Lebensmittel
Zeitung Spezial 1/2005 zum Thema "Generation 50+", Frühling
2005, unredigierter Text
Alltag
in der Altenrepublik
Zukunftsforscher
Andreas Giger katapultiert sich ins Jahr 2020. In der Rolle eines
türkischen Journalisten geht er auf Deutschlandtour.
Mein
erster Eindruck war enttäuschend. Enttäuschend unspektakulär,
um genau zu sein. Ich hatte zur Vorbereitung meiner Erkundungsreise
natürlich ausführlch recherchiert, und dabei waren mir auch
Werke von Anfang dieses Jahrhunderts in die Hände gefallen, in
denen Horrororszenarios von "Überalterung" und "Vergreisung"
entwickelt worden waren. Mit solchen Bildern im Kopf war ich nach
Deutschland gefahren, und musste dort bald feststellen: Deutschland
ist kein vergreistes Land.
Das
heisst: Eigentlich durfte ich das registrieren. Schliesslich
ist das, was heute in West- und Zentraleuropa geschieht, unser aller
Schicksal; auch wir heute noch jungen Gesellschaften werden älter,
nur einfach mit einiger Zeitverzögerung. Und deshalb kann ich
gleich Entwarnung geben: Die für uns noch normale Bevölkerungspyramide
mit vielen Jungen und wenig Alten dreht sich nicht auf den Kopf. Vielmehr
entwickelt sich diese Grafik immer mehr zur Form einer geraden Säule,
oder, um ein vertrautes Bild zu verwenden: Die Pyramide verwandelt
sich in einen Döner Kebab.
Zu
einem ebensolchen traf ich mich in Frankfurt mit der Marktexpertin
Gülly Yakin. Sie ist rund 50 Jahre alt und deutsch-türkische
Doppelbürgerin, und der beste Beweis dafür, wie sinnvoll
es war, solche mehrfachen Staatsbürgerschaften zuzulassen, kennt
sie doch beide Welten und kann damit dazu beitragen, einen beidseits
Gewinn bringenden Austausch zu ermöglichen.
Ich
hatte Frau Yakin um ein Gespräch gebeten, weil mir aufgefallen
war, dass man in Deutschland - anders als in Japan - keine ganz alten
Menschen sieht, die zum Spazieren oder Einkaufen von Support-Robotern
begleitet werden. Wohl gibt es auch hier zu Lande eine wachsende Zahl
von Haushaltrobotern, die tatsächlich vor allem von älteren
Menschen genutzt werden, doch im Gegensatz zu den technikverliebten
Japanern haben die meisten Europäer einen Horror davor, sich
auf menschenähnliche Technik einzulassen.
In
Deutschland, erklärt Frau Gülly, sei man deswegen im letzten
Jahrzehnt einen anderen Weg gegangen. Man hätte auf radikale
Vereinfachung der Technik gesetzt. Erst wenn auch eine einfache Frau
von Achtzig ohne höhere Schulbildung und mit geschwundenen Muskelkräften
völlig problemlos jedes Gerät bedienen und jede Verpackung
öffnen kann, ist diese Forderung erfüllt.
>So
weit ist man noch nicht überall<, schränkt sie ein, und
genau in diesem Moment verspritze ich beim Öffnen des Döschens
mit der Kaffeesahne ein paar Tropfen auf meine Krawatte. >Sehen
Sie<, fährt sie fort, >es gibt noch viel Optimierungsbedarf.
Aber das Ziel ist klar: Beim Umgang mit allen Dingen und Prozessen
des Alltags auch älteren und wirklich alten Menschen die Möglichkeit
zu geben, möglichst lange möglichst autonom leben zu können
- durch grösstmögliche Einfachheit und Bequemlichkeit.<
Abschliessend
fügt Gülly Yakin eine interessante Feststellung hinzu: >Nicht
ganz unerwartet hat dieses sich wirklich Einlassen auf die Bedürfnisse
und Wünsche alter Menschen für die Anbieter entsprechender
Produkte und Dienstleistungen einen angenehmen Nebeneffekt. Ihre Angebote
werden ihnen auch von sehr viel jüngeren Konsumentinnen und Konsumenten
aus der Hand gerissen, weil auch diese von der permanenten Überforderung
durch Technik und andere Lebensqualitäts-Killer die Schnauze
voll haben.<
Um
diese These zu überprüfen, unternahm ich einen Ausflug in
den nächsten Supermarkt. Dort allerdings verlor ich schnell das
Interesse an den Regalen, weil mir stattdessen eine Art Button ins
Auge sprang, auf dem deutlich "AS" stand, und den etliche
Damen und Herren auf der Brust trugen, die alle selber deutlich jenseits
der Sechzig waren, dabei aber ihrerseits offensichtlich Menschen begleiteten,
die fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als sie waren - und
damit wirklich alt, und sagen wir es offen, doch schon etwas tatterig.
Am
Einkaufen waren eindeutig die ganz alten Herrschaften, die Plackettenträger
unterstützten sie dabei, soweit es nötig war, nicht mehr
und nicht weniger. Das machte mich nun wirklich neugierig, und so
fragte ich nach der Bedeutung von "AS"." "Age
Supporter" heisse dies, wurde mir beschieden, und ich erhielt
auch bereitwillig die Adresse der entsprechenden Dachorganisation.
So
sass ich denn wenig später im Büro von Anna Riemenschmid,
einer vitalen Mittsiebzigerin, ihres Zeichens Gründerin und noch
immer "Spiritus Rector" der Age Supporter. Seinerzeit, so
erzählt sie, sei die Bewegung als bewusste Antithese zum "Anti
Aging" entstanden. Nicht gegen das Alter, sondern mit ihm, laute
die Devise deshalb bis heute. Und weil immer mehr Menschen sehr alt
würden und deshalb Unterstützung in ihrem Alltag bräuchten,
sei der Bedarf nach Age Supportern stetig gewachsen. Dass sich dafür
besonders selber schon etwas ältere Menschen eigneten, die nicht
mehr voll im aktiven Leben ständen, läge dabei auf der Hand.
Age
Supporters, so erfuhr ich weiter, würden nicht bezahlt. Vielmehr
hätten sie drei freiwillige Motive: Erstens das Gefühl,
gebraucht zu werden und etwas Sinnvolles zu tun. Zweitens die Gewissheit,
durch den Austauch mit noch älteren Menschen immer noch etwas
dazulernen zu können. Und drittens die Anbindung an etwas Grösseres,
nämlich an die Kette der Generationen, in denen man immer "nur"
ein Zwischenglied ist.
>Konkret
heisst das<, nahm Frau Riemenschmied den Faden auf, >dass ich
in gewisser Weise die Chancen erhöhe, selber mal einen Age Supporter
zu finden, wenn ich es dereinst brauchen sollte, indem ich heute diese
Rolle selber übernehme.<
Ich
kam ins Grübeln. So anders war das gar nicht als unseren traditionellen
Generationbeziehungen. Wenn die Kinder ihre alt gewordenen Eltern
unterstützen, dann tun sie dies ja nicht nur aus Dankbarkeit,
sondern auch, weil sie nicht wollen, dass die lange Kette unterbrochen
wird, in der die Alten auf die Unterstützung der Jungen zählen
dürfen.
Anna
Riemenschmied bestätigte meine Überlegungen. In der Essenz
handle es sich auch bei den Age Supportern um den uralten Generationenvertrag.
Weil aber die Bedeutung der Familie wegen der zunehmenden Zahl von
Kinderlosen insgesamt geschrumpft sei (wenn auch keineswegs im Einzelfall),
seien freundschaftliche Beziehungen immer wichtiger geworden. Age
Supporter seien mit den von ihnen unterstützten alten Menschen
meist schon länger durch mehr oder weniger intensive Beziehungen
verbunden. Die Bewegung würde also nicht zufällige neue
Beziehungen stiften, sondern bereits bestehende fördern. Ihr
Ziel sei die Vernetzung der einzelnen Age Supporter und ihre Unterstützung
aus dem Hintergrund, etwa indem Informationen über besonders
gute Einkaufsmöglichkeiten gesammelt und allen zugänglich
gemacht werden.
Ich
staunte. Da war alles beisammen, was das 21. Jahrundert ausmacht:
Vernetzung. Geteilte Werte und geteiltes Wissen, um beides zu verdoppeln.
Als ich Anna Riemenschmied darauf aufmerksam machte, lachte sie nur
und doppelte nach: >Und das alles haben Leute erfunden und entwickelt,
die alle schon damals über 50 waren. Heut zu Tage braucht es
viel Lebenserfahrung und zum Beispiel ein subtiles Verständnis
für Kontinuität und Wandel, um zukunftsweisend zu sein.
Aber jetzt muss ich nur nächsten Besprechung.<
Eine
solche hatte ich bald darauf mit Alexander Gross, Vorsitzender der
Stiftung zur Förderung von Lebensqualität und Erfinder des
QuoLi, des Quality of Life Index. Worum es dabei ging, wurde mir klar,
als ich die Rückseite seiner Visitenkarte las, auf der einfach
eine Frage stand:
Wenn
Sie einmal die höchste Lebensqualität, die Sie für
sich denen können, mit dem Wert 100 beziffern: Wie hoch ist dann
Ihre derzeitige allgemeine Lebensqualität, ausgedrückt in
einer Zahl zwischen 1 und 100 ?
Gross
fragte nach meiner Antwort, und ich sagte "78". >Damit
liegen Sie ziemlich genau beim derzeitigen deutschen Durchschnitt<,
sagte er, >wobei meine Generation (er ist auch schon 69) deutlich
höhere Werte aufweist als Ihre. Und das muss auch so sein. Schliesslich
ist die Verbesserung der eigenen Lebensqualität ein lebenslanges
Projekt, und es wäre schon seltsam, wenn wir dabei nicht dazulernen
würden - womit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass reife Lebensqualität
so gut wird wie reifer Wein oder Käse.<
Nachdem
wir diesen Zusammenhang mit einem ausgiebigen Schmaus bewiesen hatten,
erzählte Gross von den Anfängen des QuoLI. Es sei bestimmt
kein Zufall gewesen, dass dessen Initianten alle auch schon die magische
Schwelle von fünfzig überschritten gehabt hätten, als
sie vor fünfzehn Jahren auf die Idee kamen, eine Alternative
zum Bruttosozialprodukt zu entwickeln, also in einem Alter, in dem
man damals schon zum alten Eisen zählte. Während alles noch
ganz auf Wachstumsdenken fixiert war und wie das Kaninchen auf die
Schlange des Bruttosozialprodukts starrte, haben sich einige Menschen
im reiferen Alter gefragt, ob es wirklich das sei, worum es in Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft ginge: stetiges Wachstum ?
Nein,
so beschlossen sie, eigentlich ginge es um die Lebensqualität
der Menschen, und um das bewusst zu machen, haben sie einen Index
der Lebensqualität installiert. Bekanntlich hängen Regierungen
heute viel mehr davon ab, ob dieser steigt oder fällt, als von
ein paar Promille mehr oder weniger Wachstum.
Diese
Akzentverschiebung von Quantität zu Qualität, so Gross weiter,
ist untrennbar verbunden mit der älter werdenden Gesellschaft.
Immer mehr Menschen realisieren, dass sie angesichts der immer noch
steigenden Lebenserwartung für die Zeit jenseits der Fünfzig
ein neues Projekt brauchen, das mehr ist als Ruhestand. Dieses Projekt
heisst Reifung, und angezogen wird es von der persönlichen Utopie
des 21. Jahrunderts: Weisheit. Solange wir leben, können wir
reifen, und das gibt auch den reiferen Jahren Richtung und Sinn. Und
zur Reife gehört nun mal die Einsicht, es ginge - im persönlichen
wie im gemeinschaftlichen Leben - primär um Lebensqualität.
So
verschiebt sich, meinte Gross abschliessend, durch die demografische
Entwicklung vor allem auch die Werte-Landschaft. Diese Entwicklung
geschieht nicht spektakulär und über Nacht. Aber er sei
optimistisch, dass die Gesamtbilanz positiv ausfallen werde: Eine
reife Gesellschaft böte insgesamt ein Mehr an Lebensqualität.
Mit
diesen tröstlichen Aussichten verabschiedete ich mich aus einem
Land, das sicher noch kein reifes ist, aber auf dem besten Weg dazu.