Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

24. Die Sphäre der Nachhaltigkeit

Was für ein Kontrast! Acht Jahre lang mussten wir auf eine amerikanische Regierung blicken, die das Prinzip des Eigennutzens in Reinkultur verkörperte: Was interessiert uns der Rest der Welt, so lange wir weiterhin Reichtümer anhäufen können. Und was interessiert uns die Zukunft, so lange wir in der Gegenwart genug verprassen können. Dass aus einer so total egozentrischen Grundhaltung heraus groteske Fehleinschätzungen von Gegenspielern entstehen müssen, versteht sich von selbst.

Und jetzt das. Eine Regierung, die wieder von der Übernahme von Verantwortung spricht – und dafür auch Resonanz findet. Zu hoffen bleibt, dass es sich bei dieser Akzentverschiebung um eine echte Zäsur handelt – dringend nötig wäre sie. Und zwar nicht nur wegen des Zustands der Welt – das natürlich auch. Sondern weil die Übernahme von Verantwortung eine wichtige Sphäre unserer Lebensqualität bildet.

Im Zuge der Individualisierung haben wir gelernt, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Das heißt, wir haben gerade mal angefangen, das zu lernen, wir können da noch besser werden und werden das auch schaffen. Verantwortung für sich selbst zu übernehmen ist, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, nicht nur die unabdingbare Basis zur Verbesserung unserer eigenen Lebensqualität, sondern auch die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung, die über unser kleines hautverkapseltes Ego hinausgeht.

Und dieser Schritt über den Gartenzaun des eigenen Ichs hinweg ist jetzt gefordert. Gar nicht so sehr aus moralischen oder ethischen Erwägungen, sondern aus ganz handfesten und durchaus eigennützigen Gründen. In einer immer enger miteinander verflochtenen Welt sind wir vom Zustand derselbigen so abhängig, dass es ein Gebot der Klugheit ist, sich um diesen Zustand zu kümmern. Und zwar rechtzeitig. Wir müssen ja nicht warten, bis unsere Kinder wegen schlechter Luft husten, ehe wir etwas gegen diese unternehmen...

Überhaupt hat die Ausweitung unseres Verantwortungs-Horizonts sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Komponente. Neben der räumlichen über den eigenen Zaun hinaus ist auch eine zeitliche Ausdehnung gefordert, sprich die Frage, was Entscheidungen von heute für Auswirkungen haben könnten, und zwar nicht nur morgen, sondern auch übermorgen. Zu berücksichtigen, dass auch spätere Generationen ein Anrecht haben, mit hoher Lebensqualität auf diesem Planeten zu leben, ist der eigentliche Sinn des oft gebrauchten und nicht so oft verstandenen Begriffs der Nachhaltigkeit.

Ob wir diese dringend nötige Ausdehnung unseres Verantwortungs-Horizonts schaffen können, ist natürlich eine andere Frage. Ihre Beantwortung hängt letztlich von unserer Sicht des Menschen und dessen Evolution ab. Aus einer eher pessimistischen Perspektive sieht die Sacher gar nicht gut aus. Demnach nämlich ist unser Gehirn letztlich in der Steinzeit stecken geblieben, was deshalb nicht so erstaunt, weil die Menschheit 99 Prozent ihrer Geschichte in eben derselbigen verbracht hat. In der Steinzeit aber, so dieses Modell, reichte unser Verantwortungs-Horizont nicht über die eigene kleine Sippe hinaus, und angesichts des täglichen Kampfs ums Überleben kam logischerweise niemand auf die Idee, über den nächsten Tag, oder bestenfalls den nächsten Winter, hinaus zu denken.

Wir Menschen scheinen tatsächlich nicht besonders gut darin, langfristig zu denken und zu planen. Man sieht das im Berufs- wie im Privatleben: Im Zweifelsfall wird das Dringliche, also das kurzfristig Wichtige, immer dem langfristig vermutlich noch viel Wichtigeren vorgezogen. Und auch räumlich scheinen wir auf Nähe gepolt. Jeder Macher einer Lokalzeitung weiß, dass der überfahrene Hund in der eigenen Straße mehr interessiert und anrührt als eine  verheerende Überschwemmung irgendwo in Hinterasien. Sind wir also gefangen in diesen offenkundigen Begrenzungen unseres Horizonts?

Zum Glück gibt es auch eine optimistischre Sicht auf die Evolution des Menschen. Demnach hat sich diese gerade im letzten Prozent unserer Geschichte, also in den zehntausend Jahren Sesshaftigkeit, deutlich beschleunigt, und zwar nicht auf der Ebene der Gene, also der Baupläne für unser Gehirn, sondern in den aufgebauten und genutzten Verbindungen innerhalb unseres Gehirns, also im Austausch zwischen einzelnen Gehirnzellen und -arealen. Und darauf kommt es schließlich an.

Übersetzt heißt diese Botschaft: Wir Menschen sind sehr wohl lernfähig. Das haben wir im Laufe unserer Geschichte, auch eingedenk aller Rückschläge, immer wieder bewiesen. Und so weit müssen wir nicht einmal schauen: Auch unsere ganz persönliche Geschichte ist eine Geschichte von erwiesener Lernfähigkeit. Sicher, so schnell, wie wir es gerne hätten, lernen wir in der Regel weder als Individuum noch als Gemeinschaft, aber am Ende kapieren wir das Erforderliche dann meistens doch noch.

Vielleicht reicht die Zeit ja wirklich nicht, um eine nachhaltigere, ökologischere, sozialere, gerechtere, friedlichere  - kurz bessere – Welt zu schaffen, bevor sie der Kollaps ereilt. Wissen können wir das nicht, und deshalb sollten wir es wenigstens versuchen. Schon im ureigensten Interesse. Was zusammen mit einem ausgeweiteten Verantwortungs-Horizont ganz schön wirkungsvoll sein kann.

Sich als Teil eines Ganzen zu empfinden, das größer ist als man selbst, und dafür auch Verantwortung zu übernehmen, verlangt nicht nur nach Engagement, sondern gibt auch etwas zurück. Nicht irgendetwas, sondern unsere guten alten Bekannten: Orientierung. Identität. Sinn. Und damit Lebensqualität. Mag sein, dass es für manche Menschen Lebensqualität bedeutet, sich ins eigene Gärtlein zurückzuziehen und den Rest der Welt samt Zukunft auszublenden. Den meisten geht es mit einem so engen Verantwortungs-Horizont nicht gut, weil sie sich damit von der Welt und vom Leben abschneiden.

Ungesund ist wie immer natürlich auch die Übertreibung ins Gegenteil. Wer unter der Last der Verantwortung für die ganze Welt und auch für die Zukunft des ganzen Planeten ächzt und stöhnt und fast zusammenbricht, kann eigentlich keine besonders hohe Lebensqualität empfinden. Wir sind als Einzelne nicht für das ganze Elend der Welt verantwortlich, und dieses kann auch kein ausreichender Grund sein, ständig in Sack und Asche zu gehen.

Wir würden es als absurd bezeichnen, eine einzelne Gehirnzelle für den Zustand des ganzen Gehirns verantwortlich zu machen. Diese einzelne Zelle kann nicht allein für ein besseres Gehirn sorgen, und sie muss es zum Glück auch nicht. Allerdings hat jede einzelne Gehirnzelle sehr wohl einen Einflussbereich, innerhalb dessen sie zu einem insgesamt besseren Gehirn  beitragen kann. Sie kann nämlich dafür sorgen, selbst möglichst kompetent und fit und wach zu sein. Und sie kann dazu beitragen, dass der Austausch mit ihren Nachbarzellen noch besser klappt.

Die Parallelen liegen auf der Hand: Wir brauchen uns in Sachen Verantwortung für eine bessere Welt nicht zu überheben. Vielmehr hilft es unserer und der allgemeinen Lebensqualität am meisten, wenn wir die Spielräume dafür in unserer Einfluss-Sphäre voll ausnutzen. Womit wir ohnehin ziemlich ausgelastet sein dürften...

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Jenseits des Gartenzauns

Es gibt Worte, die sich nur verstehen lassen, wenn man einem bestimmten Kulturkreis angehört und dessen historische Erfahrung teilt. Ein solches Wort ist „Aktivdienst“, und die dazu gehörige Erfahrungsgemeinschaft ist die Schweiz. Dieses Land kennt eine allgemeine Wehrpflicht, die sich aus einer Grundausbildung und diversen Reservisten-Übungen zusammensetzt.

Normalerweise sind diese Übungen rein virtuell, denn die Schweiz war seit bald zweihundert Jahren dank ihrer Neutralität in keine (externen) Kriegshandlungen mehr verwickelt. Wenn jedoch rings herum Krieg ausbricht, wie dies im letzten Jahrhundert bei den beiden Weltkriegen der Fall war, werden all diese Reservisten aufgeboten, um im Bedarfsfall real die Landesgrenzen zu verteidigen. Und dieser Militärdienst in Kriegszeiten heißt dann eben Aktivdienst.

Zum Glück für mein Land blieb auch dieser Aktivdienst weitgehend virtuell, aber die beteiligten Soldaten, die oft jahrelang im Einsatz waren, hatten dennoch das Gefühl, einen Dienst am Vaterland und an ihren Mitbürgern zu leisten. Die Historiker streiten sich darüber, wie wichtig diese militärische Komponente neben allerlei anderen dafür war, dass die Schweiz nicht angegriffen wurde. Für die Beteiligten dagegen war klar, dass sie dafür gesorgt hatten.

Nur vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass ich meinen etwa ein Jahrzehnt lang dauernden Einsatz in der Politik meiner Heimatstadt und des dazu gehörenden Kantons im Rückblick gerne als meinen Aktivdienst bezeichne. Natürlich waren da auch persönliche Motive dabei, und natürlich war der damalige Zeitgeist hoch politisiert, doch letztlich habe ich dieses Engagement immer als Dienst an der Gemeinschaft und als Einsatz für eine bessere Welt verstanden. Bis ich eines Tages Bilanz zog und feststellte, dass der Aufwand riesig und der Ertrag in Form konkreter Verbesserungen bescheiden war. Daraufhin habe ich mich aus der Politik zurückgezogen.

Heute sehe ich meine Rolle in der Sphäre der Nachhaltigkeit eindeutig im Bereich der Bewusstseins-Bildung und versuche, durch meine Artikel, Bücher, Interviews und Vorträge Denkanstöße zu geben – to whom it may concern, also wen auch immer es betrifft. Der Erfolg dieses Einsatzes ist noch schwerer messbar als in der Politik, wenngleich es immer wieder ein ermutigendes Echo gibt. Für mein persönliches Lebensqualitäts-Konto jedoch ist nicht der Erfolg entscheidend, sondern der Versuch.