.

Hesse, ein desillusionierter Bohemien?

Nach Ziolkowski wechselte Hesse vom Ästhetizismus zu einem melancholischen Realismus. »Hesses Romane werden zu Warnungen eines Außenseiters, welcher uns dazu drängt, überkommene Werte in Frage zu stellen, gegen das System zu rebelIieren und die »Realität« im Lichte höherer Ideale zu betrachten.«

Er unternahm 1911 die obligatorische Pilgerreise nach Indien und infiszierte sich am Ganges mit dem Virus, der später den ausgewachsenen Mystizismus eines Allan Ginsburg verursachen sollte.

Hesse, ein Kriegsdienstverweigerer?

1914 wand sich Europa im Fieber des Nationalismus und Militarismus. Hesse wurde, wie Dr. William Spock auf einer anderen Raum-Zeitkoordinate, ein ausgesprochener Pazifist und Kriegsdienstverweigerer. Zwei Monate nach dem Ausbruch des Krieges publizierte die Neue Zürcher Zeitung seinen Essay »Oh Freunde, nicht diese Töne«. Es war ein Aufruf an die Jugend Deutschlands, in dem sich seine Betroffenheit ob der stattfindenden Stampede auf den offenen Abgrund zu äußerte. Die Anklage brachte ihm eine offizielle Zensur und Angriffe anderer Zeitungen ein. Hesse war offensichtlich gegen den verheerenden Einfluss von Patriotismus, Nationalismus und Autoritätsgläubigkeit gefeit.

Hesse, ein Urbeatnik?

1922 schrieb Hesse den »Siddharta«, die Geschichte einer Kerouac-Snyder Existenz, die auf dem Wege nach Benares gelebt, befreite Feste einer lebensfrohen, Liebe und Sex auskostenden Männlichkeit feiert.

In einem Interview mit dem Playboy Magazin fasst der islamische Yoga-Meister Karem Abdul-Jahbar mit einer bemerkenswerten Klarheit die Ebenen seiner Lebenserfahrung zusammen. Er hat offensichtlich Hesse studiert und benutzt die Fugen-Technik des Glasperlenspiels um die verschiedenen Aspekte seiner Biografie: Basketball, Rassismus, Religion, Drogen, Sex, Jazz und Politik in Einklang zu bringen. ».. .In meinem letzten Highschool-Jahr«, sagte Ahdul~ Jahbar, »begann ich alles zu lesen, was mir in die Finger kam - Hindutexte, die Upanischaden, Zen-Texte, Hermann Hesse....«

Playboy: »Was beeinflusste Sie am meisten?«

Abdul-Jabhar: ´»Hesses Siddharta. Ich machte während jener Zeit all das durch, was Siddharta als Jugendlicher durchmachte. und ich identifizierte mich mit seiner Auflehnung gegen die traditionellen Auffassungen von Liebe und Leben. Siddharta wird Ästhet, ein reicher Mann, ein feinfühliger Mann - er erforscht all diese verschiedenen Welten und kann dabei keine Erleuchtung finden. Das war für mich die Botschaft des Buches, und so begann ich mein eigenes Wertesystem für das, was gut und schlecht ist, zu entwickeln.«

Hesse, ein Urhippy?

Siddharta blieb nicht Hesses einziger Held, der sein eigenes Wertesystem entwickelte. Der Protagonist in Hesses nächstem Buch brachte die Selbstverwirklichung zu Vollendung: Steppenwolf, 1927 erschienen, wird von Ziolkowski als eine »psychedelische Orgie aus Sex, Drogen und Jazz« beschrieben. Andere Experten. einer eher historischen Sicht verpflichtet, sehen den (Steppenwolf als eine abschließende Parodie auf die »erhabenen« Gegensätze des industriellen Zeitalters. Hesse stellt die Freud'schen Konflikte, Nietzsches Pein, die Jung'schen Polaritäten und Hegels Denkmaschine mit viel Humor in Frage.

Harry Haller betritt das Magische Theater, als Eintritt muss er den Verstand abgeben. Als erstes beteiligt er sich in diesem Theater an einem Autorennen, was ein ziemlich unfeiner Bezug auf die geheiligten Symbole des Industriezeitalters ist. Hinter einer Türe. auf der »Führung durch den Aufbau der Persönlichkeit« steht und: »Erfolg garantiert«, lernt Harry Haller ein nachfreud'sches Videospiel zu spielen, in welchem die Pixel Teile der Persönlichkeit sind. »Wir können zeigen, dass jedermann, dessen Seele in ihre Teile zerfallen ist, diese auf jede beliebige Art wieder zusammensetzen kann. So erlangt er die Möglichkeit für eine unendliche Anzahl von Zügen im Spiel des Lebens.«

Dieser letzte Satz drückt präzise aus, was die Grundlage der New-Age-Botschaft von der Selbstverwirklichung war, und bei all den darin beschriebenen 38 000 Methoden geht es immer nur um dieses Eine: Du lernst die Elemente deines Selbst in der dir entsprechenden Weise neu zusammenzusetzen. Danach drückst du die Eingabetaste, um weiterzugehen.

Die Midlife-Krise des Steppenwolfs, seine überhitzten Konflikte nach der Art Salingers, seine Woody Allen'sche Verzweiflung, sein unbefriedigtes Verlangen, wie es bei Norman Mailer vorkommt, all dies löst sich in einem wirbelnden Kaleidoskop von schnell aufleuchtenden Neuro-Realitäten auf. »Ich wusste immer«, keucht Harry Haller, »dass ich alle hundert Teile des Lebensspiels in meiner Tasche habe.... eines Tages werde ich sie zu einem besseren Spiel zusammenmischen.«

Das Glasperlenspiel wandelt Gedanken in Strukturen um

Was tust du, nachdem du die schweren, soliden, felsbrockenhaften Gedanken deiner mechanischen Realität in ihre Elemente zerlegt hast? Bist du ein Student der Physik oder Chemie, so ordnest du die Teile in neuen Kombinationen an. Synthetische Chemie des Geistes. Solve et coagule. Arrangiere die Elemente, und du wirst ein Meister des Glasperlenspiels. Ich lasse den Zufallsgenerator mein Gedankenspiel mischen und gebe die Karten neu aus!

So wie es Hesse schilderte, lernten die Spieler des Glasperlenspiels Dezimalzahlen, Musiknoten, Worte, Gedanken oder Bilder in Elemente umzuwandeln, welche in endlosen Abakus-Kombinationen und rhythmischen Fugen-Sequenzen zusammengefasst werden konnten. So war man in der Lage, eine Meta-Sprache voller Klarheit, Reinheit und von höchster Komplexität zu schöpfen. Es entstand so eine globale Sprache, die sich auf Digitaleinheiten aufbaut. Das Spiel wird auch beschrieben als »... ein Aneinanderreihen, Ordnen, Gruppieren und Gegeneinanderstellen von konzentrierten Vorstellungen aus vielen Gebieten des Denkens und der Künste.«

Mit der Zeit, so schrieb Hesse, »... entwickelte sich das Spiel zu einer Art universeller Sprache, mit welcher die Spieler verschiedene Werte ausdrücken und miteinander verbinden konnten.«

Die Entwicklung des Computers

Am Anfang war das Spiel von einer Gruppe von Mathematikern entworfen, konstruiert und fortwährend den neuesten Erkenntnissen angepasst worden. Sie wurde Kastalia genannt. Spätere Generationen von »Hackern« benutzten das Spiel aus erzieherischen, intellektuellen und ästhetischen Gründen. Irgendwann wurde das Spiel zu einer globalen Geisteswissenschaft, zu einer unentbehrlichen Methode, die Gedanken zu ordnen und sie genau zu übermitteln.

Hesse war natürlich nicht der Erste, der eine digitale Gedankenverarbeitung vorschlug. Etwa 600 vor Christus spekulierten der Grieche Pythagoras (mit seiner Sphärenmusik) und der Chinese Lao Tse (Tao, Yin-Yang) dahingehend, dass die Wirklichkeit und das Wissen mit einem Spiel aus Binärzahlen ausgedrückt werden konnten und sollten. 1832 entwickelte ein junger Engländer, George Boole, eine Algebra der symbolischen Logik. Im folgenden Jahrzehnt arbeiteten Charles Babbage und die Gräfin Lovelace an einer analytischen Denkmaschine. Ein Jahrhundert später, gleichzeitig mit Hesses Entwurf des Glasperlenspiels, beschrieb der brillante englische Logiker Alan Turing Maschinen, die menschliches Denken simulieren können: AI - Artificial Intelligence - künstliche Intelligenz.

Hesses einzigartiger Beitrag war jedoch weniger technischer als sozialer Art. 45 Jahre vor Toffler (The third wave) und Naisbitt (Megatrends) sah Hesse das Erscheinen eines Informationszeitalters voraus. Im »Glasperlenspiel« stellt Hermann Hesse eine Soziologie des Computers vor. Mit der reichen Sprache des Dichters beschreibt er das Entstehen einer utopischen Subkultur aus dem Gebrauch digitaler Gedächtnisunterstützung.

Hesse verwendet dabei ein wichtiges Instrument, die Parodie, um die sich aufdrängende Frage zu stellen: Was geschieht mit einer Gesellschaft, die sich in Computerbeherrscher und Computer-Analphabeten teilt, in eine Elite der Elektronik und in Blaumann tragende Proletarier mit ihren mechanischen Olivettis? Was sind die Gefahren einer in Informations-Reiche und Informations-Habenichtse geteilten Gesellschaft?

Hesses Glorifizierung der Kastalischen Hackerkultur

»Das Glasperlenspiel« ist die Geschichte von Josef Knecht, dem wir als hervorragendem Gymnasiasten begegnen, welcher in die Kastalische Bruderschaft aufgenommen und in die Feinheiten des Gedankenverarbeitungssystems eingeweiht wird.

Die Beschreibung von Kastalien ist von bezaubernder Ausführlichkeit. Der Leser fühlt sich von der sublimen Schönheit des Ordens und der mönchischen Hingabe der Adepten angezogen. Zu Beginn des Buches wird erklärt. »Dieses Spiel der Spiele... entwickelte sich zu einer Art Universalsprache, durch welche die Spieler in sinnvollen Zeichen Werte auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen befähigt waren. Ein Spiel konnte zum Beispiel ausgehen von einer gegebenen astronomischen Konfiguration, oder vom Thema einer Bachfuge oder von einem Satz des Leibniz oder der Upanischaden, und der Spieler konnte von diesem Thema aus, je nach seiner Absicht und Begabung die wachgerufene Leitidee entweder weiterführen und ausbauen oder auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen in ihrem Ausdruck bereichern. War der Anfänger etwa fähig, durch die Spielzeichen Parallelen zwischen einer klassischen Musik und der Formel eines Naturgesetzes herzustellen, so führte beim Könner und Meister das Spiel vom Anfangsthema frei bis in unbegrenzte Kombinationen.«

Mit diesem letzten Satz beschreibt Hesse die Theorie des Programmierens. Die Meister unter den Programmierern können jegliche Ideen, jeden Gedanken in den binären Zahlencode übersetzen, der es erlaubt, diese Informationen mit höchster Geschwindigkeit in jeder Art und Weise zu kombinieren. Darin entdecken wir wieder den seit jeher bestehenden Traum der Philosophen, Visionäre und Linguisten von der »Universitas«, von einer Synthese allen Wissens, vom absoluten Gedächtnis, von einer alles umfassenden mathematischen Genauigkeit.

Als Dichter wusste Hesse, dass eine Sprache, welche auf mathematische Elemente aufbaut, nicht unbedingt kalt, unpersönlich oder mechanisch sein muss. Das Glasperlenspiel lesend erleben wir eine Begeisterung, wie sie etwa heutige Video-Künstler beim Entwerfen ihrer komplizierten Programme trägt. Diese wissen, dass das Malen, Komponieren, Schreiben, Entwerfen, kurz, das Arbeiten mit Strukturen aus elektronischen »Perlen« einem mehr Freiheit gibt als ein übliches Druckverfahren oder das Malen auf Leinwand, das Spielen auf mechanischen Instrumenten.

Hesses goldenes Zeitalter des Bewusstseins

Nach Hesse erlebte die Chemie ihr Goldenes Zeitalter als die Wissenschaftler lernten, Substanzen in ihre Moleküle aufzutrennen und wieder zu neuen Stoffen zusammenzusetzen. Nur durch exaktes Vorgehen beim Spiel mit den reagierenden Elementen waren die Chemiker in der Lage, die »Murmeln« zu konstruieren, welche unsere Welt so stark verändern sollten.

Im Goldenen Zeitalter der Physik, sowohl der theoretischen als auch der experimentellen. lernten die Physiker Atome zu spalten und die erhaltenen Teile in unendlich vielen neuen elementaren Strukturen anzuordnen.

Mit dem Glasperlenspiel zeichnete Hesse ein Goldenes Zeitalter des Bewusstseins, in dem die Strukturprogrammierer von Kastalien, ähnlich den Chemikern und Physikern, Gedanken-Moleküle in Elemente (Perlen) zerlegten und diese zu neuen Mustern verwoben, die »singen wie zusammen schwingende Kristalle«.

Technologie erfindet Ideologie

Wie vieles andere nahm Hesse auch Mc Luhans Erstes Gesetz der Kommunikation voraus, welches lautet: Das Medium ist die Botschaft! Mit anderen Worten, die Werkzeuge. die wir benutzen, um unsere Gedanken zu verpacken, speichern oder zu vermitteln, definieren die Grenzen unseres Denkens. Die Kraft der Technologie verstehend erzählt er uns, dass die neue Bewusstseins-Kultur aus einer fast primitiven Denkhilfe entstand, einem kleinen Abakus, einem Holzrahmen, auf den ein paar Dutzend Drähte aufgespannt waren, auf welche Glasperlen verschiedener Größe, Form und Farbe aufgezogen werden konnten. Aber lassen wir uns von der spielzeughaften Einfachheit dieses Werkzeugs nicht täuschen, es ist in Wirklichkeit sehr brauchbar. Hat man einmal die Gedankenelemente mit Hilfe mathematischer Gleichungen festgelegt. so hat man die Möglichkeiten der Intelligenz eines Kulturkreises erweitert.

Die Evolution des Spiels

Der Glasperlen-Abakus wurde zuerst von Musikern verwendet, da seine Drähte den Notenlinien entsprachen und die Glasperlen den Notenwerten.

»Kaum zwei, drei Jahrzehnte später scheint das Spiel unter den Musikstudenten an Beliebtheit eingebüsst zu haben, dafür aber von den Mathematikern übernommen worden zu sein, und lange Zeit blieb das ein kennzeichnender Zug in der Geschichte des Spiels, dass es stets von derjenigen Wissenschaft bevorzugt und benutzt und weitergebildet wurde, welche jeweils eine besondere Blüte oder Renaissance erlebte.

...Das Spiel wurde von beinahe allen Wissenschaften zeitweise übernommen und nachgeahmt... Die analytische Betrachtung der Musikwerte hatte dazu geführt, dass man musikalische Abläufe in physikalisch-mathematische Formeln einfing. Wenig später begann die Philologie mit dieser Methode zu arbeiten und sprachliche Gebilde nach der Weise auszumessen, wie die Physik Naturvorgänge maß. Es schloss die Untersuchung der bildenden Künste sich an... Jede Wissenschaft, die sich des Spiels bemächtigte, schuf sich zu diesem Zweck eine Sprache von Formeln, Abbreviaturen und Kombinationsmöglichkeiten ...«

»... Es würde zu weit führen, wenn wir des näheren schildern wollten, in welcher Weise der Geist sich nach seiner Reinigung auch im Staate durchsetzte... und so wurde die Pflege des Geistes in Staat und Volk von den Geistigen mehr und mehr monopolisiert, namentlich das ganze Schulwesen...«

Die Ankündigung der künstlichen Intelligenz?

»Bei den Mathematikern wurde das Spiel zu einer hohen Beweglichkeit und Sublimierungsfähigkeit gebracht und gewann schon etwas wie ein »Bewusstsein seiner seIbst und seiner Möglichkeiten«.«

Mit diesem letzten Satz nimmt Hesse den Alptraum 2001 über eine neurotische künstliche Intelligenz, geschrieben von Arthur C. Clarke und verfilmt von Stanley Kubrick, voraus: »Öffne die Schotten, HaI.«»Tut mir leid, Hermann, diese Mission ist zu wichtig, um durch menschlichen Irrtum zu scheitern.«

Ein Kult ausgedropter Hacker?

Hesse schilderte, wie in den ersten Generationen von Computer-Adepten eine »Hacker-Kultur« entstand, eine Elite von »Spitzenprogrammierern«, die vollständig in den Konstruktionen ihres Denkens lebten, ohne sich um die Außenwelt zu kümmern.

Die Kultur der künstlichen Intelligenz

Weiter beschrieb er das Auftauchen eines Phänomens, welches gerade heute der Trend in der Informatik ist: Den Kult um die künstliche Intelligenz. 1984 wurden in Japan, den USA und Europa Milliarden in so genannte Projekte der fünften Generation investiert, die der Entwicklung von Programmen für künstliche Intelligenz dienen. Alle diese Nationen leiden schon heute unter einem ernstzunehmenden Intelligenz-Defizit. So ist das Ziel, welches mit diesen Projekten angesteuert wird, die Entwicklung von Maschinen, die denken und Rückschlüsse ziehen können und deren Entscheide zuverlässiger sind als die des Menschen.

Die immensen Investitionen werden von großen Verwaltungen getätigt: Regierungen, Industrien, dem Militär, Banken, Versicherungen, Ölfirmen usw. Künstliche Intelligenz sollte folgende Aufgaben lösen können:

a) Entscheidungen aufgrund unzähliger Daten fällen. Dabei übernimmt der Computer mit Lichtgeschwindigkeit die Arbeit von Tausenden von Angestellten und Technikern.

b) Mit Hilfe von Stimmerkennungsprogrammen auf die gesprochene Sprache reagieren.

c) Als Roboter menschliche Arbeit verrichten.

Sie ist unter den Investoren in der Computerindustrie das Zauberwort; es scheint nur noch wenig zu fehlen, und die Roboter werden eine immer wichtigere Rolle in den westlichen Zivilisationen spielen.

Genauso wie das Glasperlenspiel zum Ziel der Kritik Außenstehender wurde, so entsteht heute ein Murren des Widerstands unter unzufriedenen Liberalen und Humanisten gegen die künstliche Intelligenz. Einige unter ihnen weisen darauf hin, dass der Ausdruck »Künstliche Intelligenz« schon ein Widerspruch in sich sei, ähnlich dem Ausdruck »military intelligence«. Andere Kritiker meinen, dass künstliche Intelligenz wenig mit der individuellen menschlichen Intelligenz zu tun habe. Diese Multimillion-Dollar-Maschinen können nicht zur Lösung persönlicher Probleme gebraucht werden. Sie verhelfen Hans nicht zu einem Rendez-vous mit seiner Angebeteten am Freitagabend, sie bringen Sylvia das fehlende Selbstvertrauen nicht bei. Die Systeme künstlicher Intelligenz sind dafür gebaut, wie Superexpertenkonferenzen zu denken, unfehlbar den Weg des geringsten wirtschaftlichen Verlustes suchend. Unweigerlich kommt einem dabei in den Sinn, dass es Ford damals billiger zu stehen kam, ein paar Schadenersatzprozesse zu verlieren, als den Ford Pinto so zu konstruieren, dass sein Benzintank nicht mehr explodieren konnte.

Weiter steigen in einem die Meldungen hoch, in denen hohe Militärs von einem »tolerierbaren Verlust an Menschenleben im Falle eines Atomwaffenkrieges« sprechen. Genau diesen Wahnsinn empfinden viele, wenn sie sagen, dass diese Spielzeuge des Top-Managements eher künstlich als intelligent seien.

Es kann sich herausstellen, dass unsere HAL-Paranoia übertrieben ist. Computer werden keine wirklichen Menschen ersetzen, sie ersetzen höchstens mittelmäßige Bürokraten, ersetzen uns nur so weit, als wir künstliche (statt natürliche) Intelligenz in unserem Leben und in unserer Arbeit einsetzen. Sie werden nur soweit für uns denken, wie wir es schon heute unseren Bürokraten erlauben für uns zu denken. Falls wir denken wie Funktionäre, wie Manager oder Angestellte, die ausführen, ohne Fragen zu stellen oder wie ein Schachspieler, der mechanisch spielt, dann könnte es uns allerdings geschehen, dass wir bald nichts mehr zu denken haben.

Natürliche Intelligenz

Die Humanisten unserer Zeit behaupten, es gäbe nur eine Form der Intelligenz, die natürliche Intelligenz: Die Kraft des Gehirns, welche im Schädel jedes einzelnen ihren Sitz hat. Dieses »Eingemachte« ist genetisch verdrahtet und mit Erfahrungen programmiert, welche es erlauben, mit den Angelegenheiten einer (!) Person, nämlich des Besitzers, umzugehen und Erfahrungen mit andern auszutauschen.

Alle Gedanken verarbeitenden Werkzeuge, vom Bleistift über Schreibmaschinen, Bücher bis zum Computer, können als Erweiterungen der natürlichen Intelligenz angesehen und auch so benutzt werden. Sie sind Hilfen für das Verpacken, Speichern und Vermitteln von Ideen; sind Spiegel, die widerspiegeln, was der Benutzer dachte.

Douglas Hofstädter sieht es in seinem Buch: »Gödel, Escher, Bach« so: »Das Selbst wird in dem Augenblick geboren, wo es die Kraft bekommt, sich selbst zu reflektieren.« Und diese Kraft ist, in Hesses Sinn, bestimmt durch das Denkwerkzeug, welches eine Kultur anwendet.

Einzelne Menschen können von Denkmaschinen (ob Computer oder Glasperlenspiel) nur soweit kontrolliert und verwaltet werden, als sie sich dazu hergeben, ihr eigenes Denken einzuschränken.

Der das sagt, ist Hermann Hesse.

Der Magister Ludi beginnt die Autorität in Frage zu stellen

Im Laufe seines Lebens steigt der Held des »Glasperlenspiels«, Josef Knecht, zur höchsten Stellung des Kastalischen Ordens auf. Er wird Magister Ludi, Leiter des Glasperlenspiels. Das Spiel ist zu dieser Zeit bereits eine globale künstliche Intelligenz geworden, mit der die Erziehung, das Militär, die Wissenschaften und überhaupt alle Lebensbereiche geleitet werden. Die großen kulturellen Zeremonien bestehen aus öffentlichen Denkspielen, die von der Elite mit Faszination verfolgt werden.

Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn wird der Magister Ludi von Zweifeln geplagt. Er macht sich Sorgen über die zweigeteilte Gesellschaft, in welcher die kastalische Programmierer-Elite ihre Gedankenspiele weit entfernt von der Realität des Alltags durchspielt. Wir erinnern uns, die Kastalier haben ihr Leben voll und ganz dem Geistesleben gewidmet. Sie weigern sich, Macht auszuüben, Geld zu besitzen, eine Familie zu gründen oder dem Individualismus zu huldigen. Ein Kastalier ist ein perfekt organisierter Mann, ein Mönch der neuen Religion von der künstlichen Intelligenz. Knecht beginnt nun am absoluten Gehorsam, am Verlust des individuellen Entscheidens zu zweifeln, und am Ende findet er die einzige Antwort eines Individuums, welches nicht akzeptiert, dass eine künstliche Intelligenz von ihm Verzicht auf Selbstverwirklichung verlangen kann.

»Handeln, wie es Herz und Verstand verlangen«

Der Roman endet damit, dass Josef Knecht seine Stellung als Hohepriester der Künstlichen Intelligenz aufgibt und sich einem neuen Leben als Individuum in der »realen« Welt zuwendet. Er erklärt sein Handeln, sein »Erwachen« in einem Brief an den Orden. Nach 30 Jahren in der »obersten Liga der Gedankenverarbeitung« ist Knecht zum Schluss gekommen, dass sich Organisationen dadurch am Leben erhalten, dass sie Gehorsam mit Privilegien belohnen!

Langsam hat sich der Schleier gehoben und Knecht sieht, dass die kastalische Gemeinschaft von den charakteristischen Krankheiten der Eliten befallen ist: Eitelkeit, Überbeblichkeit, Selbstherrlichkeit, Ausbeutung... Und er erkennt, dass, wie um die Ironie auf die Spitze zu treiben, diese Gedanken verarbeitende Bürokratie ihre eigene Stellung in der Struktur des Staates, ihren Platz in Welt und Geschichte gar nicht mehr erkennt.

Wir sollten uns dabei daran erinnern, dass Hesse sein Buch zu der Zeit schrieb, als Hitler, Mussolini und Stalin Europa mit ihren Diktaturen terrorisierten. Die ehemals populäre athenisch-demokratische Maxime: Stehe zu dir,' stelle die Autorität in Frage! war hoffnungslos aus der Mode gekommen, selbst in zivilisierten Ländern, wie die Schweiz eines ist.

Rücksichtnahme auf die Schwere der Zeit war, wie ich annehme, der Grund, warum Hesse, der Meister der Parodie, seine ängstlichen Leser so langsam und förmlich auf die abschließende Konfrontation zwischen Alexander, dem Präsidenten des Ordens und dem dissidenten Spielmeister zuführt.

Vorsichtig und voller Zuneigung erklärt Knecht dem Präsidenten, dass er keinen »Beschluss von Oben« akzeptieren werde. Alexander staunt ungläubig, so wie gegenüber einem solchen Aussteiger jeder Angehörige der Gedankenverarbeitenden Elite Europas staunen würde, sei er nun Professor, Intellektueller, Linguist, Literaturkritiker oder Herausgeber von einem Magazin, wie diesem, in dem Sie gerade lesen. »... nicht geneigt gehorsam... einen unabänderlichen Beschluss von Oben zu akzeptieren - hab ich dich richtig verstanden, Magister?«!

Später wagt der sichtlich verwirrte Alexander eine Frage zu stellen, die noch keiner in der Organisation gestellt hat: »Wenn du nicht handelst, wie es dir die oberste Verwaltung befiehlt, wie handelst du dann?« »Wie es mein Herz und Verstand befehlen«, antwortet ihm Josef Knecht.

Aus dem Amerikanischen von Heinz Martin. Puzzles aus José Argüelles »Earth Ascending«. Erschienen 1982 im SPHINX-Magazin.


*Timothy Leary, amerikanischer Psychologe und Autor, 1920 bis 1996

Nachfolgender Beitrag aus Wikipedia:

Leary wurde in den 1960er und 70er Jahren dafür berühmt, dass er den freien und allgemeinen Zugang zu bewusstseinsverändernden Drogen (z.B. Meskalin, Psilocybin und LSD) propagierte. In diesem Zusammenhang erfand er den PR-Slogan Turn on, Tune in, Drop out (im Übertragenen Sinne: "Mach dich an [z.B. durch Drogen], stell dich um [richte dein Leben neu aus], spring ab [von den Fesseln der Gesellschaft]").

Damit hatte er einen anderen Ansatz als Aldous Huxley, der schon 1953 mit Meskalin experimentierte und seine Erfahrungen in dem einflussreichen Text Die Pforten der Wahrnehmung veröffentlichte. Huxley befürwortete den experimentellen Einsatz von Meskalin ausschließlich für einen kleinen Kreis Intellektueller, Künstler und religiöser Menschen, nicht für die Allgemeinheit.

Eine weitere von Leary abweichende therapeutische Anwendung von LSD, in geschütztem Umfeld und mit medizinischer Begleitung, beschreibt Stanislav Grof (Psycholyse).

Timothy Leary sah psychedelische Drogen als Mittel zur Neu-Programmierung des Gehirns, d.h. (in seiner Terminologie) der Aufhebung vorhandener Prägungen und der gleichzeitigen Öffnung für neue Prägungen. Leary betonte den Einfluss von SET (innere Einstellung des Konsumenten zum Zeitpunkt des Rausches), SETTING (Umgebung und Umfeld bei der Sitzung) und DOSIS, auf den Wirkungsverlauf halluzinogener Drogen. Nach Leary kann durch günstiges Set und Setting das Entstehen von Psychosen durch Psychedelika verhindert werden. Leary hat also niemals einen unkontrollierten Drogenkonsum gutgeheißen (auch wenn er so missverstanden wurde), welcher schnell fatale Folgen zeigen kann (Psychosen, Selbstmorde). Vielmehr verlangte er einen verantwortungsvollen Umgang mit Drogen und befürwortete Experimente unter professioneller Führung. Ferner gab er angehenden Psychonauten folgenden Rat:

"Acid is not for every brain - only the healthy, happy, wholesome, handsome, hopeful, humorous, high-velocity should seek these experiences. This elitism is totally self-determined. Unless you are self-confident, self-directed, self-selected, please abstain."
(Deutsch: "LSD ist nicht für jedes Gehirn etwas - nur die Gesunden, Glücklichen, Schönen, Hoffnungsvollen, Humorvollen und Agilen sollten nach einer solchen Erfahrung suchen. Dieser Elitismus ist gänzlich selbstbestimmt. Wenn du nicht selbst-bewusst, selbst-gesteuert, selbst-bestimmt bist, lass es bitte.")

Leary formulierte in diesem Zusammenhang die Zwei Gebote für das Molekulare Zeitalter:
1 Thou shalt not alter the consciousness of thy fellow men. (Deutsch: Du sollst das Bewusstsein deines Nächsten nicht verändern.)
2 Thou shalt not prevent thy fellow man from altering his or her own consciousness. (Deutsch: Du sollst deinen Nächsten nicht daran hindern, sein oder ihr Bewusstsein zu verändern.)

Diese Sätze sind aber durchaus nicht nur in Bezug auf den Gebrauch von Drogen zu verstehen, sie beziehen sich auch auf die Manipulation durch Massenmedien, Politiker und Gruppenzwang.