Gigerheimat: Worte
Der Schweizerische Traum

 

Der Schweizerische Traum - Die Vision eines reifen europäischen Landes

Aus einem Buch, in dem sie gar nicht vorkommt (Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum - Die Vision einer sanften Grossmacht), leitet der Zukunfts-Philosoph Andreas Giger den Schluss ab, die Schweiz sei hervorragend für die Zukunft gerüstet. Wenn sie sich selbst denn endlich als reifes europäisches Land wahrnimmt.

Werte werden was wert

"It´s the economy, stupid !" Längst haben wir dieses harrsche Motto verinnerlicht. Heulen und Zähneklappen herrscht hier zu Lande, wenn wieder einmal ein paar unterbeschäftigte Oekonomen die Schweiz in einer Hitparade der Wettbewerbsfähigkeit um einen Platz zurück gestuft haben. Und grausliges Schaudern erfasst uns, wenn der Hotelier aus Brig mal wieder genüsslich vorrechnet, dass uns die Österreicher nicht nur im Skilaufen längst um die Ohren fahren, sondern uns auch in Sachen Bruttosozialprodukt demnächst überholen werden.

Doch während Bill Clinton 1992 mit diesem Motto noch Erfolg hatte, gewann George Bush zwölf Jahre später nicht mehr wegen, sondern trotz seiner Wirtschaftspolitik, auf Grund von dem, was wir so schön immaterielle Werte nennen. Der Primat der Ökonomie gilt nicht mehr - jedenfalls beim Wahlverhalten. Dieses Phänomen ist uns in der Schweiz bestens bekannt. Viele SVP-Wähler würden materiell massiv leiden, wenn deren neoliberale Rezepte realisiert würden, und auf der anderen Seite sind ebenso viele SP-Wähler froh, dass nicht all  deren Steuerideen Wirklichkeit werden, weil sie als Angehörige einer gut verdienenden Mittelschicht damit kräftig zur Kasse gebeten würden. In beiden Fällen sind die immateriellen Werte, welche die jeweilige Partei verkörpert, wichtiger als deren Pläne für die Welt der materiellen Werte.

So erstaunlich ist das nicht, sind doch Werte (die immateriellen selbstredend) nichts anderes, als das, was uns etwas wert ist, was uns wichtig ist, was wir wollen. Und damit die oberste Richtschnur, wenn es darum geht, eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu treffen, in der Politik, aber auch beim Konsum und generell bei unserer Lebensgestaltung. Je grösser in unserer Multioptions-Gesellschaft die Qual der Wahl wird, desto wichtiger werden Werte als Massstäbe für Orientierung und Entscheidung. Werte werden was wert.

"Wer als Politiker Visionen hat, gehört in die Klappsmühle!" Diese treuherzige Beschwörung, doch bitte auf dem Boden der materiellen Tatsachen zu bleiben, wird verschiedenen Herren zugeschrieben. Eindeutig stammt sie jedoch aus dem letzten Jahrhundert. Im jetzigen stellt uns allein schon die Existenz aggressiver Visionen wie jene eines weltumfassenden islamistischen Gottesstaates vor die Herausforderung, uns selbst zu fragen, welche Visonen wir dem entgegen zu stellen haben, und welche Werte hinter diesen unseren eigenen Visionen stecken. So unbedarft die Diskussionen darüber oft noch ablaufen, sie sind heilsam und notwendig. Im 21. Jahrundert wird das Gegenteil gelten: Wer sich nicht um immaterielle Werte und Visionen kümmert, gehört auf den Abfallhaufen der Geschichte.

Dass es uns schwer fällt, uns unserer eigenen Werte bewusst zu werden, liegt in der Natur der Sache, gehören doch unsere Werte gleichsam zum Betriebssystem unseres Geistes, das wie im Computer weitgehend im verborgenen Hintergrund abläuft. Wir orientieren uns zwar dauernd an unseren Werten, doch das geschieht weitgehend unbewusst.

Zum Reich des Unbewussten gehören auch unsere Träume, die indivdiuellen wie die kollektiven. Das bekannteste Beispiel für kollektive Träume ist der Amerikanische Traum. Lange sah es so aus, als ob dieser Traum übermächtige Anziehungskraft hätte und sich deshalb allmählich auf den ganzen Globus ausbreiten würde. Nun kommt ein Amerikaner daher, der von sich selbst sagt, er sei vom Amerikanischen Traum bis in die Knochen geprägt, und behauptet, es gäbe einen anderen Traum, der in Zukunft attraktiver und erfolgreicher sein werde als der Amerikanische: den Europäischen Traum.

Der Autor Jeremy Rifkin ist Ökonom, leitet das Institut "The Foundation on Economic Trends" in Washington, D.C., ist Hochschullehrer und berät in Europa nicht nur führende Parteien und Politiker, sondern auch die Europäische Kommission. Als Wanderer zwischen den Welten hält er den Europäern einen Spiegel vor, ob dessen Anblick sich diese zunächst einmal verwundert die Augen reiben. Nicht nur haben sie von der Existenz eines Eurpäischen Traums bisher nichts gehört - dieses unbekannte Wesen soll auch noch zukunftsträchtiger sein als sein amerikanisches Gegenstück ?

Und um die Zumutung voll zu machen, wird noch die Behauptung drauf gesattelt, nicht der Zustand der realen Volkswirtschaft sei entscheidend für die Zukunftsfähigkeit - wobei die angebliche Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaft von Rifkin kräftig demontiert wird - sondern das kulturelle Betriebssystem, also so schwer fassbare "Dinge" wie Werte, Visionen oder gar Träume.

Diese These ist in unserer durch und durch materiellen und ökonomisierten Gesellschaft zunächst schwer zu schlucken. Ein Gedankenspiel wert ist sie allemal: Was wäre, wenn Werte tatsächlich immer wertvoller werden ? Dann stellt sich nämlich sofort die Frage, welche Werte wertvoller werden. Und schon sind wir mitten drin in Rifkins Vergleich zwischen dem Europäischen und dem Amerikanischen Traum.

Der Europäische Traum ist zukunftsträchtiger

Rifkin positioniert den europäischen Katalog von Grundwerten in der gesunden Mitte zwischen dem amerikanischen, in dem ein reiner Individualismus dominiert, und dem asiatischen, in dem nach wie vor das Kollektiv die Hauptrolle spielt. Matthias Horx nennt diesen integrativen Ansatz "Soft-Individualismus": Selbstverwirklichung ja, aber nicht als Ego-Tripp. In Europa gelten Gemeinschaftsbeziehungen mehr als individuelle Autonomie, Freiheit wird nicht als Unabhängikeit von anderen verstanden wie in den USA, sondern entfaltet sich erst im Eingebettetsein.

Weitere Unterschiede sieht Rifkin darin, dass in Europa kulturelle Vielfalt wichtiger sei als Vereinheitlichung, weshalb Europas Kultur im Gegensatz zur exklusiven Amerikas eine inklusive sei. Europa sei weniger materialistisch orientiert als die USA, Lebensqualität sei im Zweifelsfall wichtiger als die Anhäufnung von Reichtum. Spielerische Entfaltung komme in Europa vor ständiger Plackerei.

Statt auf unbegrenztes materielles Wachstum setze Europa mehr auf nachhaltige Entwicklung. Die universellen Menschenrechte und die Rechte der Natur würden in Europa höher eingeschätzt als Eigentumsrechte. Deswegen auch setze Europa mehr auf globale Zusammenarbeit als auf einseitige Machtausübung.

Besonders positiv sieht Rifkin die Evolution der EU. Sie sei der beste Beweis, dass es eben doch möglich sei, aus der Geschichte zu lernen. Als Gemeinschaftsexperiment jenseits der Idee der Nationalstaaten sei die EU ein hoffnungsvolles historisches Unterfangen, das nicht mehr primär auf vertikale Hierarchien setzt, sondern auf horizontale Vernetzung. Für eben dieses - vernetztes Denken und Handeln - habe Europa dank seiner Geschichte und Kultur beste Voraussetzungen. Und damit glänzende Chancen für die Zukunft, in der Vernetzung immer wichtiger wird.

Man kann Rifkin eine leichte euphorische Abgehbobenheit unterstellen, wenn er zum Schluss als Quintessenz formuliert: "Für den Amerikanischen Traum lohnt es sich zu sterben. Für den Europäischen zu leben." Doch weil man ihm auch Recht geben muss, wenn er anregt, der Euopäische Traum könnte sich vom Amerikanischen ein gutes Stück Eigenverantwortung und Zukunfts-Optimismus abschneiden, könnten wir auch einfach Danke sagen für diese Sicht der Dinge. Und uns als Zeichen dieses Dankes auch überlegen, ob an dieser Diagnose nicht doch was dran sei.

Weil Europa im Gegensatz zu den USA Gott sei Dank nicht mehr das Gefühl hat, Gottes eigenes und auserwähltes Land zu sein,  kann Europa nur Selbstbewusstsein entwickeln, wenn es Selbst-Bewusstsein entwickelt: ein Bewusstsein seines eigenen Erbes, seiner immateriellen Stärken und Werte. Europa hat Zukunft, wenn es seinen Traum lebt, als sanfte Supermacht, die nicht nach Dominanz strebt, sondern nach seinen eigenen Werten.

Wir können diese Diagnose der europäischen mentalen Verfassung noch einen Schritt weiter führen: Anders als in den USA oder gar in Asien geraten in Europa die Grenzen des Steigerungssspiels ins Blickfeld. Schon aus demographischen Gründen ist absehbar, dass die Steigerungslogik des immer mehr (höher, weiter, schneller) nicht unendlich ist. Materielle Sättigungstendenzen führen zu einer Aufwertung des Immateriellen. Qualität wird wichtiger als Quantität. Die Welt des Nutzens und Könnens bleibt bedeutsam, doch die Welt des Seins und Sinns wird aufgewertet. Und Sinn ist eine Ressource, die sich nicht beliebig vermehren lässt, man kann sich ihr "nur" mehr oder weniger annähern.

Der Erfolg einer Gesellschaft wird im 21. Jahrhundert nicht mehr einfach an der Höhe ihres Bruttosozialprodukts gemessen. Erfolgreich wird eine Gesellschaft viemehr dann sein, wenn sie den in ihr verbundenen Individuen ermöglicht, in Freiheit und Eigenverantwortung ihr eigenes Leben zu gestalten und darin Lebensqualität und Lebenssinn zu finden. Europa hat, man kann die Botschaft nicht oft genug wiederholen, für diese Zukunft beste Voraussetzungen.

Die Schweiz ist ein reifes europäisches Land

Was hat das nun alles mit der Schweiz zu tun ? Von zwei statistischen Marginalien abgesehen erwähnt Jeremy Rifkin die Schweiz nicht, er spricht ausschliesslich von Europa oder der EU. Der europäische Sonderfall Schweiz (oder Norwegen) kommt in der Aussenwahrnehmung nicht vor, oder er ist zu unbedeutend, um Erwähnung zu finden.

Das kränkt Schweizerische Eitelkeiten natürlich zunächst, doch kann dieser heilsame Schock auch dazu führen, dass wir uns fragen, ob diese Wahrnehmung nicht ganz einfach stimmt, ob wir nicht tatsächlich schlicht ein Teil der europäischen Kultur mit ihrem vorzüglich der Zukunft angepassten Betriebssystem sind - und damit Teil des Europäischen Traums.

Dem Einwand, die Schweiz sei aber mindestens nicht Mitglied der Europäischen Union, würde Rifkin elegant mit seiner Sicht der EU begegnen. Für ihn ist diese nämlich alles andere als ein monolithischer Block, bei dem Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft eine krasse Grenze bilden würde. Vielmehr sieht er die EU als komplexes und damit oft genug chaotisch erscheinendes Netzwerk unterschiedlicher Akteure, in dem pausenlos auf allen möglichen Ebenen miteinander gesprochen, gestritten, verhandelt und beschlossen wird. In diesem Netzwerk verschwimmen nach innen wie nach aussen starre Grenzen und Eindeutigkeiten, vielmehr entsteht ein letztlich nicht planbares System der komplexen Selbstorganisation, ein evolutionärer Prozess mit offenem Ausgang, auch wenn grundsätzlicher Optimismus angezeigt ist.

Nur die stursten Politböcke können leugnen, dass die Schweiz längst Teil dieses Netzwerks ist, in einer etwas anderen Rolle zwar als die Mitglieder, aber mit diesem selbstorgansierenden Organismus namens EU dennoch untrennbar verbunden. Die wirtschaftliche Verflechtung ist eng. Auch der bilaterale Weg führt zunehmend (und ohne überzeugende Alternativen) zu immer engeren Kontakten und zu einer Angleichung von Politik und Recht auf vielen Gebieten. Und auf der Ebene der Regionen wird die Vernetzung über die EU-Grenzen hinweg immer dichter und intensiver.

Vor allem aber ist die Schweiz deswegen Teil dieses faszinierenden Projekts des Europäischen Traums, weil ihre Werte europäisch sind. Die europäische Wertelandschaft, die Jeremy Rifkin beschreibt, ist auch die schweizerische. Keine der berühmten Schweizer Geissen schleckt weg, dass die Schweiz ein europäisches Land ist. Das mag banal klingen, doch das Bewusstsein davon könnte der spaltenden Frage, ob sie der EU beitreten soll oder nicht, die Schärfe nehmen. Nicht mehr die Mitgliedschaft ist dann die entscheidende Frage - über diese kann man in guten Treuen unterschiedliche Auffassungen haben. Viel wichtiger ist, dass wir im Kern, dort wo es wirklich darauf ankommt, bei den Werten also, längst zu Europa gehören. Das ist ein Fakt, und über Fakten lässt sich nicht streiten.

Weil die Schweiz nun mal vernarrt ist in die Idee, ein Sonderfall zu sein, macht sie sich durch ihr Abseitsstehen bei der EU selber zu einem solchen. Beides, der Wunsch nach dem Eigenen, Unverwechselbaren, und die EU-Abstinenz, ist keineswegs a priori falsch. Falsch ist nur die Vorstellung, die Nichtmitgliedschaft bei der EU sei der einzige Weg, eine besondere Rolle in Europa zu spielen.

Dabei liegt ein anderes Selbstbild nahe, das viel besser geeignet wäre, dem schweizerischen Drang nach Eigensinn einen sinnvollen Kanal zu geben. Wir könnten uns nämlich nicht einfach als europäisches Land sehen, sondern als reifes europäisches Land. Dank einer Mischung aus etwas Verstand und viel Glück hatte die Schweiz wesentlich länger Gelegenheit, den Europäischen Traum vom friedlichen Miteinander, von der Einheit in Vielfalt, von zivilisierten und demokratischen Formen des Zusammenlebens, zu entwicklen und zu leben. Wir hatten mehr Gelegenheit zum Üben - und damit zum Reifen.

Es wäre mehr als vermessen zu behaupten, wir hätten diese Chance optimal genutzt. Ganz abgesehen davon, dass Reife ein Idealzustand ist, dem wir uns - als Einzelne wie als Land - nur annähern können, ohne jede Aussicht, ihn jemals ganz zu erreichen. Und noch etwas kommt erschwerend hinzu: Älter werden wir von allein - reifer nicht. Reifen ist mit anderen Worten mit Anstrengung verbunden.

Die wiederum braucht Motivation. Von Antoine de St. Exupéry stammt dazu ein schönes Bild: Will man Schiffe bauen, nützt es nichts, den Leuten zu befehlen, sie sollten Bäume fällen und den Hammer schwingen. Viel wirksamer ist es, "ihnen die Sehnsucht nach dem offenen Meer zu lehren" - ihnen also eine Vision zu geben. Eine solche lässt sich auch für ein reifes Land entwickeln:

Das reife Land - eine Vision in zehn Szenarios

Szenario 1: Gelassenheit

In diesem Land navigiert man mit Gelassenheit im Strom der Zeit. Geschwindigkeit ist nicht alles. Gerade in hektischen Zeiten sind Ruhe und Musse wichtig. Neu gilt nicht als automatisch besser. Devise: Geduld bringt Rosen.

Szenario 2: Weisheit

Der zentrale Leitwert in diesem Land heisst Weisheit. Geld wird nicht mehr als Selbstzweck gesehen. Sinn-Fragen sind wichtig. Es blüht die Kunst, in Freiheit und Eigenverantwortung ein geglücktes Leben zu führen. Devise: Die wichtigsten Dinge im Leben sind gleichzeitig die einfachsten und die herausforderndsten.

Szenario 3: Erfahrung

In diesem Land wird das aus Erfahrung gewonnene Wissen hoch geachtet. Die Erfahrungen von Menschen im reiferen Alter werden überall genutzt: in den Unternehmen, in Schulen und Bildungseinrichtungen, in Politik, Kultur und Zivilgesellschaft. Devise: Aus Erfahrung wird man klug.

Szenario 4: Massqualität

Nicht "immer mehr" zählt in diesem Land, sondern "immer besser". Weniger ist oft mehr. Qualität ist wesentlich eine Frage des richtigen Masses. Es blüht eine Kultur der massvollen Einfachheit. Devise: Reduce to the Max.

Szenario 5: Mediation

In diesem Land blühen die sozialen Tugenden wie Solidarität, Toleranz, Respekt und Einfühlungsvermögen. Leben und leben lassen. Hoch entwickelt sind auch die sozialen Kompetenzen. Konflikte löst man nicht im faulen Kompromiss, sondern mit allseitig akzeptierten kreativen Ansätzen nach dem Prinzip der Mediation. Devise: Man muss halt reden miteinander.

Szenario 6: Gemischtes Doppel

In diesem Land kämpfen die Generationen nicht gegeneinander, sondern spielen gemischtes Doppel. Wenn sich jugendliche Innovationskraft und reife Abgeklärtheit kreativ mischen, geht es allen am besten. Devise: Alle waren mal jung, und alle werden mal älter.

Szenario 7: Selbst-Bewusstsein

In diesem Land wächst Selbstbewusstsein aus Selbst-Bewusstsein. Man kennt sich und seine Möglichkeiten und Grenzen, weiss, was man will und was einem gut tut, will nicht mehr scheinen als sein. Gesundes Selbstvertrauen ohne Überheblichkeit ist die Frucht dieser Souveränität. Devise: Erkenne Dich selbst.

Szenario 8: Standfeste Öffnung

In diesem Land bedeutet standfeste Öffnung, in sich selbst zu ruhen, um offen auf andere zugehen zu können. Heimat und Welt sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Devise: Nur fest verwurzelte Bäume wachsen in den Himmel.

Szenario 9: Zufriedenheit

In diesem Land ist die vorherrschende Stimmung Zufriedenheit. Man akzeptiert wirtschaftliche Sättigungstendenzen auf hohem Niveau. Man will nicht immer mehr, konzentriert sich stattdessen auf das Wesentliche. Devise: Zufriedenheit kommt von innen.

Szenario 10: Evolution

In diesem Land ist Reife kein Endzustand, dafür Reifung ständige Evolution. Die Individuen und das Land entwickeln sich weiter, nicht nur, um sich anzupassen, sondern auch aus eigenem kreativem Antrieb. Lernen steht überall hoch im Kurs. Devise: Nur wer sich wandelt, kann sich treu bleiben.

Eine Vision ist die Schnittstelle zwischen wünschbarer und denkbarer Zukunft. Wünschbar sind die zehn Szenarios und die Vision eines reifen Landes als Ganzes ohne Zweifel für jedes europäische Land. Auch und gerade in der Schweiz liesse sich darüber sicher nicht unbedingt einhellige, aber doch eine eindeutige Übereinstimmung erzielen.

Die andere Frage ist, wie wahrscheinlich die Realisierung der Vision von der Schweiz als reifem europäischem Land ist. Der Blick in die jüngere Vergangenheit stimmt nicht eben hoffnungsfroh. Statt etwa die gereifte Kultur der Mediation zu pflegen und weiter zu entwickeln, sind auch hier zu Lande ideologische Grabenkämpfe ausgebrochen. Sich, in welchem Lager auch immer, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu glauben, entspricht in der menschlichen Entwicklung eher der Pubertät als dem Reifestadium. Dasselbe gilt für die Überzeugung, es gäbe für eine komplexe Welt simple Rezepte.

Doch Reifungsprozesse verlaufen nun mal nicht linear, es gibt in ihnen auch immer Lernschlaufen und Rückschritte. Auch wenn die Schweiz im letzten Jahrzehnt wenig gereift sein mag, so bedeutet das noch lange nicht, dass es im nächsten Jahrzehnt und darüber hinaus so bleiben muss. Die Schweiz ist kein reifes Land, aber sie kann ein reifendes Land bleiben, sein und werden.

Und sie kann, bei aller Selbstgenügsamkeit, die durchaus ein Zeichen von Reife sein kann, damit ansteckend wirken. Sie kann ihre eigenen Erfahrungen beim europäischen Reifungsprozess einbringen. Das verächtlich so genannte "alte" Europa, zu dem die Schweiz unzweifelhaft gehört, ist daran, aus Alter Reife zu machen. Zu diesem Europäischen Traum kann der Schweizerische Traum einen kleinen, aber feinen Beitrag leisten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

 

 

 

Dieser Text ist bisher ausser hier bisher nicht publiziert worden. Falls Sie daran interessiert sind, ihn in Ihrem Medium abzudrucken, schreiben Sie mir einfach ein Mail.

 

Ob die Thesen von Jeremy Rifkin über den Europäischen Traum wirklich stimmen, können Sie jetzt mitentscheiden. Mehr dazu hier. (Bis Ende Januar 2005)