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Einleitung zur Zukunftsstudie "Werte-Marketing" von Andreas Giger. Erscheint im Frühling 2005 beim Zukunftsinstitut

Werte-Marketing - ein radikaler Ansatz

Die zu Recht renommierte Schweizerische Gesellschaft für Marketing (GfM) schrieb in ihrer Vorankündigung zur 15. Marketing-Trend-Tagung vom 20. April 2005 folgende bemerkenswerte Sätze:

Branchenübergreifend müssen Unternehmen von Jahr zu Jahr mehr in den Markt investieren, um das gleiche Ergebnis wie im Vorjahr zu erzielen. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig: Der Wettbewerb intensiviert sich weiter, die Austauschbarkeit der angebotenen Leistungen wächst, die Fragmentierung der Märkte nimmt zu. Auch echte Produktinnovationen gehen in einem immer weiter anwachsenden Kommunikationsgewitter unter.

Immer grössere finanzielle Anstrengungen sind offenbar notwendig, um die Kunden überhaupt noch zu erreichen oder gar für sich zu gewinnen. In vielen Unternehmen herrscht grosse Unsicherheit, welche Massnahmen den erhofften Erfolg versprechen und welche weitgehend wirkungslos verpuffen.

... Die zentralen Erfolgsfaktoren der Zukunft sind nicht ausufernde Marketingbudgets, sondern Kreativität, Kundenverständnis und Mut zu innovativen Ansätzen. Um einen höherern Wirkungsgrad der Marketinginstrumente und -prozesse zu erreichen, sind neue Ideen gefragt.

Wie wahr, auch wenn man es noch einfacher formulieren könnte: Das klassische Marketing stösst an Grenzen. Der Grenznutzen von "noch mehr vom selben" sinkt gegen Null. Gefragt ist Klasse statt Masse. Diese Diagnose in eigener Sache gelingt der GfM ebenso glasklar wie zutreffend.

Umso enttäuschender fiel das Therapiekonzept aus. Der Titel der angekündigten Tagung lautete "Marketingeffizienz und -effektivität als Erfolgsfaktor". Das, wie auch die vorgesehenen Referate, klingt sehr nach herumdrehen an den kleinen Schräubchen, die gefragten neuen Ideen sind nicht in Sicht. Und gäbe es im immer zahlreich anwesenden Marketingpublikum etwas mehr Ketzer mit gutem Gedächtnis, so würden sich diese daran erinnern, dass in den Titeln der Marketing-Trend-Tagungen das Wort "Erfolgsfaktor" immer wieder aufgetaucht war, und sich fragen, wo denn der jeweils angekündigte Erfolg geblieben sei, wo doch die aktuelle Diagnose des Zustands des Marketings mehr als ernüchternd ausfällt – siehe oben...

Nüchtern betrachtet dreht sich das Marketing in unendlichen Schleifen angeblich neuer Ideen in einem grellen und lauten Karusell der Eitelkeiten - und tritt doch an Ort. Je intensiver Marketing-Innovationen beschworen werden, desto geringer ist die tatsächliche Substanz an echter Innovation. (Dass dies nicht nur für die Schweiz oder die GfM gilt, versteht sich von selbst...)

Irgendwie erinnerte mich die Situation an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Kurzversion dieses exzellenten Gleichnisses einer Massenhypnose geht bekanntlich so: Ein sehr überzeugend auftretender Betrüger verkauft dem Kaiser eine neue Garderobe. Diese besteht jedoch buchstäblich nur aus heisser Luft, das heisst, des Kaisers neue Kleider existieren nur in dessen Phantasie. Das genügt jedoch, um den Hofstaat und später auch die gesamten Untertanen davon zu überzeugen, er trüge tatsächlich neue Kleider. Nur ein kleines Mädchen, von der Massenhypnose als einzige nicht betroffen, erkennt, was wirklich los ist, und ruft aus: >Aber der Kaiser ist doch nackt !<

Und so kam ich ins Grübeln: Hat Kaiser Marketing seine Untertanen so weit hypnotisiert, dass sie ihm wirklich glauben, die angeblichen Erfolgsrezepte seien neu und wirksam, obwohl sie doch offensichtlich wenig geeignet sind, die sich immer mehr abzeichnenden Grenzen des klassischen Marketings zu überwinden ? Wo sind die kleinen Mädchen, die erkennen, was wirklich läuft ? Geht ihre Stimme vielleicht im Lärm des Schulterklopfens unter, mit dem man sich gegenseitig versichert, wie innovativ man doch sei ? Und braucht es vielleicht erst einen überzeugenden alternativen Ansatz, so wie im Märchen die Untertanen wohl erst einen Kaiser in einer wirklich neuen, passenderen und zeitgemässeren  Garderobe sehen müssen, ehe sie erkennen können, dass er vorher nackt war ?

Und siehe da, der Kosmos antwortete auf meine Fragen, indem er mir ein real existierendes kleines Mädchen vorbeischickte. Das kleine Mädchen war ein juger Mann, Student der Wirtschaftswissenschaften, der mir ein Mail sandte, indem er wissen wollte, wo meine Studie "Lebensqualiätsmärkte" (Zukunftsinstitut, 2004) erhältlich sei, er plane nämlich eine Arbeit über Werte-Marketing. Ich war elektrisiert und lud den jungen Mann zum Kaffee. Auf die Frage, wie er zu seinem Thema gekommen sei, antwortete er, er verstünde ganz einfach nicht, warum das Marketing auf seiner Suche nach dem, was die Konsumentinnen und Konsumenten letztlich antreibt, immer nur an der Oberfläche, also etwa bei deren Wünschen, kratze, statt an die Wurzeln zu gehen, dorthin, wo die Menschen wirklich darüber entscheiden, was sie wollen und tun. Und diese Wurzeln seien nun mal die Werte.

Ich konnte ihm nur zustimmen: Werte sind das, was uns etwas wert ist, und für das, was uns etwas wert ist, investieren wir Zeit, Aufmerksamkeit, Energie und Geld. Folglich entscheiden Werte auch darüber, was und wie wir konsumieren.

So einfach ist das. Und so naheliegend, dass es offenbar glatt übersehen wird. Denn das war die erstaunlichste Kunde, die der Student mitbrachte: Der Einsicht, ein konsequent an die Wurzeln der Entscheidungskriterien für Konsum gehendes Marketing müsse sich zwangsläufig an Werten orientieren, folgte die Vermutung, es müsste sich längst eine Schule des Werte-Marketings entwickelt haben. Doch die daraufhin durchgeführte intensive Internet-Recherche brachte -ausser ein paar Studien über Werte-Marketing als die zweifelhafte Kunst, mit einem Zusatzzückerchen beim Konsumenten den Eindruck von Mehrwert zu erwecken, um ihm noch etwas mehr Geld aus der Tasche ziehen zu können -schlicht nichts. Werte-Marketing im Sinne einer Orientierung des Marketings an den Werten der Konsumenten existiert ganz einfach nicht.

Damit war ich nun gefordert. Da die Studie über Werte-Marketing, die ich gerne gelesen hätte, nicht existiert, tat ich das, was ich in solchen Fällen meistens tue: Ich schrieb sie selber. Ich tat dies umso lieber, als ich in der erwähnten Lebensqualitäts-Studie das Thema Werte-Marketing schon mal angerissen hatte, ohne es allerdings wirklich vertiefen zu könnnen. Das holt die vorliegende Studie jetzt nach.

Werte-Marketing hat - darin werden Sie mit mir nach der Lektüre übereinstimmen - eine grosse Zukunft, und zwar nicht als rasch wieder verglühende Sternschnuppe am Firmament der angeblichen Marketing-Innovationen, sondern als eine grundlegend neue Art der Erkenntnis, worum es im Marketing eigentlich geht. Der junge Student hatte es intuitiv erkannt, worauf es ankommt: An die Wurzeln der Konsumentenmotivation zu gehen, zu den Werten. "An die Wurzeln gehen" aber ist genau die Bedeutung des Wortes "radikal". Deshalb ist Werte-Marketing ein radikaler Ansatz.

Nun sind radikale Ansätze leider nicht sehr beliebt. Wenn man sich auf sie einlässt, verlässt man den Mainstream und riskiert soziale Isolation. Man muss lieb gewordene Vorstellungen loslassen, sich auf ungewohnte und riskante Denkpfade begeben. Nicht ohne Grund löst schon die Vorstellung einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt bei vielen Leuten Panikattacken aus.

Doch manchmal sind Wurzelbehandlungen unumgänglich, um wieder kraftvoll zubeissen zu können. Angesichts der vom Marketing selbst diagnostizierten sich immer höher auftürmenden Grenzen des klassischen Marketings erscheinen radikal neue Pfade unumgänglich, um die vorherrschenden Denkblockaden zu überwinden.

Und darum geht es zunächst: um Denken, um Ideen. Ein radikaler Ansatz bedeutet nicht, in blindem Aktionismus sofort radikal anders loszuschlagen. Im Gegenteil: Wurzeln freizulegen, ohne dass sie dabei absterben, braucht viel Zeit und Sorgfalt.

Die Zeit ist vorhanden. Die in dieser Studie beschriebenen Entwicklungen stehen erst am Anfang, und es wird somit noch einige Zeit verstreichen, bis sie zu wirklich relevanten Marktfaktoren werden. Und die Zeit wird gebraucht, denn ein radikales Umdenken erfolgt nicht von heute auf morgen, sondern in vielen kleinen Schritten - auch und gerade im Markting.

Die Sorgfalt müssen Sie selbst einbringen. Zum Beispiel, indem Sie nicht nur den dritten Teil dieser Studie lesen, in dem es unter dem Titel Werte verwerten dann tatsächlich um den Umgang des Marketings mit Werten geht, sondern auch den ersten, der die Frage beantwortet Warum werden Werte was wert ?, und den zweiten, der den Werte-Wandel zusammenfasst und die Frage beantwortet, welche Werte wie wertvoll werden.

Sorgfalt ist nicht gleichzusetzen mit tierischem Ernst. Weit jenseits davon können Sie zum Schluss noch einmal spielerisch erfahren, worum es beim Werte-Marketing geht.

Immaterielle Werte sind schwerer zu fassen und zu be-greifen als materielle Werte. Und dennoch haben sie die letzten amerikanischen Präsidentenwahlen entschieden (ob das stimmt, erfahren Sie gleich zu Beginn des ersten Teils). Mehr und mehr werden sie auch über Sieger und Verlierer in den Märkten entscheiden. Es loht sich deshalb, sich auf sie einzulassen.

Zwischen der Welt der Qualität, in der die Werte anzusiedeln sid, und jener der Quantität, gibt es im übrigen sehr wohl eine Brücke. Sie heisst SensoNet, und ermöglicht eine Annäherung an die Grössenverhältnisse in den Landschaften des kollektiven Bewusstseins. Mit diesem Beobachtungsinstrument können wir also nicht nur erkennen, welche Denkflüsse und –-ströme existieren, sondern auch in etwa, welche Grösse und Stärke sie haben - und welches Anschwellpotenzial. Allen, die mit ihrer Teilnahme an den SensoNet-Umfragen dazu beigetragen haben, diese Bilder der zukünftigen Wertelandschaften und ihrer Auswirkungen auf das Marketing klar und überzeugend zu machen, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. In diesen Dank mit eingeschlossen sind die TeilnehmerInnen an der Umfrage von MARKETING MORGEN über Werte-Marketing. Durch den direkten Vergleich zwischen den Einschätzungen von Konsumenten und Marketing-Leuten, also zwischen Markt und Marketing, ergeben sich interessante Ein- und Aussichten.

Ihnen wünsche ich einen erhellenden und anregenden Einstieg in die ebenso faszinierende wie herausfordernde Welt des Werte-Marketings.

Wald AR (Schweiz), Anfang 2005

Dr. Andreas Giger


Inhalt der geplanten Studie

Einleitung

Werte-Marketing - ein radikaler Ansatz

Teil 1

Werte werden was wert: Die Entdeckung des Naheliegenden

Eine Falschmeldung, die stimmt: Werte und die US-Wahlen

Was sind Werte ?

Wie wirken Werte ?

Ein Prozess der Bewusstwerdung

Werte in der Eigenwahrnehmung

Werte im kollektiven Bewusstsein

Unterwegs zur Ökonomie der Werte

Teil2

Werte-Wandel: Welche Werte werden wertvoll ?

Werte-Verlust oder Werte-Wandel ?

Trends an der Werte-Börse

Vom Chaos zu neuen Mustern

Von Nutzen und Können zu Sein und Sinn

Leitwert Lebensqualität

Soft-Individualismus: Zwischen Eigensinn und Miteinander

Reifung: eine Herausforderung namens Selbst-Transformation

Der neue Luxus

Der Europäische Traum: Werte schaffen Identität

Teil 3

Werte verwerten: Werte-Marketing als Kunsthandwerk

Werte und Konsum

Das Konzept der Werte-Korrespondenz

Werte-Portfolios (1) - die Pflicht: was alle Kunden wollen

Werte-Portfolios (2) - die Kür: Werte-Profil als Chance

Die vier Säulen des Werte-Marketings:

                        Werte haben
                        Werte leben
                        Werte verkörpern
                        Werte vermitteln
Werte-Wandel als Kunsthandwerk

Die Zukunft des Werte-Marketings: ein Ausblick

 

Selbstentdeckung

Werte-Wandler: Gehören Sie dazu ?

Ein Testspiel

 

MARKETING MORGEN

Ein neues Netz von Menschen, die sich für die Zukunft des Marketings interessieren, wird aufgebaut.

Eine erste Umfrage zum Thema "Bleibt Geiz geil ?" hat stattgefunden.

Im Januar 2005 läuft die zweite Umfrage zum Thema "Unterwegs zum Werte-Marketing ?"

Mehr zur aktuellen Umfrage und zu bisherigen Ergebnissen finden Sie hier.

 

 

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