Gigerheimat: Worte
Vom Geld zum Geist

 

Andreas Giger

Vom Geld zum Geist

Der Trend zur Qualität ist Ausdruck eines fundamentalen Wertewandels, der auf die Aufwertung des Werts Lebensqualität zum Leitwert hinauslaufen wird. Und das hat Auswirkungen auch auf das Konsumverhalten.

Es war in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als Ronald Inglehart die unausweichliche Ankunft des postmaterialistischen Zeitalters verkündete. Was folgte, waren die Achtziger mit ihrem Kult des Lifestyles und die Neunziger mit ihrem Tanz um das goldene Kalb — beides Ausdruck eines ausgesprochen materialistischen Werte-Universums. Doch jetzt könnte Inglehart doch noch Recht bekommen. Denn der Schlüsseltrend des Wertewandels, der längst begonnen hat, lautet tatsächlich: Von Geld zu Geist. Von materiellen zu immateriellen Werten. Und damit auch von Quantität zu Qualität.

DIE WERTE-VORHUT Wertewandel kann man empirisch erfassen, indem man alle fragt, beziehungsweise eine repräsentative Stichprobe aus allen. Das hat den grossen Nachteil, dass man mit den Fragestellungen an der Oberfläche bleiben muss, weil eine Repräsentativbefragung immer dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners folgt. Und man fragt viele Menschen, die sich mit dem Thema Werte bisher kaum oder gar nicht bewusst auseinandergesetzt haben.

Die Alternative besteht darin, nur solche Menschen zu befragen, die sich für das Thema Werte interessieren und sich damit bewusst beschäftigen. Diese "Bewusstseins-Elite", so kann angenommen werden, bildet jenen gesellschaftlichen Sauerteig, durch den der Wertewandel vorangetrieben wird. Sie ist gleichsam die Vorhut, aus deren Bewegungsrichtung abgeleitet werden kann, wohin sich etwas später das Ganze bewegt.

Sprachrohr dieser Bewusstseins-Elite in Sachen Werte ist SensoNet, ein Netz aus einigen hundert Menschen im ganzen deutschsprachigen Raum, die regelmässig online über ihre Wünsche und Erwartungen an die Zukunft, aber auch über ihre eigene Entwicklung befragt werden (www.sensonet.org). SensoNet selbst schätzt, dass es für eine gesellschaftliche Minderheit spricht, die derzeit etwa jede(n) Sechste(n) der Gesamtbevölkerung umfasst und stetig wächst. Wir können also davon ausgehen, dass SensoNet tatsächlich für die Werte-Vorhut spricht.

VON GELD ZU GEIST Diese Werte-Vorhut beobachtet an sich selbst eine eindeutige Entwicklung weg vom Geld und hin zum Geist.

Das bedeutet nicht, dass materielle Werte gar nicht mehr zählen, aber sie verlieren relativ gesehen an Bedeutung gegenüber den immateriellen, den geistigen Werten.

Hinter dieser Entwicklung steckt eine Einsicht, die mittlerweile auch von der ökonomischen Forschung bestätigt wird: Mehr Geld bringt nicht mehr Glück. Nur noch ein Drittel von SensoNet glaubt für sich selbst, mehr Kaufkraft bringe mehr Lebensqualität. Zwei Drittel dagegen glauben, ihre Lebensqualität könne selbst bei abnehmender Kaufkraft stabil bleiben. Und gar vier Fünftel sind sich sicher, dass ihre Lebensqualität auch ohne zusätzliche Kaufkraft besser werden könne.

Die Entkoppelung von Einkommen und Lebensqualität ist bei der Werte-Vorhut also weit fortgeschritten. Dies ist umso bedeutsamer, als sie beim materiellen Fortschritt deutliche Sättigungstendenzen sieht: Die frei verfügbaren Einkommen werden, jedenfalls in unseren Breitengraden, höchstens noch mässig zunehmen. Das Züge von Sucht zeigende Rennen nach immer noch mehr vom selben, nämlich Geld, verliert damit zunehmend seinen Sinn. Andere, lohnendere Lebensziele und damit Werte müssen her. Deshalb schlägt jetzt zunehmend die Stunde der postmaterialistischen Werte.

EVOLUTIONÄRE LOGIK Jene Forscher, die daran arbeiten, das Bruttosozialprodukt eines Landes mit einem so genannten "Bruttoglücksprodukt" zu ergänzen oder zu ersetzen, haben es schnell gemerkt: Immaterielle Werte lassen sich wesentlich weniger leicht messen als materielle. Geld ist ein hoch standardisierter Massstab, mit dem sich alles quantifizieren und damit vergleichen lässt. Solche quantitativen Beurteilungskriterien gibt es für immaterielle Werte nicht. Dort befinden wir uns im Reich der Qualität.

Es liegt deshalb in der evolutionären Logik, dass eine Akzentverschiebung von Geld zu Geist immer auch eine solche von Quantität zu Qualität bedeutet. Es geht nicht mehr darum, mehr zu haben, sondern besser zu leben. Die Menge der zugeführten Nahrung lässt sich ohne Verfettungsgefahr nicht beliebig steigern, aber besser essen können wir allemal. Was wir auf dem Esstisch schon begriffen haben, übertragen wir mehr und mehr auf andere Lebensbereiche.

Dass diese Entwicklung die Luxusmöglichkeit von Privilegierten ist, bedarf kaum einer besonderen Erwähnung. Die kulturelle Evolution arbeitet nun mal so, dass sie neue Entwicklungen zunächst bei privilegierten Minderheiten ausprobiert. Und von ihnen erwartet, dass sie nicht lange darüber grübeln, warum sie so privilegiert sind, sondern das Beste aus den ihnen gebotenen Entwicklungsmöglichkeiten machen. Zum Beispiel auszuprobieren, was aus einer Gesellschaft wird, die zunehmend auf Qualität setzt.

LEITWERT LEBENSQUALITÄT Der wichtigste menschliche Antrieb, mehr zu leisten, als zum Lebensunterhalt unbedingt nötig wäre, war es schon immer, ein besseres Leben zu haben. Die längste Zeit bedeutete dies vor allem, mehr materielle Möglichkeiten zu haben. Nun, da wir auf diesem Gebiet weitgehende Sättigung erreicht, ja die Grenze zur Übersättigung oft genug überschritten haben, gewinnt der Begriff des besseren Lebens seine eigentliche Bedeutung zurück: Worum es beim besseren Leben geht, ist mehr Qualität. Mehr Lebensqualität.

Die Frage, worum es im Leben geht, ist keineswegs auf ein paar abgehobene Philosophen beschränkt. Sie wird in Zeiten, in denen wir, mehr oder weniger freiwillig, immer stärker zu freien und eigenverantwortlichen Gestaltern unseres Lebens werden, für immer mehr Menschen zentral: Lebensgestaltung braucht Orientierung. Und damit Werte. Um uns in der Multioptionsgesellschaft für die zu uns passenden Möglichkeiten entscheiden zu können, müssen wir wissen, was uns wie viel wert ist. Und um nichts anderes geht es bei den Werten.

Die Zeiten, in denen Kirche oder Staat allgemein verbindliche Werte setzen konnten, sind vorbei. Heute kann und muss jede und jeder selbst entscheiden, welche Werte wichtig und richtig sind. Das schafft zunächst Verwirrung und Unübersichtlichkeit. Doch in diesem Chaos zeichnen sich die Muster der künftigen Werte-Landschaft bereits ab. Ein Wert hat dabei besonders gute Chancen, zum künftigen Leitwert zu werden: Lebensqualität.

Das gilt auf jeden Fall für die Werte-Vorhut selbst.

Nicht unbedingt wahrscheinlich, jedoch hochgradig wünschbar sind aber auch die Szenarios, wonach Lebensqualität zum allgemeinen persönlichen Leitwert wird, aber auch zum gesellschaftspolitischen und marktwirtschaftlichen. Grund genug, sich näher mit dem Leitwert Lebensqualität zu befassen, liefern diese Einschätzungen allemal.

SIEBEN GUTE GRÜNDE Für eine steile Karriere von Lebensqualität als Leitwert sprechen (mindestens) sieben gute Gründe:

  • Ideale Richtschnur für Lebensgestaltung: Für LebensgestalterInnen gibt es keine bessere Orientierung als die Optimierung der eigenen Lebensqualität.
  • Betrifft das (ganze) Leben: Lebensqualität betrifft alle Lebenssphären und bündelt sie zum ganzheitlichen eigenen Leben.
  • Verbindet und lässt individuelle Spielräume: Lebensqualität lässt sich nur individuell definieren, leben und spüren, und kann trotzdem zum verbindenden Ziel werden.
  • Ist wandlungsfähig: Das Konzept Lebensqualität ist nicht abschliessend definiert, sondern kann sich dem Wandel der Zeitläufte anpassen.
  • Ist optimierbar: Das Optimum der eigenen Lebensqualität ist noch nicht erreicht — was einen enormen Antrieb zur Optimierung bildet.

 

Und für unsere Lebensqualität sind wir mehrheitlich selbst verantwortlich und zuständig.

  • Ist lernbar: Indem wir reifen, begreifen wir immer besser, wie wir unsere Lebensqualität verbessern können.
  • Liegt im Trend: Der allgemeine Shift von Quantität zu Qualität, der Simplify-Trend, die Wellness-Welle, die zunehmende Bedeutung von Sinnfragen, der Nachhaltigkeits-Boom, die wachsende Attraktivität von Reife und Weisheit: alles passt. Kein Wunder also, dass Lebensqualität in der "Hitparade der heissen Werte" von SensoNet seit Jahren einen Spitzenplatz belegt

LEBENSQUALITÄTS-SPHÄREN Lebensqualität ist ein vieldimensionales Konzept, das heisst, es müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein, damit die eigene Lebensqualität als befriedigend oder gut erlebt werden kann. Wenn wir einmal vom Sonderfall der körperlichen Gesundheit absehen, lassen sich sechs wichtige Lebensqualitäts-Sphären unterscheiden, die jeweils mit ihren wichtigsten Elementen beschrieben werden:

Eigensinn: In dieser Sphäre der Selbstverwirklichung geht es darum, das Eigene zu leben und darin Sinn zu finden: Mein Leben nach meinen eigenen Werten ausrichten zu können. Das tun zu können, was mir wirklich liegt. Mir selbst treu zu bleiben.

Miteinander: Die Werte-Vorhut weiss, dass es keine Selbstverwirklichung und keine Lebensqualität ohne die anderen gibt: Menschen zu haben, die mir etwas bedeuten und denen ich etwas bedeute. Dass es meinen Liebsten gut geht. Dass die Lebensqualität möglichst vieler Menschen stimmt.

Unsichtbar: Zur Lebensqualität gehört auch eine Sphäre des Unsichtbaren: Mich seelisch rundum wohl zu fühlen. Etwas wie Sinn in meinem Leben zu finden. Mich in etwas eingebettet zu fühlen, das grösser ist als ich.

Raum: Die eigene Position im Raum ist eine wichtige Lebensqualitäts-Sphäre: Einen Ort zu haben, der mir Heimat bedeutet. An einem Platz zu leben, der mir Kraft gibt. Mich frei überall hin bewegen zu können.

Zeit: Das Pendant dazu bildet die eigene Position im Zeitstrom: In meiner eigenen evolutionären Fliesszeit zu leben. Nicht stillzustehen, sondern mich weiterzuentwickeln. Hin zu Lebenskunst und Weisheit zu reifen.

Balance: Ohne Ausgleich zwischen den Lebenssphären gibt es keine Lebensqualität: Meinen Sinn für das richtige Mass zu entwickeln. Alle Bereich meines Lebens in Balance zu halten. Auf meinen inneren Kompass zu vertrauen.

LEBENSQUALITÄT UND KONSUM "Dass ich mir alles kaufen kann, was ich will", gehört zu den als weniger wichtig eingestuften Voraussetzungen von Lebensqualität, das heisst, die Lebenssphäre Konsum gehört nicht in deren Zentralbereich. Und dennoch wird der Leitwert Lebensqualität auch für den Konsumbereich zunehmend wichtiger. Kunden haben nun mal nur begrenzte Ressourcen wie Zeit, Aufmerksamkeit und Geld, und sie werden sich deshalb zunehmend stärker für jene Angebote entscheiden, die am ehesten ihre eigenen Wertvorstellungen erfüllen. Gekauft wird nur noch das, was einem genug wert ist, was also den eigenen Werten entspricht.

Die zunehmende Bedeutung des Leitwerts Lebensqualität wird somit nicht ohne Auswirkungen auf die Märkte bleiben. Ein Wert, der im Wert steigt, produziert neue Nachfrage. Leicht euphorisch prophezeite der bekannte deutsche Trendforscher Matthias Horx deshalb schon vor einigen Jahren: Alle wirklich profitablen Märkte der Zukunft sind Lebensqualitätsmärkte.

Richtig daran ist, dass sich die Konsumentinnen und Konsumenten bei ihrem Konsum mehr und mehr fragen werden, ob der Kauf auf ihrem Lebensqualitäts-Konto einen Zugewinn bringt. Wenn ja, sind sie gerne bereit, in ihre eigene Lebensqualität zu investieren. Wenn nein, eher nicht.

Die Frage "Wie fördere ich die Lebensqualität meiner Kunden?" sollte zur Leitfrage aller Anbieter von Produkten und Dienstleistungen werden. Das jedenfalls wünscht sich die Werte-Vorhut von SensoNet. Der Glaube an die Erfüllbarkeit dieses Wunsches ist allerdings begrenzt. Was eben auch bedeutet, dass jene Anbieter, die ihre Kunden positiv überraschen, indem sie sich tatsächlich um deren Lebensqualität kümmern, beste Marktchancen haben.

LEBENSQUALITÄTS-KILLER Die Vorstellung vom persönlichen Lebensqualitäts-Konto schliesst auch die Möglichkeit mit ein, dass dieses geplündert werden könnte. Auch und gerade beim Konsum. Bevor sich ein Anbieter deshalb fragt, wie er die Lebensqualität seiner Kunden verbessern könnte, sollte er darauf achten, es zu vermeiden, dass durch den Konsum die Lebensqualität der Kunden strapaziert wird.

Was Kunden nervt, weiss man eigentlich ziemlich genau. Die Identifizierung der wichtigsten Lebensqualitäts-Killer durch SensoNet bestätigt deshalb nur, was wir schon lange wussten, auch durch unsere eigenen Erfahrungen als Kunden.

Der ganze Klagechor über Lebensqualitäts-Killer beim Konsum kulminiert dabei in einem einzigen Crescendo: Wir leiden unter fehlendem Respekt! Wer mir Zeit klaut und mein Auge beleidigt, wer mich nicht ernst nimmt und nur auf mein Portemonnaie schielt, wer mich mit übergriffigen Verkaufsmassnahmen plagt und mir undurchschaubare Angebote macht, respektiert mich nicht als Menschen und beeinträchtigt dadurch meine Lebensqualität empfindlich.

Respekt gegenüber den Kunden lässt sich in keinem Marketing-Seminar lernen. Es handelt sich vielmehr um eine Frage der Haltung auf der persönlichen und um eine solche der Kultur auf der Unternehmens-Ebene. Also um eine Frage der Qualität.

LEBENSQUALITÄTS-FÖRDERER Erst wenn die Lebensqualitäts-Killer eliminiert sind, lohnt sich die Frage, was man als Anbieter zur Förderung der Lebensqualität seiner Kunden beitragen kann. Auch dazu hat SensoNet klare Vorstellungen.

Nicht ganz überraschend finden wir zuoberst auf der Hitliste der (potenziellen) Lebensqualitäts-Förderer beim Konsum zwei alte Bekannte: Verlässlichkeit und Qualität. Wer als Anbieter diese bewährten Tugenden pflegt, trägt auf jeden Fall zur Lebensqualität seiner Kunden bei.

Dasselbe gilt für alle Angebote, welche das seelische und körperliche Wohlbefinden fördern, und die zu einem stressfreieren, einfacheren, leichteren, angenehmeren, sichereren und spassigeren Leben der Kunden beitragen. Und natürlich für diejenigen, die dem Kunden freie Zeit bringen statt stehlen.

Schon eher überraschend mag es wirken, dass man die Lebensqualität seiner Kundinnen und Kunden auch fördern kann, wenn man ihr Wissen vermehrt, ihnen Anregungen zur Selbstklärung und Lebenskunst bietet, sowie ihnen ein wachsendes Beziehungsnetz ermöglicht. Betrachtet man die Ergebnisse allerdings vor dem Hintergrund des generellen Trends von Geld zu Geist, leuchtet es ein, dass Angebote, die einen geistigen Mehrwert enthalten, zur Lebensqualität der Kunden beitragen können.

In den heutigen und künftigen Lebensqualitätsmärkten stecken enorme ungenutzte Potenziale. Wer Wertschöpfung durch den Wert Lebensqualität betreiben will, muss seine Lebensqualitäts-Killer eliminieren und seine Lebensqualitäts-Förderer ausbauen. Dass es dazu etwas mehr Phantasie und Kreativität braucht als für den Appell an den angeblichen geilen Geiz, versteht sich von selbst.

WERTSCHÖPFUNGSPRINZIP Werte schaffen Werte, und je zentraler ein Wert wird, desto mehr ist er zur Wertschöpfung fähig. Der Leitwert Lebensqualität wird deshalb die Märkte verändern, nicht über Nacht, sondern sanft und unspektakulär — und gerade deshalb nachhaltig wirksam.

Dass es bei Lebensqualität vor allem um Qualität generell gehe, sagt SensoNet auch. Wer also Qualität anbietet, fördert die Lebensqualität seiner Kunden. Das hat natürlich seinen Preis, Qualität geht bekanntlich auf Kosten der Kosten. Doch es bringt auch höhere Erträge.

Wer nachhaltig rechnet, setzt deshalb auf die Lebensqualität seiner Kunden. Das wird auch seine eigene verbessern..

 

 

Der nebenstehende Artikel erschien im renommierten Wissensmagazin GDI IMPULS, Winter 2007.

Im Inhaltsverzeichnis wurde er so angekündigt:

VOM GELD ZUM GEIST. Der Trend zur Qualität ist Ausdruck eines fundamentalen Wertewandels. Der Handel muss sich mit Förderern der Lebensqualität befassen - und deren Killern.

Eine PDF-Datei des Artikels steht, mit Billigung von GDI Impuls, zur Verfügung. Wenn Sie die PDF-Datei gerne hätten, senden Sie mir ein Mail.

 

 

 

 

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