Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

9. Die Sphäre der Materie

Nicht nur biblische Mythen wie jener vom Tanz um das goldene Kalb, oder literarische Figuren wie Goethes Zauberlehrling, können ein sehr erhellendes Licht auf die Hintergründe der Finanzkrise werfen, sondern auch Volksmärchen wie jenes vom Hans im Glück. In der Fassung der Gebrüder Grimm liest sich das in der Kurzzusammenfassung von Wikipedia so:

Hans tauschte den Lohn für sieben Jahre Arbeit, einen kopfgroßen Klumpen Gold, gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, die Gans gegen einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein - und glaubte jedes Mal, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, weil das neue Gut ihm weniger Schwierigkeiten zu machen scheint als das weggegebene. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen. »So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne«. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war. Er war glücklich, die Steine losgeworden zu sein.

Hier finden wir das Gegenstück zum raffgierigen Investmentbanker oder Anleger. Während der Gierige von einer positiven Korrelation zwischen Geld und Glück ausgeht (je mehr vom einen, desto mehr vom anderen), ist für Hans im Glück eine negative Korrelation gegeben: Je weniger Geld, desto mehr Glück. Vor allem das Glück, frei von überflüssigem Ballast zu sein.

Nur: Ganz frei von materiellen Bedürfnissen ist auch unser besitzloser Hans im Glück nicht. Auf der Heimreise von seinem Arbeitgeber zu seiner Mutter leidet er mehrfach unter Hunger und Durst. Ein „material girl“, wie es von Madonna einst besungen wurde, bleibt eben ein materielles Wesen mit materiellen Bedürfnissen, selbst wenn es jedem Besitzstreben abschwört. Ganz ohne Kohle geht die Chose auch für die glühendsten Anhänger immaterieller und größten Verächter materieller Werte nun mal nicht.

Das Märchen erinnert uns daran, dass weniger tatsächlich manchmal mehr sein kann, würde jedoch überstrapaziert, wenn man daraus folgerte, weniger müsse immer mehr sein. Zwischen maßloser Überbetonung der materiellen Sphäre wie beim Tanz um das goldene Kalb, und völliger Verleugnung des Werts materieller Werte wie bei Hans im Glück muss es einen goldenen Mittelweg geben.

Der würde dann ungefähr besagen, dass ein gewisses Mindestmaß an Geld und damit an Verfügbarkeit von Produkten und Dienstleistungen sowie an Zugang zur Welt für die Lebensqualität von fast allen Menschen unabdingbar ist. Und er würde beinhalten, dass ab diesem Mindestmaß eine Zunahme an verfügbarem Geld keineswegs automatisch einen nachhaltigen Zuwachs an Lebensqualität bedeutet. Lottogewinner verjubeln ihren Gewinn oft sehr schnell, und wenn nicht, so sind sie spätestens nach zwei Jahren auch nicht glücklicher oder zufriedener als vor dem großen Ereignis.

Die große Preisfrage (im Wortsinne) ist natürlich, wo die Grenze liegt, bis zu der es sich lohnt, in die Lebensqualitäts-Sphäre der materiellen Werte zu investieren. Um ein Investment handelt es sich dabei zweifellos, denn um an materielle Werte zu kommen, müssen wir Zeit und Energie investieren. Und meistens auch ein Stück unserer Freiheit verkaufen. Hans im Glück verzichtet am Schluss des Märchens auf dieses Investment und hüpft leichten Herzens und frei von aller Last davon.

Er folgt dabei einem klaren Werte-System: Freiheit ist wertvoller als Geld und Gut! Das mag ihn ehren, taugt aber in seiner Radikalität wohl kaum zum Vorbild für uns Realgeschöpfe. Zum Glück stehen wir aber auch nicht vor der radikalen Entscheidungsalternative Freiheit oder Geld. Wir haben es nur mit der allerdings kaum weniger anspruchsvollen Herausforderung zu tun, materielle und immaterielle Werte einigermaßen ins Gleichgewicht zu bringen.

Wo der Punkt dieser Balance liegt, hängt einerseits von Ökonomie und Kultur der Gesellschaft ab, in der wir leben, andererseits aber auch von unseren höchst persönlichen Vorlieben und Überzeugungen. Bis zu welchem Punkt es sich lohnt, in einen vermehrten Geldzufluss zu investieren, kann also jede und jeder nur für sich selbst beantworten.

Dabei hilft wie so oft die Vorstellung vom Lebensqualitäts-Konto. Da wir ja mit Phantasie begabte Wesen sind, können wir uns durchaus vorstellen, welcher Zuwachs auf dem Lebensqualitäts-Konto durch einen Zuwachs auf dem Bankkonto verursacht würde, wobei uns die Geschichte mit den Lotto-Gewinnern daran mahnt, diese Frage unter einer nachhaltigen Perspektive zu betrachten und kurzfristige Zuwächse auf dem Lebensqualitäts-Konto zu vernachlässigen.

Auf der anderen Seite der Bilanz haben wir zu bedenken, was vermehrte Investitionen in materielle Werte, etwa durch Mehrarbeit, in anderen Lebensqualitäts-Sphären an Verlusten verursachen könnten. Zum Beispiel könnte unser Lebensqualitäts-Konto sinken, weil wir dadurch an Freiheit verlieren. Oder soziale Kontakte vernachlässigen müssen. Oder durch Stress krank werden. Und so könnte es denn durchaus sein, dass wir bilanzieren müssen, mehr Investitionen in die materielle Sphäre würden sich nicht lohnen, weil unter dem Strich bei unserer generellen Lebensqualität rote Zahlen resultieren.

Sollten Sie allerdings ein teures Hobby haben, das Sie richtig glücklich macht, könnte diese Bilanz wieder anders aussehen. Weil nämlich Ihre Lebensqualität in den Keller rutschen würde, wenn Sie auf die Ausübung dieses Hobbys verzichten müssten, kann es unter dem Strich besser aussehen, wenn Sie zwar durch Mehrarbeit in gewissen Teilaspekten an Lebensqualität verlieren. Doch damit Ihr Hobby retten.

Wer in unseren reichen Breitengraden jegliche Bedeutung von materiellen Werten leugnet und deshalb als Asket im Wald lebt, macht sich unweigerlich zum Außenseiter. Doch wie viel Wert Sie darauf legen, Einkommen und Besitz zu sichern und zu vermehren, wie viel Sie also in die materielle Lebensqualitäts-Sphäre investieren, hängt jenseits gewisser minimaler Standards ganz allein von Ihnen ab. Ein gewisser Lebensstandard ist für alle Menschen ein wichtiges Element von Lebensqualität. Wie zentral die materielle Lebensqualitäts-Sphäre ist, und wie viel Platz sie für die anderen Sphären übrig lässt, dürfen Sie entscheiden. Ganz allein. Oder zusammen mit Ihren Liebsten...

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Investitions-Niveau

Ein bisschen habe ich in der nebenstehenden Spalte geschummelt. Wo wir die Grenze ziehen wollen, ab der es keinen Sinn mehr macht, mehr in die materielle Lebensqualitäts-Sphäre zu investieren, weil sich das im Hinblick auf unser generelles Lebensqualitäts-Konto nicht lohnt, hängt nicht nur von unserer freien Entscheidung ab. Es scheint dabei auch so etwas wie Schicksal oder Bestimmung zu geben.

In meinem persönlichen Grenzfindungsprozess habe ich jedenfalls nicht immer nur kühl kalkuliert, was auch gar nicht geht, können wir doch die künftigen Gewinne und Verluste auf unserem Lebensqualitäts-Konto, die durch bestimmte Entscheidungen zu erwarten sind, immer nur schätzen, nie aber wirklich wissen. Also blieb auch mir nichts anderes übrig, als den Weg von Versuch und Irrtum zu gehen.

Das hieß, dass ich mal mehr, mal weniger in meinen Lebensstandard investierte, um zu schauen, was dabei heraus kam. Ergebnis: Es spielte eigentlich keine Rolle. Auch wenn ich mehr investierte, um an mehr Kohle zu kommen, hat das selten was gebracht. Also konnte ich es ebenso gut lassen und den Gedanken akzeptieren, dass es mir vorbestimmt ist, auf einem bestimmten, eher bescheidenen Lebensstandard zu verbleiben.

Was keineswegs Fatalismus bedeutet, nach dem biblischen Motto „Sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch nährt sie Gott als seine Geschöpfe“. Von selbst sind auch die bescheidenen Mittel, die ich benötige, nicht auf mein Konto geflossen, ich musste dafür schon auch immer meinen Teil leisten.

Ich will mich über diese Bestimmung keineswegs beklagen. Schließlich hat sie mich davor bewahrt, in der Finanzkrise Geld zu verlieren – wer keines hat, geht seiner auch nicht verlustig. Vor allem aber hat mir die gelernte Lektion, nicht mehr in die materielle Lebensqualitäts-Sphäre zu investieren, als unbedingt nötig, ermöglicht, mich ausgiebiger jenen Sphären widmen zu können, die mir für meine Lebensqualität wichtig sind.

Meine Lektion kann nicht Ihre sein, Sie müssen selber herausfinden, welchen Anteil die materielle Sphäre in Ihrem Leben einnehmen soll, auf Grund von familiären und gesellschaftlichen Prägungen, von Schicksal und von eigenen Entscheidungen. Diese Entscheidungs-Freiheit überhaupt zu haben, ist ein echtes Privileg, denn bekanntlich kommt laut Brecht erst das Fressen und dann die Moral – oder die Lebensqualität. Wenn wir also Raum und Zeit haben, uns um unsere Lebensqualität kümmern zu können, ist das auf jeden Fall ein gewichtiger Beitrag zu unserem Lebensqualitäts-Konto.