Gigerheimat: Worte
Europa reift I

 

Europa reift

Ein Essay zur Frage, warum es sich lohnt, in Europa zu leben

Der verbale Keulenschlag war vernichtend: das alte Europa. Wer alt sagt, kann noch immer mit einer Kettenreaktion von negativen Assoziationen rechnen: tattertig, schwach, zahnlos, unbeweglich, starr, vergreist.

Den Grauen Panthern gleich erhob sich dieses alte Europa daraufhin auf die Hinterbeine und verkündete: »Hallo, wir leben noch und sind voll im Saft !« Einer seiner leibhaftigtsten Vertreter, Sir Peter Ustinov, kehrte den Spiess süffisant um und fragte nach dem Alter von Bush, der nach eigenen Angaben mit vierzig anlässlich eines Erweckungserlebnisses neu geboren worden sei. Jetzt sei er 54, also rechne...

An der Beschreibung der jetzigen amerikanischen Regierung als einem Haufen pubertierender Jungs und Mädels ist natürlich einiges dran. Doch es geziemt dem Älteren, dem Jüngeren nicht sein mangelndes Alter vorzuwerfen, zumal dann, wenn der Jüngere gerade in einen Ausbruch ungestümer Kraft verstrickt ist, die keine Sekunde nach den Folgen fragt. Klüger ist in solchen Momenten allemal, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen.

Zu deren nicht geringster gehört jenes Phänomen, das durchaus existiert, wenn man es nicht gerade im dümmsten Zusammenhang zitiert: die Gnade der späten Geburt. In einer Entwicklungsphase Europas leben zu können, in der die Zeiten des schlimmsten Sturm und Drangs vorbei sind, ist ein Privileg des Alters dieses Kontinents, das wie im richtigen Leben unverdient ist, weil keiner edlen Eigenleistung zu verdanken. Wenn alle Hörner abgestossen sind, stellt sich Einsicht manchmal schlicht aus Erschöpfung ein.

Mit dem Alter reift die Einsicht: Ob ein Geschenk "verdient" ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist einzig, was man damit macht. Womit sich die Frage stellt: Was machen wir im guten alten Europa mit dem Geschenk unseres stattlichen Alters ?

Eine vertiefte Diskussion wird sich wohl kaum vermeiden lassen, sind wir doch in Europa noch in einem zweiten Sinne alt. Die älter werdende Gesellschaft ist zwar ein globales Phänomen, doch nirgends so ausgeprägt und schnell zu finden wie in Europa, von Japan mal abgesehen. Eine von Versorgungsängsten aufgeschreckte Öffentlichkeit realisiert derzeit, spät genug, dass diese harmlos "demografisch" genannte Entwicklung nicht ohne ist.

Nicht ohne Reiz übrigens auch, doch dieses Bewusstsein ist noch weit davon entfernt, als öffentlich bezeichnet werden zu können. Solange die prognostizierten Zuwachsraten bei den Rentenkosten und Pflegebetten in die Höhe schiessen wie hoch aufragende Steilwände, ist der Blick auf die attraktiven Landschaften einer reifen Gesellschaft versperrt, der sich jenseits der bei näherem Zusehen durchaus zu bewältigenden Problembrocken den Eingeweihten schon heute eröffnet.

Raunend noch reift sie heran, die Renaissance eines unscheinbaren Wortes: reif. Dass Reife bei Käse und Wein, bei Äpfeln und Tomaten, ein Qualitätsmerkmal bedeutet, haben wir im Zuge eines selbst auferlegten Erziehungsprogramms zur kulinarischen Kultur mittlerweile gelernt, doch das hindert uns nicht daran, eine Bezeichnung wie die "reiferen Jahrgänge" als eine jener vielen Nettigkeiten zu verwenden, mit denen wir unangenehmere Tatbestände gerne überspielen, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, ob Reife nicht auch bei Menschen oder gar bei Gesellschaften und ihren Teilen für höchste Qualität stehen könnte.

In einer vom sanften Jugendlichkeitswahn ergriffenen Gesellschaft wirkt jemand jenseits der Fünfzig, der solche Fragen stellt, wie der personifizierte Beweis dafür, dass die Alten nicht mehr ganz dicht sind. Gäbe es jedoch eine Marktforschung für Begriffe, so müsste man auf Grund nüchterner Überlegungen zum Schluss kommen, Reife hätte ein grosse Zukunft.

Und zwar ganz einfach, weil der Markt wächst. Der Markt wofür ? Für Identität und Sinn im dritten Lebensalter. Auch wenn das längst das fünfte oder neunte geworden ist. Um die Verwirrung aufzulösen, genügt ein kurzer Blick zurück. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als in der Schweiz die allgemeine staatliche Rente eingeführt wurde, hatte jemand, der mit 65 aufhören konnte zu arbeiten, im Schnitt noch zwei Jahre Zeit, sich seines Ruhestandes zu erfreuen. Da war es leicht, Identität ("ich bin Rentner") und Sinn ("ich verzehre mein verdientes Gnadenbrot") zu finden.

Heute dagegen dauert diese Phase im Schnitt zwei Jahrzehnte. Däumchen drehen irgendwo im Niemandsland reicht da nicht mehr, um das Identitäts- und Sinn-Vakuum zu füllen. Deshalb sind die aktiven Alten längst Realität, und sie werden in Zukunft dank ihrer auch finanziell unterfütterten Nachfrage so manche Branche vor dem Absturz retten.

Doch wenn es Jugendlichen noch leicht gelingt, Identität und Sinn im Konsum zu finden, so fällt dies im Alter immer schwerer, und seien die konsumierten Kultur- und Bildungsgüter noch so hochklassig. Und selbst die teuersten Skalpelle und Tinkturen dieser Welt ändern nichts an der Tatsache, dass wir weiterhin unablässig älter werden.

Das ist nur so lange eine schlechte Nachricht, bis wir aus der angeblichen Not eine Tugend gemacht haben: Ich werde älter und habe damit die Chance, zu reifen, immer reifer zu werden, auch wenn ich den Zustand vollständiger Reife nie erleben werde. Diese, es sei betont, frei wählbare Interpretation einer unabänderlichen Tatsache zeitigt erst noch eine angenehme Nebenwirkung. Sie stiftet Identität und Sinn: Ich reife - also bin ich.

Diese Sicht der Dinge hat gegenüber dem blossen Ächzen unter der Last des Alters dieselben Vorteile wie ein reifer gegenüber einem unreifen Apfel: Sie schmeckt einfach besser. Und ist erst noch gesünder. Solche Produktvorteile pflegen sich im Allgemeinen durchzusetzen. Wenn auch nicht immer sofort. Auch für die reife Interpretation des älter Werdens sind die Markteintrittsschranken hoch. Zu sehr dominiert der bisherige Marktführer des klassischen, ganz auf Defiziten und Abbau aufgebauten Altersbildes. Nur eben: Längerfristig gesehen setzt sich Qualität immer durch.

Vor allem dann, wenn es um Lebensqualität geht, ein Wort, an dem man sieht, dass auch Begriffe reifen können. Es müssen die frühen Siebziger des letzten Jahrhunderts gewesen sein, als die Brandt-Sozis die frohe Botschaft verkündeten: »Wir bringen Euch mehr Lebensqualität !« Und weil alles Gute vom Staate kommt, glaubten ihnen die Bürger - ein Weilchen.

»Halt !«, sagten da die Wissenschaftler, »wir müssen erst mal messen, was Lebensqualität is«´. Und so ermittelten sie emsig die statistischen Zusammenhänge zwischen der Zahl der Tagtraumkröten pro Quadratmeter und der Lebensqualität der Eingeborenen. Wobei sie übersahen, dass der einen sin Uhl dem anderen sin Nachtigall ist, und standardisierte Lebensqualität somit so sinnvoll wie einheitliche Körbchengrössen.

Womit man mal wieder sehen kann, dass Alter tatsächlich nicht vor Torheit schützt. Da hat unser gutes altes Europa doch mühsam genug, aber letztlich erfolgreich gelernt, dass es nur eine Instanz gibt, die kompetent darüber entscheiden kann, was einem schmeckt, nämlich der eigene Geschmack. Der Nachbar trinkt lieber australischen Wein ? Soll mir recht sein, solange er mich in Ruhe meinen chilenischen schlürfen lässt.

Lebensqualität als Privatsache zu betrachten, ist eine reife Haltung, wenn auch nur in Kombination mit Eigenverantwortung. Und genau diese Kombination schaffte es in einer Trendstudie im deutschsprachigen Raum auf die beiden Spitzenplätze der Hitparade der heissen Werte von morgen. Erste Anzeichen für ein Beben im Untergrund der Wertelandschaften ?

Wohl eher für evolutionäre Tendenzen. Fest steht: Wertewandel ist die logische Konsequenz einer älter werdenden Gesellschaft, im schlechtesten Fall in Richtung eines eisigen Altersstarrsinns, im besten in Richtung Reife. Die richtige Weichenstellung für diesen Wertewandel klappt nur unter einer Bedingung: wenn Reife mehr ist als ein Wort.

Ist es. Auf der Suche nach dem grössten gemeinsamen Nenner in der geistigen und kulturellen Tradition Europas bei der Frage, wie ein geglücktes Leben zu erreichen sei, findet sich bei aller Unterschiedlichkeit eine Antwort: Werde reif ! Lebens-Kunst ist die Kunst des Reifens. Reife als Leitbild ist die Quintessenz langer europäischer Lernprozesse. Es ist kein Zufall, dass die klassische europäische Philosophie derzeit quer durch Europa eine neue Blüte in Form gehobener Lebensberatungs-Kolumnen in Druckwerken für die geistige Elite erlebt. Und dass auch dabei die angebotenen Empfehlungen wieder auf dieselbe Botschaft hinauslaufen: Reife !

Weil das Wort selber allerdings während geraumer Zeit ein abgeschiedenes Nischendasein weitab aller sprachlichen Modeströmungen gefristet hat, sind seine, die vielen Facetten guter alter europäischer Lebens-Kunst bündelnden Inhalte etwas in Vergessenheit geraten. So wirkt das Wort Reife für die meisten zunächst auf eher diffuse Weise sympathisch, von den üblichen Bedenkenträgern mal abgesehen, die sofort an Überreife denken. Die kann je eventuell folgen, und ganz sicher endet auch die schönste Reife einmal, doch ist es sowohl intellektuell als auch ästhetisch unbefriedigend, sein ganzes Augenmerk darauf zu richten, statt aus der Phase der Reife das Beste zu machen, wozu auch gehört, sie nicht immer, aber immer öfter zu geniessen.

Die diffuse Sympathie, mit der die Mehrheit dem Wort Reife zunächst begegnet, verwandelt sich in rauschenden Beifall, wenn an die Inhalte des Begriffs erinnert wird. Dies zeigt eine Studie, bei der es nicht um individuelle Lebens-Kunst ging, sondern um die Kunst des Zusammenlebens in einem reifen Land.

Auch wenn die Vorstellung von Reife als Leitbild für die persönliche Entwicklung langsam, aber sicher nicht nur akzeptabel, sondern attraktiv wird, so wirkt doch die Idee eines reifen Landes zunächst etwas irritierend. Kann auch eine menschliche Gemeinschaft reifen ? Sie kann. Ein Begriff wie "reife Beziehung" wird nicht nur von Paartherapeuten immer selbstverständlicher verwendet. Und was ist ein Land anderes als ein komplexes Geflecht von Beziehungen ?

Dennoch gab es für die Idee eines reifen Landes zunächst auch nur diffuse Sympathie, konkret einen Wert von rund sechs auf einer Skala von eins bis zehn. Dann wurden zehn Szenarios eines reifen Landes wie folgt beschrieben:

Szenario 1 Gelassenheit

In diesem Land navigiert man mit Gelassenheit im Strom der Zeit. Geschwindigkeit ist nicht alles. Gerade in hektischen Zeiten sind Ruhe und Musse wichtig. Neu gilt nicht als automatisch besser. Geduld bringt Rosen.

Szenario 2 Weisheit

Der zentrale Leitwert in diesem Land heisst Weisheit. Geld wird nicht mehr als Selbstzweck gesehen. Sinn-Fragen sind wichtig. Es blüht die Kunst, in Freiheit und Eigenverantwortung ein geglücktes Leben zu führen. Die wichtigsten Dinge im Leben sind gleichzeitig die einfachsten und die herausforderndsten.

Szenario 3 Erfahrung

In diesem Land wird das aus Erfahrung gewonnene Wissen hoch geachtet. Die Erfahrungen von Menschen im reiferen Alter werden überall genutzt: in den Unternehmen, in Schulen und Bildungseinrichtungen, in Politik, Kultur und Zivilgesellschaft. Aus Erfahrung wird man klug.

Szenario 4 Massqualität

Nicht "immer mehr" zählt in diesem Land, sondern "immer besser". Weniger ist oft mehr. Qualität ist wesentlich eine Frage des richtigen Masses. Es blüht eine Kultur der massvollen Einfachheit. Reduce to the Max.

Szenario 5 Mediation

In diesem Land blühen die sozialen Tugenden wie Solidarität, Toleranz, Respekt und Einfühlungsvermögen. Leben und leben lassen. Hoch entwickelt sind auch die sozialen Kompetenzen. Konflikte löst man nicht im faulen Kompromiss, sondern mit allseitig akzeptierten kreativen Ansätzen nach dem Prinzip der Mediation. Man muss halt reden miteinander.

Szenario 6 Gemischtes Doppel

In diesem Land kämpfen die Generationen nicht gegeneinander, sondern spielen gemischtes Doppel. Wenn sich jugendliche Innovationskraft und reife Abgeklärtheit kreativ mischen, geht es allen am besten. Alle waren mal jung, und alle werden mal älter.

Szenario 7 Selbst-Bewusstsein

In diesem Land wächst Selbstbewusstsein aus Selbst-Bewusstsein. Man kennt sich und seine Möglichkeiten und Grenzen, weiss, was man will und was einem gut tut, will nicht mehr scheinen als sein. Gesundes Selbstvertrauen ohne Überheblichkeit ist die Frucht dieser Souveränität. Erkenne Dich selbst.

Szenario 8 Standfeste Öffnung

In diesem Land bedeutet standfeste Öffnung, in sich selbst zu ruhen, um offen auf andere zugehen zu können. Heimat und Welt sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Nur fest verwurzelte Bäume wachsen in den Himmel.

Szenario 9 Zufriedenheit

In diesem Land ist die vorherrschende Stimmung Zufriedenheit. Man akzeptiert wirtschaftliche Sättigungstendenzen auf hohem Niveau. Man will nicht immer mehr, konzentriert sich stattdessen auf das Wesentliche. Zufriedenheit kommt von innen.

Szenario 10 Evolution

In diesem Land ist Reife kein Endzustand. Reifung ist ständige Evolution. Die Individuen und das Land entwickeln sich weiter, um sich anzupassen, und aus eigenem kreativem Antrieb. Lernen steht überall hoch im Kurs. Nur wer sich wandelt, kann sich treu bleiben.

Jedes einzelne dieser Szenarios erzielte Attraktivitätswerte von über acht, und auch die Gesammtzustimmung zur Idee eines reifen Landes stieg in diese schwindelerregenden Höhen. Wer also nach attraktiven und weitgehend auf einem Konsens der Werte beruhenden Visionen ruft, wird hier fündig. Die Frage ist nur, ob die Zeit schon reif ist für eine Entdeckung dieses offenkundigen Potenzials...

Die Idee, dass sich eine Gesellschaft selber dazu motiviert, sich weiter zu entwickeln, indem sie Reife zum Leitstern dieses Prozesses erhebt, ist visionär, denn sie erfüllt die Anforderung an eine wirksame Vision, Schnittstelle von wünschbarer und denkbarer Zukunft zu sein, anders als etwa die utopische Idee, aus einem Frosch einen Prinzen zu machen.

Wohlverstanden: In Sachen Reifung von Gesellschaften ist hier zu Lande ein starker Anfang gemacht. Mehr nicht. Der Abstand zwischen dem erreichten und dem möglichen Reifegrad ist noch beträchtlich. Das sagen die Befragten der erwähnten Studie über die Schweiz. Und das bestätigt der Augenschein dortselbst ebenso wie überall in europäischen Landen. Es gibt noch einiges zu reifen, bis wir die Szenarios einer reifen Gesellschaft auch nur annähernd realisieren.

Ein starker Anfang ist auf der anderen Seite nicht zu verachten. Er motiviert zum weiter Gehen. Als meine Grossmutter einst eine lange Marschstrecke in ihrem Bergtal vor sich hatte, bekam sie den reifen Rat: »Denk nicht an die noch vor dir liegende Strecke. Nimm dir einfach vor, bis zum nächsten Dorf zu gehen. Dort angekommen, schau darauf zurück, was du schon geschafft hast, und dann geh weiter.«

Unser altes Europa hat dieses erste Dorf erreicht, und auch das zweite und dritte. Es hat dabei erfahren, dass Reifungsprozesse manchmal einen schrecklichen Preis erfordern, und es hat gelernt, die Erinnerung daran nicht zu verdrängen. Im berechtigten Bemühen darum wird der Blick zurück manchmal etwas einseitig. Denn das, was Europa im Laufe seines Reifungsprozesses innerhalb weniger Jahrzehnte erreicht hat, ist eine reife Leistung.

Europas Entwicklung hat den empirischen Beweis für die reale Möglichkeit einiger bemerkenswerter Errungenschaften erbracht, die zuvor nur als Hypothesen denkbar waren: Individualisten können friedlich auch auf engem Raum zusammenleben. Es ist möglich, dass jede und jeder nach ihrer und seiner Façon selig wird. Freiheit in Eigenverantwortung ist mehr als ein Schlagwort. Vielfalt schafft Chaos und wirkt dadurch befruchtend.

Das sind gute Voraussetzungen für eine erspriessliche Lebensqualität. Und kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen. Raum und Zeit für weitere Reifung gibt es immer, und einfach darauf zu warten, dass wir von selber weiter reifen, als Einzelne wie als Gesellschaft, bringt es nicht, denn älter werden wir von selbst, reifer nicht.

Ein nicht ganz unbedeutendes Element einer reifen Lebenshaltung ist es, das zu schätzen, was man hat, und nicht Unerreichbarem hinterher zu trauern. Zu diesem für Europa auf absehbare Zeit hinaus Unerreichbaren gehört jene Dynamik, jenes Entwicklungstempo, die derzeit in weiten Teilen Asiens zu finden sind. Wer darauf (be-)steht, wird sich dorthin bemühen müssen. Eine gemächlichere Gangart wird zu Europas Markenzeichen. Denn letztlich wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass eine gewisse Entschleunigung auf der persönlichen wie der gesellschaftlichen Ebene niemandem schadet. Im Gegenteil.

Damit wird Europa auch entspannter die grosse Herausforderung angehen können: Wie hält man eine Wirtschaft und Gesellschaft am Laufen, wenn es eigentlich nur noch ein vernünftiges Ziel geben kann, nämlich zufriedene Sättigung auf hohem Niveau ? Ebenso, wie die heutige und künftige Generationverteilung kein historisches Vorbild hat, gibt es für das Modell einer dynamischen Stagnation auf hohem Niveau keine Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen könnten. Umso reizvoller ist die Herausforderung, dabei eine wirklich reife Leistung abzuliefern.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet jenes Land, in dem sich die europäische Tendenz zu reifen, früher und ausgeprägter zeigte als anderswo, beim institutionellen Reifungsprozess Europas abseits steht. Auch die Schweiz ist von voll verwirklichter Reife natürlich noch weit entfernt, doch sie bietet in vielen Bereichen hübschen Anschauungsunterricht dafür, was den Reiz einer reifen Gesellschaft ausmachen könnte.

Nicht nur, weil sie mit dem Szenario einer Sättigung auf hohem Niveau bereits seit Jahren als Realität lebt. Und nicht nur, weil Gemächlichkeit seit Alters her ihren Umgang mit der Zeit prägt. Und auch nicht nur, weil sie vorgemacht hat, dass es eine reife Strategie der Positionierung im globalen Umfeld sein kann, seine Nische zu finden und es sich gut einzurichten, ohne dabei den lebensnotwendigen Austausch mit der Umwelt zu vernachlässigen.

Das klingt nicht nur nach Selbstgenügsamkeit, das ist dieselbige. Die Erkenntnis, dass es seine entschiedenen Vorteile hat, sich selbst genug zu sein, ist eine Frucht des spezifisch schweizerischen Reifungsprozesses. Und, bei näherer Betrachtung, natürlich auch des europäischen. Beim Blick aus der Schweiz noch Brüssel fallen die Ähnlichkeiten mit helvetischen Verhältnissen ins Auge. Da wird eine Menge Energie dafür aufgewendet, die Binnenverhältnisse zwischen reichlich ungleichen Partnern zu organisieren, und diese Energie fehlt dann ganz einfach, wenn es darum geht, nach aussen zu agieren.

Das ist, mit Verlaub gesagt, nur für jene erschröcklich, die in jugendlichem Überschwang und Übermut davon träumen, sie könnten die ganze Welt aufräumen. Bevor sie bei sich zu Hause aufgeräumt haben. Die reiferen Jahrgänge haben gelernt, dass es angemessener ist, sich auf jene Bereich zu konzentrieren, in denen man etwas tun kann, also primär auf die internen.

Da ist die Schweiz in ihrem Reifungsprozess dem übrigen Europa tatsächlich vorangegangen. Sie hat dabei gelernt, wie es geht, die unterschiedlichsten Schweizen friedlich unter dem Dach der einen Schweiz zusammenleben zu lassen: Indem man sich von der Illusion verabschiedet, man müssen unbedingt zusammen leben. Und statt dessen die Kunst pflegt, nebeneinander zu leben.

Während Europa noch immer den Mythos vom friedlichen und gedeihlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Sprachgruppen nach Schweizer Muster träumt, hat die Schweiz intern längst still und heimlich eine hochstehende pragmatische Kultur des Nebeneinanderlebens entwickelt: So viel Austausch wie nötig und so viel Eigenständigkeit wie möglich. Dass solche An- und Abgrenzungen natürlich nie endgültig geregelt sein können, sondern stetiger Auseinandersetzungen bedürfen, hält die Schweiz jung. Auch im reifen Alter.

Auch hier ist die Ähnlichkeit mit Europa unübersehbar. Die jugendlichem Leichtsinn verzeihbare Idee, aus Europa eine weitgehend einheitlich funktionierende Gesellschaft nach dem Vorbild der USA zu machen, ist längst dem diesmal wirklich gesunden Ehrgeiz gewichen, ein einigermassen funktionierendes, aber auf jeden Fall friedliches Nebeneinanderleben von Ländern, Völkern, Regionen, Religionen und Kulturen zu organisieren. Realistische Ziele anzupeilen und die Kräfte darauf zu konzentrieren, ist ein Ausweis von Reife.

Reif ist es übrigen auch, wie die EU als institutionelles Europa und die paar abseits stehenden Exoten wie Norwegen, Liechtenstein oder die Schweiz miteinander umgehen. Reif ist es, wenn sich diese Exoten ernsthaft fragen, ob ihnen ein Beitritt wirklich frommt - was nie zu eindeutigen Antworten führen wird. Und reif ist es, wenn die EU sich zwar wundert, warum diese Exoten auf keinen Fall bei jenen Entscheiden mitreden wollen, die sie in den meisten Fällen doch massiv betreffen, sich ansonsten aber für Arrangements aller Art offen hält.

Dieses Leben und leben Lassen, das sich je länger je mehr in das europäische Betriebssystem einnistet, ist nur einer von vielen Gründen, die dafür sprechen, es sei das Beste, in einer Gesellschaft zu leben, die schon ein ordentliches Stück weit gereift ist und weiter reift. Es lebt sich dort einfach angenehmer, freier, sicherer, entspannter, wohler, wärmer. Und vor allem gibt es dort mehr Raum für die eigene persönliche Reifung.

 

 

 

Und wieder ein paar Bilder, die zur selben Zeit entstanden sind wie der Text


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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