Europa reift
Ein Essay zur Frage, warum es sich lohnt, in
Europa zu leben
Der verbale Keulenschlag war vernichtend: das alte
Europa. Wer alt sagt, kann noch immer mit einer Kettenreaktion von
negativen Assoziationen rechnen: tattertig, schwach, zahnlos, unbeweglich,
starr, vergreist.
Den Grauen Panthern gleich erhob sich dieses alte
Europa daraufhin auf die Hinterbeine und verkündete: »Hallo,
wir leben noch und sind voll im Saft !« Einer seiner leibhaftigtsten
Vertreter, Sir Peter Ustinov, kehrte den Spiess süffisant um und
fragte nach dem Alter von Bush, der nach eigenen Angaben mit vierzig
anlässlich eines Erweckungserlebnisses neu geboren worden sei.
Jetzt sei er 54, also rechne...
An der Beschreibung der jetzigen amerikanischen
Regierung als einem Haufen pubertierender Jungs und Mädels ist
natürlich einiges dran. Doch es geziemt dem Älteren, dem Jüngeren
nicht sein mangelndes Alter vorzuwerfen, zumal dann, wenn der Jüngere
gerade in einen Ausbruch ungestümer Kraft verstrickt ist, die keine
Sekunde nach den Folgen fragt. Klüger ist in solchen Momenten allemal,
sich auf die eigenen Stärken zu besinnen.
Zu deren nicht geringster gehört jenes Phänomen,
das durchaus existiert, wenn man es nicht gerade im dümmsten Zusammenhang
zitiert: die Gnade der späten Geburt. In einer Entwicklungsphase
Europas leben zu können, in der die Zeiten des schlimmsten Sturm
und Drangs vorbei sind, ist ein Privileg des Alters dieses Kontinents,
das wie im richtigen Leben unverdient ist, weil keiner edlen Eigenleistung
zu verdanken. Wenn alle Hörner abgestossen sind, stellt sich Einsicht
manchmal schlicht aus Erschöpfung ein.
Mit dem Alter reift die Einsicht: Ob ein Geschenk
"verdient" ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist einzig, was man
damit macht. Womit sich die Frage stellt: Was machen wir im guten alten
Europa mit dem Geschenk unseres stattlichen Alters ?
Eine vertiefte Diskussion wird sich wohl kaum vermeiden
lassen, sind wir doch in Europa noch in einem zweiten Sinne alt. Die
älter werdende Gesellschaft ist zwar ein globales Phänomen,
doch nirgends so ausgeprägt und schnell zu finden wie in Europa,
von Japan mal abgesehen. Eine von Versorgungsängsten aufgeschreckte
Öffentlichkeit realisiert derzeit, spät genug, dass diese
harmlos "demografisch" genannte Entwicklung nicht ohne ist.
Nicht ohne Reiz übrigens auch, doch dieses
Bewusstsein ist noch weit davon entfernt, als öffentlich bezeichnet
werden zu können. Solange die prognostizierten Zuwachsraten bei
den Rentenkosten und Pflegebetten in die Höhe schiessen wie hoch
aufragende Steilwände, ist der Blick auf die attraktiven Landschaften
einer reifen Gesellschaft versperrt, der sich jenseits der bei näherem
Zusehen durchaus zu bewältigenden Problembrocken den Eingeweihten
schon heute eröffnet.
Raunend noch reift sie heran, die Renaissance eines
unscheinbaren Wortes: reif. Dass Reife bei Käse und Wein, bei Äpfeln
und Tomaten, ein Qualitätsmerkmal bedeutet, haben wir im Zuge eines
selbst auferlegten Erziehungsprogramms zur kulinarischen Kultur mittlerweile
gelernt, doch das hindert uns nicht daran, eine Bezeichnung wie die
"reiferen Jahrgänge" als eine jener vielen Nettigkeiten zu verwenden,
mit denen wir unangenehmere Tatbestände gerne überspielen,
ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, ob Reife nicht auch bei
Menschen oder gar bei Gesellschaften und ihren Teilen für höchste
Qualität stehen könnte.
In einer vom sanften Jugendlichkeitswahn ergriffenen
Gesellschaft wirkt jemand jenseits der Fünfzig, der solche Fragen
stellt, wie der personifizierte Beweis dafür, dass die Alten nicht
mehr ganz dicht sind. Gäbe es jedoch eine Marktforschung für
Begriffe, so müsste man auf Grund nüchterner Überlegungen
zum Schluss kommen, Reife hätte ein grosse Zukunft.
Und zwar ganz einfach, weil der Markt wächst.
Der Markt wofür ? Für Identität und Sinn im dritten Lebensalter.
Auch wenn das längst das fünfte oder neunte geworden ist.
Um die Verwirrung aufzulösen, genügt ein kurzer Blick zurück.
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als in der Schweiz die allgemeine
staatliche Rente eingeführt wurde, hatte jemand, der mit 65 aufhören
konnte zu arbeiten, im Schnitt noch zwei Jahre Zeit, sich seines Ruhestandes
zu erfreuen. Da war es leicht, Identität ("ich bin Rentner") und
Sinn ("ich verzehre mein verdientes Gnadenbrot") zu finden.
Heute dagegen dauert diese Phase im Schnitt zwei
Jahrzehnte. Däumchen drehen irgendwo im Niemandsland reicht da
nicht mehr, um das Identitäts- und Sinn-Vakuum zu füllen.
Deshalb sind die aktiven Alten längst Realität, und sie werden
in Zukunft dank ihrer auch finanziell unterfütterten Nachfrage
so manche Branche vor dem Absturz retten.
Doch wenn es Jugendlichen noch leicht gelingt, Identität
und Sinn im Konsum zu finden, so fällt dies im Alter immer schwerer,
und seien die konsumierten Kultur- und Bildungsgüter noch so hochklassig.
Und selbst die teuersten Skalpelle und Tinkturen dieser Welt ändern
nichts an der Tatsache, dass wir weiterhin unablässig älter
werden.
Das ist nur so lange eine schlechte Nachricht, bis
wir aus der angeblichen Not eine Tugend gemacht haben: Ich werde älter
und habe damit die Chance, zu reifen, immer reifer zu werden, auch wenn
ich den Zustand vollständiger Reife nie erleben werde. Diese, es
sei betont, frei wählbare Interpretation einer unabänderlichen
Tatsache zeitigt erst noch eine angenehme Nebenwirkung. Sie stiftet
Identität und Sinn: Ich reife - also bin ich.
Diese Sicht der Dinge hat gegenüber dem blossen
Ächzen unter der Last des Alters dieselben Vorteile wie ein reifer
gegenüber einem unreifen Apfel: Sie schmeckt einfach besser. Und
ist erst noch gesünder. Solche Produktvorteile pflegen sich im
Allgemeinen durchzusetzen. Wenn auch nicht immer sofort. Auch für
die reife Interpretation des älter Werdens sind die Markteintrittsschranken
hoch. Zu sehr dominiert der bisherige Marktführer des klassischen,
ganz auf Defiziten und Abbau aufgebauten Altersbildes. Nur eben: Längerfristig
gesehen setzt sich Qualität immer durch.
Vor allem dann, wenn es um Lebensqualität geht,
ein Wort, an dem man sieht, dass auch Begriffe reifen können. Es
müssen die frühen Siebziger des letzten Jahrhunderts gewesen
sein, als die Brandt-Sozis die frohe Botschaft verkündeten: »Wir
bringen Euch mehr Lebensqualität !« Und weil alles Gute vom
Staate kommt, glaubten ihnen die Bürger - ein Weilchen.
»Halt !«,
sagten da die Wissenschaftler, »wir müssen erst mal messen,
was Lebensqualität is«´. Und so ermittelten sie emsig
die statistischen Zusammenhänge zwischen der Zahl der Tagtraumkröten
pro Quadratmeter und der Lebensqualität der Eingeborenen. Wobei
sie übersahen, dass der einen sin Uhl dem anderen sin Nachtigall
ist, und standardisierte Lebensqualität somit so sinnvoll wie einheitliche
Körbchengrössen.
Womit man mal wieder sehen kann, dass Alter tatsächlich
nicht vor Torheit schützt. Da hat unser gutes altes Europa doch
mühsam genug, aber letztlich erfolgreich gelernt, dass es nur eine
Instanz gibt, die kompetent darüber entscheiden kann, was einem
schmeckt, nämlich der eigene Geschmack. Der Nachbar trinkt lieber
australischen Wein ? Soll mir recht sein, solange er mich in Ruhe meinen
chilenischen schlürfen lässt.
Lebensqualität als Privatsache zu betrachten,
ist eine reife Haltung, wenn auch nur in Kombination mit Eigenverantwortung.
Und genau diese Kombination schaffte es in einer Trendstudie im deutschsprachigen
Raum auf die beiden Spitzenplätze der Hitparade der heissen Werte
von morgen. Erste Anzeichen für ein Beben im Untergrund der Wertelandschaften
?
Wohl eher für evolutionäre Tendenzen.
Fest steht: Wertewandel ist die logische Konsequenz einer älter
werdenden Gesellschaft, im schlechtesten Fall in Richtung eines eisigen
Altersstarrsinns, im besten in Richtung Reife. Die richtige Weichenstellung
für diesen Wertewandel klappt nur unter einer Bedingung: wenn Reife
mehr ist als ein Wort.
Ist es. Auf der Suche nach dem grössten gemeinsamen
Nenner in der geistigen und kulturellen Tradition Europas bei der Frage,
wie ein geglücktes Leben zu erreichen sei, findet sich bei aller
Unterschiedlichkeit eine Antwort: Werde reif ! Lebens-Kunst ist
die Kunst des Reifens. Reife als Leitbild ist die Quintessenz langer
europäischer Lernprozesse. Es ist kein Zufall, dass die klassische
europäische Philosophie derzeit quer durch Europa eine neue Blüte
in Form gehobener Lebensberatungs-Kolumnen in Druckwerken für die
geistige Elite erlebt. Und dass auch dabei die angebotenen Empfehlungen
wieder auf dieselbe Botschaft hinauslaufen: Reife !
Weil das Wort selber allerdings während geraumer
Zeit ein abgeschiedenes Nischendasein weitab aller sprachlichen Modeströmungen
gefristet hat, sind seine, die vielen Facetten guter alter europäischer
Lebens-Kunst bündelnden Inhalte etwas in Vergessenheit geraten.
So wirkt das Wort Reife für die meisten zunächst auf eher
diffuse Weise sympathisch, von den üblichen Bedenkenträgern
mal abgesehen, die sofort an Überreife denken. Die kann je eventuell
folgen, und ganz sicher endet auch die schönste Reife einmal, doch
ist es sowohl intellektuell als auch ästhetisch unbefriedigend,
sein ganzes Augenmerk darauf zu richten, statt aus der Phase der Reife
das Beste zu machen, wozu auch gehört, sie nicht immer, aber immer
öfter zu geniessen.
Die diffuse Sympathie, mit der die Mehrheit dem
Wort Reife zunächst begegnet, verwandelt sich in rauschenden Beifall,
wenn an die Inhalte des Begriffs erinnert wird. Dies zeigt eine Studie,
bei der es nicht um individuelle Lebens-Kunst ging, sondern um die Kunst
des Zusammenlebens in einem reifen Land.
Auch wenn die Vorstellung von Reife als Leitbild
für die persönliche Entwicklung langsam, aber sicher nicht
nur akzeptabel, sondern attraktiv wird, so wirkt doch die Idee eines
reifen Landes zunächst etwas irritierend. Kann auch eine menschliche
Gemeinschaft reifen ? Sie kann. Ein Begriff wie "reife Beziehung" wird
nicht nur von Paartherapeuten immer selbstverständlicher verwendet.
Und was ist ein Land anderes als ein komplexes Geflecht von Beziehungen
?
Dennoch gab es für die Idee eines reifen Landes
zunächst auch nur diffuse Sympathie, konkret einen Wert von rund
sechs auf einer Skala von eins bis zehn. Dann wurden zehn Szenarios
eines reifen Landes wie folgt beschrieben:
Szenario 1 Gelassenheit
In diesem Land navigiert man mit Gelassenheit im
Strom der Zeit. Geschwindigkeit ist nicht alles. Gerade in hektischen
Zeiten sind Ruhe und Musse wichtig. Neu gilt nicht als automatisch besser.
Geduld bringt Rosen.
Szenario 2 Weisheit
Der zentrale Leitwert in diesem Land heisst Weisheit.
Geld wird nicht mehr als Selbstzweck gesehen. Sinn-Fragen sind wichtig.
Es blüht die Kunst, in Freiheit und Eigenverantwortung ein geglücktes
Leben zu führen. Die wichtigsten Dinge im Leben sind gleichzeitig
die einfachsten und die herausforderndsten.
Szenario 3 Erfahrung
In diesem Land wird das aus Erfahrung gewonnene
Wissen hoch geachtet. Die Erfahrungen von Menschen im reiferen Alter
werden überall genutzt: in den Unternehmen, in Schulen und Bildungseinrichtungen,
in Politik, Kultur und Zivilgesellschaft. Aus Erfahrung wird man
klug.
Szenario 4 Massqualität
Nicht "immer mehr" zählt in diesem Land, sondern
"immer besser". Weniger ist oft mehr. Qualität ist wesentlich eine
Frage des richtigen Masses. Es blüht eine Kultur der massvollen
Einfachheit. Reduce to the Max.
Szenario 5 Mediation
In diesem Land blühen die sozialen Tugenden
wie Solidarität, Toleranz, Respekt und Einfühlungsvermögen.
Leben und leben lassen. Hoch entwickelt sind auch die sozialen Kompetenzen.
Konflikte löst man nicht im faulen Kompromiss, sondern mit allseitig
akzeptierten kreativen Ansätzen nach dem Prinzip der Mediation.
Man muss halt reden miteinander.
Szenario 6 Gemischtes Doppel
In diesem Land kämpfen die Generationen nicht
gegeneinander, sondern spielen gemischtes Doppel. Wenn sich jugendliche
Innovationskraft und reife Abgeklärtheit kreativ mischen, geht
es allen am besten. Alle waren mal jung, und alle werden mal älter.
Szenario 7 Selbst-Bewusstsein
In diesem Land wächst Selbstbewusstsein aus
Selbst-Bewusstsein. Man kennt sich und seine Möglichkeiten und
Grenzen, weiss, was man will und was einem gut tut, will nicht mehr
scheinen als sein. Gesundes Selbstvertrauen ohne Überheblichkeit
ist die Frucht dieser Souveränität. Erkenne Dich selbst.
Szenario 8 Standfeste Öffnung
In diesem Land bedeutet standfeste Öffnung,
in sich selbst zu ruhen, um offen auf andere zugehen zu können.
Heimat und Welt sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig.
Nur fest verwurzelte Bäume wachsen in den Himmel.
Szenario 9 Zufriedenheit
In diesem Land ist die vorherrschende Stimmung Zufriedenheit.
Man akzeptiert wirtschaftliche Sättigungstendenzen auf hohem Niveau.
Man will nicht immer mehr, konzentriert sich stattdessen auf das Wesentliche.
Zufriedenheit kommt von innen.
Szenario 10 Evolution
In diesem Land ist Reife kein Endzustand. Reifung
ist ständige Evolution. Die Individuen und das Land entwickeln
sich weiter, um sich anzupassen, und aus eigenem kreativem Antrieb.
Lernen steht überall hoch im Kurs. Nur wer sich wandelt, kann
sich treu bleiben.
Jedes einzelne dieser Szenarios erzielte Attraktivitätswerte
von über acht, und auch die Gesammtzustimmung zur Idee eines reifen
Landes stieg in diese schwindelerregenden Höhen. Wer also nach
attraktiven und weitgehend auf einem Konsens der Werte beruhenden Visionen
ruft, wird hier fündig. Die Frage ist nur, ob die Zeit schon reif
ist für eine Entdeckung dieses offenkundigen Potenzials...
Die Idee, dass sich eine Gesellschaft selber dazu
motiviert, sich weiter zu entwickeln, indem sie Reife zum Leitstern
dieses Prozesses erhebt, ist visionär, denn sie erfüllt die
Anforderung an eine wirksame Vision, Schnittstelle von wünschbarer
und denkbarer Zukunft zu sein, anders als etwa die utopische
Idee, aus einem Frosch einen Prinzen zu machen.
Wohlverstanden: In Sachen Reifung von Gesellschaften
ist hier zu Lande ein starker Anfang gemacht. Mehr nicht. Der Abstand
zwischen dem erreichten und dem möglichen Reifegrad ist noch beträchtlich.
Das sagen die Befragten der erwähnten Studie über die Schweiz.
Und das bestätigt der Augenschein dortselbst ebenso wie überall
in europäischen Landen. Es gibt noch einiges zu reifen, bis wir
die Szenarios einer reifen Gesellschaft auch nur annähernd realisieren.
Ein starker Anfang ist auf der anderen Seite nicht
zu verachten. Er motiviert zum weiter Gehen. Als meine Grossmutter einst
eine lange Marschstrecke in ihrem Bergtal vor sich hatte, bekam sie
den reifen Rat: »Denk nicht an die noch vor dir liegende Strecke.
Nimm dir einfach vor, bis zum nächsten Dorf zu gehen. Dort angekommen,
schau darauf zurück, was du schon geschafft hast, und dann geh
weiter.«
Unser altes Europa hat dieses erste Dorf erreicht,
und auch das zweite und dritte. Es hat dabei erfahren, dass Reifungsprozesse
manchmal einen schrecklichen Preis erfordern, und es hat gelernt, die
Erinnerung daran nicht zu verdrängen. Im berechtigten Bemühen
darum wird der Blick zurück manchmal etwas einseitig. Denn das,
was Europa im Laufe seines Reifungsprozesses innerhalb weniger Jahrzehnte
erreicht hat, ist eine reife Leistung.
Europas Entwicklung hat den empirischen Beweis für
die reale Möglichkeit einiger bemerkenswerter Errungenschaften
erbracht, die zuvor nur als Hypothesen denkbar waren: Individualisten
können friedlich auch auf engem Raum zusammenleben. Es ist möglich,
dass jede und jeder nach ihrer und seiner Façon selig wird. Freiheit
in Eigenverantwortung ist mehr als ein Schlagwort. Vielfalt schafft
Chaos und wirkt dadurch befruchtend.
Das sind gute Voraussetzungen für eine erspriessliche
Lebensqualität. Und kein Grund, die Hände in den Schoss zu
legen. Raum und Zeit für weitere Reifung gibt es immer, und einfach
darauf zu warten, dass wir von selber weiter reifen, als Einzelne wie
als Gesellschaft, bringt es nicht, denn älter werden wir von selbst,
reifer nicht.
Ein nicht ganz unbedeutendes Element einer reifen
Lebenshaltung ist es, das zu schätzen, was man hat, und nicht Unerreichbarem
hinterher zu trauern. Zu diesem für Europa auf absehbare Zeit hinaus
Unerreichbaren gehört jene Dynamik, jenes Entwicklungstempo, die
derzeit in weiten Teilen Asiens zu finden sind. Wer darauf (be-)steht,
wird sich dorthin bemühen müssen. Eine gemächlichere
Gangart wird zu Europas Markenzeichen. Denn letztlich wird sich die
Erkenntnis durchsetzen, dass eine gewisse Entschleunigung auf der persönlichen
wie der gesellschaftlichen Ebene niemandem schadet. Im Gegenteil.
Damit wird Europa auch entspannter die grosse Herausforderung
angehen können: Wie hält man eine Wirtschaft und Gesellschaft
am Laufen, wenn es eigentlich nur noch ein vernünftiges Ziel geben
kann, nämlich zufriedene Sättigung auf hohem Niveau ? Ebenso,
wie die heutige und künftige Generationverteilung kein historisches
Vorbild hat, gibt es für das Modell einer dynamischen Stagnation
auf hohem Niveau keine Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen könnten.
Umso reizvoller ist die Herausforderung, dabei eine wirklich reife Leistung
abzuliefern.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet
jenes Land, in dem sich die europäische Tendenz zu reifen, früher
und ausgeprägter zeigte als anderswo, beim institutionellen Reifungsprozess
Europas abseits steht. Auch die Schweiz ist von voll verwirklichter
Reife natürlich noch weit entfernt, doch sie bietet in vielen Bereichen
hübschen Anschauungsunterricht dafür, was den Reiz einer reifen
Gesellschaft ausmachen könnte.
Nicht nur, weil sie mit dem Szenario einer Sättigung
auf hohem Niveau bereits seit Jahren als Realität lebt. Und nicht
nur, weil Gemächlichkeit seit Alters her ihren Umgang mit der Zeit
prägt. Und auch nicht nur, weil sie vorgemacht hat, dass es eine
reife Strategie der Positionierung im globalen Umfeld sein kann, seine
Nische zu finden und es sich gut einzurichten, ohne dabei den lebensnotwendigen
Austausch mit der Umwelt zu vernachlässigen.
Das klingt nicht nur nach Selbstgenügsamkeit,
das ist dieselbige. Die Erkenntnis, dass es seine entschiedenen Vorteile
hat, sich selbst genug zu sein, ist eine Frucht des spezifisch schweizerischen
Reifungsprozesses. Und, bei näherer Betrachtung, natürlich
auch des europäischen. Beim Blick aus der Schweiz noch Brüssel
fallen die Ähnlichkeiten mit helvetischen Verhältnissen ins
Auge. Da wird eine Menge Energie dafür aufgewendet, die Binnenverhältnisse
zwischen reichlich ungleichen Partnern zu organisieren, und diese Energie
fehlt dann ganz einfach, wenn es darum geht, nach aussen zu agieren.
Das ist, mit Verlaub gesagt, nur für jene erschröcklich,
die in jugendlichem Überschwang und Übermut davon träumen,
sie könnten die ganze Welt aufräumen. Bevor sie bei sich zu
Hause aufgeräumt haben. Die reiferen Jahrgänge haben gelernt,
dass es angemessener ist, sich auf jene Bereich zu konzentrieren, in
denen man etwas tun kann, also primär auf die internen.
Da ist die Schweiz in ihrem Reifungsprozess dem
übrigen Europa tatsächlich vorangegangen. Sie hat dabei gelernt,
wie es geht, die unterschiedlichsten Schweizen friedlich unter dem Dach
der einen Schweiz zusammenleben zu lassen: Indem man sich von der Illusion
verabschiedet, man müssen unbedingt zusammen leben. Und
statt dessen die Kunst pflegt, nebeneinander zu leben.
Während Europa noch immer den Mythos vom friedlichen
und gedeihlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Sprachgruppen
nach Schweizer Muster träumt, hat die Schweiz intern längst
still und heimlich eine hochstehende pragmatische Kultur des Nebeneinanderlebens
entwickelt: So viel Austausch wie nötig und so viel Eigenständigkeit
wie möglich. Dass solche An- und Abgrenzungen natürlich nie
endgültig geregelt sein können, sondern stetiger Auseinandersetzungen
bedürfen, hält die Schweiz jung. Auch im reifen Alter.
Auch hier ist die Ähnlichkeit mit Europa unübersehbar.
Die jugendlichem Leichtsinn verzeihbare Idee, aus Europa eine weitgehend
einheitlich funktionierende Gesellschaft nach dem Vorbild der USA zu
machen, ist längst dem diesmal wirklich gesunden Ehrgeiz gewichen,
ein einigermassen funktionierendes, aber auf jeden Fall friedliches
Nebeneinanderleben von Ländern, Völkern, Regionen, Religionen
und Kulturen zu organisieren. Realistische Ziele anzupeilen und die
Kräfte darauf zu konzentrieren, ist ein Ausweis von Reife.
Reif ist es übrigen auch, wie die EU als institutionelles
Europa und die paar abseits stehenden Exoten wie Norwegen, Liechtenstein
oder die Schweiz miteinander umgehen. Reif ist es, wenn sich diese Exoten
ernsthaft fragen, ob ihnen ein Beitritt wirklich frommt - was nie zu
eindeutigen Antworten führen wird. Und reif ist es, wenn die EU
sich zwar wundert, warum diese Exoten auf keinen Fall bei jenen Entscheiden
mitreden wollen, die sie in den meisten Fällen doch massiv betreffen,
sich ansonsten aber für Arrangements aller Art offen hält.
Dieses Leben und leben Lassen, das sich je länger
je mehr in das europäische Betriebssystem einnistet, ist nur einer
von vielen Gründen, die dafür sprechen, es sei das Beste,
in einer Gesellschaft zu leben, die schon ein ordentliches Stück
weit gereift ist und weiter reift. Es lebt sich dort einfach angenehmer,
freier, sicherer, entspannter, wohler, wärmer. Und vor allem gibt
es dort mehr Raum für die eigene persönliche Reifung.