Gigerheimat: Worte
Ich, AG - die Ich-AGI

 

Ich, AG - die Ich-AG

Ein Vierteljahrhundert nach der Gründung seiner eigenen sinniert der Autor darüber, was es zum Erfolg einer Ich-AG neben betriebswirtschaftlichen Grundkenntnissen sonst noch so braucht.


Natürlich ist der Begriff purer Nonsens. Die Aktiengesellschaft heisst auf Französisch "societé anonyme", und anonym ist, wer eine Ich-AG sein eigen nennt, nun wirklich nicht. Im Gegenteil: Nur wo es ein klar erkennbares Ich überhaupt gibt, wird dessen AG erfolgreich sein.

Nichtsdestotrotz hat mich der Begriff, als er vor einigen Jahren aufkam, weniger gestört als jene, die ihn zum Unwort des Jahres gekürt haben. Das mag daran liegen, dass ich als kleiner Knirps, der gerade mal die faszinierende Welt der Buchstaben kennen gelernt hatte, überall auf Firmenschildern meine eigenen Initialen entdeckte, was eine besondere Affinität zu dieser Rechtsform bewirkt haben mag.

Allerdings nur auf der sprachlichen Ebene. Faktisch habe ich nach wenigen kurzen Gastspielen als Angestellter solcher Etablissements beschlossen, es mache keinen Sinn, dass ich dafür bezahlt würde, während einer bestimmten Anzahl Stunden meinen Hintern auf einem Bürostuhl zu wetzen, und mich selbständig gemacht.

Das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her. Zeit genug, ein paar Erfahrungen zu sammeln und darüber nachzudenken. Möchte ja sein, dass einige der heut zu Tage emsig geförderten hoffnungsfrohen Start-Ups von Ich-AG´s sich bange fragen, ob sie denn eigentlich geeignet seien für diese Lebensform. Was keine ganz unberechtigte Frage wäre. Anders als in der Bibel gilt: Viele, und zwar immer mehr, sind auserwählt, aber nicht alle davon sind berufen.


Nicht für alle geeignet

Wer vom Arbeitsmarkt auserwählt wird, es mal mit einer Ich-AG zu versuchen, kann an dreierlei scheitern: Mangelndes Wissen und mangelndes Geld lassen sich mit Förderungsprogrammen kompensieren, eine für diese Lebens- und Arbeitsform ungeeignete Persönlichkeit dagegen nicht. Bringt der selbstkritische Blick in den Spiegel zum Vorschein, dass die zum Betrieb einer erfolgreichen Ich-AG erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale zu wenig ausgeprägt sind, lässt man besser die Finger davon.

Das sollte im übrigen auch tun, wer mit einer AG vor allem die Vorstellung üppig fliessender Geldströme aus Dividenden und Verkaufsgewinnen verbindet: Einen Markt für diese "Aktien" gibt es nicht, sie sind also unverkäuflich und folglich völlig wertlos, und mit den Gewinnen ist es in der Regel auch nicht sehr weit her.

Ein Grund mehr, das Augenmerk weniger auf einen zweifelhaften Begriff zu richten als vielmehr auf die Sache. Und die hat Hand und Fuss. Selbständig erwerbend oder freiberuflich zu leben, wie das vor der Erfindung der Ich-AG früher so hübsch hiess, ist für eine wachsende Zahl von Menschen mehr oder weniger freiwillig eine Option mit Zukunft.

Oder handelt es sich beim Trend zur Ich-AG ganz im Gegenteil nur um die letzten Zuckungen eines aus fernen vorindustriellen Zeiten stammenden Phänomens ? Indizien für rückläufige Tendenzen gibt es durchaus. Die klassischen freien Berufe verschwinden immer mehr im Sog industriell geprägter Strukturen: Ärzte sind öfters Krankenhausangestellte als Selbständige, den grössten Teil des Beratermarktes beherrschen grosse Konzerne, und Anwaltskanzleien werden immer grösser. Nur die Landwirtschaft hält tapfer stand.

Dass einfache Dienstleistungen wie Transporte aus ökonomischen Zwängen heraus immer mehr von Ich-AG´s erbracht werden, spricht nicht gegen die Tendenz, ist doch in diesen Fällen tatsächlich viel Scheinselbständigkeit dabei, hinter der in Wirklichkeit straffe Strukturen und einseitige Abhängigkeiten stecken.


Platz in evolutionären Nischen

»Sie sind einer der letzten überlebenden wirklich freien Intellektuellen«, sagte neulich ein Journalist zu mir, nachdem er auf meiner Homepage gesurft war. Ist wahre Selbständigkeit also trotz allen Geschreis um die Ich-AG ein vom Aussterben bedrohtes Modell ? Gemach. Die Evolution braucht diese Hefe im Sauerteig, um keine eingeschlafenen Füsse zu kriegen, und sie schafft deshalb für sie immer wieder Nischen, in denen sie sich entfalten kann.

Zum einen hat das Retro-Modell der klassischen Selbständigen, die mit eigener Hand, mit eigenem Kopf und mit eigenem Herz Echtes schaffen, das untrennbar mit ihrer Persönlichkeit verbunden ist, Zukunft. In Zeiten globalisierter Standardware findet das unverwechselbare Echte einen zunehmenden Markt. Das gilt für Handwerker und für Ärztinnen, für Malerinnen und Berater.

Zum anderen steigt der Bedarf nach Brainware unaufhörlich. Hier spricht der Begriff Bände: Es geht um Gehirne, also um einzelne Menschen mit ihren intellektuellen, sozialen, emotionalen und kreativen Fähigkeiten, und nicht um Institutionen. Intelligenz sitzt in Köpfen und nicht in Büros.

Sicher, auch etablierte Institutionen entwickeln so etwas wie Intelligenz, die sich bewährt, so lange es sich um wohlbekannte Aufgaben handelt. Wenn zunehmende Komplexität allerdings zu neuen Lösungen herausfordert, ticken individuelle Gehirne besser. Solange sie dies frei und selbständig tun können, in letzter Instanz niemand anderem verantwortlich als ihrem Alleinaktionär: sich selbst.

Überall da, wo kreativer Umgang mit Komplexität gefragt ist, hat die Ich-AG gute Chancen. Das gilt keineswegs nur für abstrakte Geistesprodukte wie Beratungskonzepte und Software, sondern ebenso für anspruchsvolle, auf einzelne Menschen bezogene Dienstleistungen, denn was wäre komplexer als eine individuelle Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse und Wünsche ?

Vor langer Zeit flitzten die ersten Säugetiere - winzige Pelzwesen - flink und flexibel zwischen den massigen Beinen der damals vorherrschenden Riesensaurier herum. Diese Nischenstrategie hat sich bewährt und taugt zum Vorbild für die Ich-AG. Zumal auch die Grössenverhältnisse stimmen: Die Pelzwesen waren zu klein, um von Sauriern überhaupt wahrgenommen zu werden. Wobei der Gerechtigkeit halber hinzugefügt werden muss, dass manche grosse Institution das Saurierstadium diesbezüglich bereits verlassen und kapiert hat, dass die kleinen wuscheligen Ich-AG´s auch ihr durchaus etwas zu bieten hat.

Auch wenn somit zu den bekannten neue evolutionäre Nischen hinzu kommen, in denen die Ich-AG gute Wachstumsbedingungen vorfindet, so werden Nischen dennoch bleiben, was sie sind: Orte mit begrenzter Platzzahl. Und dort herrscht das eherne Gesetz jeder halbwegs angesagten Disco: Eintritt nicht für jedermann !

Der unerbittliche Türsteher, der über den erfolgreichen Eintritt entscheidet, hat einen Namen: Markt. Markt in seiner ursprünglichen Bedeutung eines Gemüsestandes auf dem Marktplatz, wo die Händlerin für die richtigen Angebote und Dienstleistungen unmittelbar belohnt und für die falschen ebenso rasch bestraft wird. Hier herrscht Instant Karma. Hier gibt es keine Puffer in Form von Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die persönlichen Mist bis zur Unkenntlichkeit abfedern. Die Ich-AG hat brutal direkten Marktkontakt.

Das muss man nicht immer mögen, aber jederzeit aushalten. Und dabei erst noch unterscheiden können zwischen unbeeinflussbaren Marktentwicklungen und eigenem Optimierungsbedarf. Wer erst höhere Mächte anflehen muss »Herr, gib mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann, und die Geduld, das gelassen hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, beides zu unterscheiden !«, ist schon aus dem Spiel.


Talent und Übung

Nun wäre es allerdings vermessen, bei der Gründung einer Ich-AG auf einer Sacheinlage in Form eines ordentlichen Happens an Weisheit zu bestehen. An dieser Hürde würde ich auch heute noch scheitern, und wäre es damals vor einem Vierteljahrhundert erst recht. Womit ich obige Bemerkung bereits wieder relativieren muss. Es dürfte sein wie in der Kunst oder im Sport: Ohne jede musikalische Begabung schafft man es kaum zu den Berliner Philharmonikern, und ohne läuferisches Talent kaum auf das Siegertreppchen. Doch ohne stetige Praxis entfaltet sich kein Talent.

Eine gewisse Fähigkeit, immer hart am Wind des Marktes zu segeln und dabei die eigenen Manövrierspielräume realistisch einzuschätzen, gehört zur Grundausstattung der Ich-AG. Und sie genügt nicht. Wenn nicht die Lust und die Freude dazu kommen, eine lernende Organisation zu sein, wird es kritisch. Lernen, reifen, unterwegs sein in Richtung jenes unerreichbaren Leitsterns namens Weisheit, das ist die nie nachlassende Herausforderung an die Ich-AG - und ihr nie versiegender Antrieb und Lohn zu gleich. Wer die wirklich ergiebigen Lernfelder im Leben sucht, lässt sich auf eine intensive Beziehung ein oder gründet eine Ich-AG.

Bekanntlich hat es die Natur in ihrer Weisheit und Güte so eingerichtet, dass wir uns vor wichtigen Entscheidungen im Leben nie wirklich bewusst werden, worauf wir uns da einlassen. Wäre es anders, so würde wohl kaum noch geheiratet oder ein Kind gezeugt. Oder eben eine Ich-AG gegründet. Die Erfahrungen anderer können bekanntlich nie das eigene Lernen ersetzen. Doch eigene Erfahrungen lassen sich leichter einordnen und deuten, wenn entsprechende Denkmuster zur Verfügung stehen.

Ich habe dafür kein systematisches Denkgebäude anzubieten, sondern "nur" einige Beobachtungen, die um bestimmte Schlüsselbegriffe kreisen, unvollständig, bunt und chaotisch, wie das richtige Leben nun mal ist, mit dem man als Ich-AG in einem so unmittelbaren Kontakt ist, wie er einem Angestelltendasein immer unerreichbar bleiben wird. Was, um eine Erkenntnis vorwegzunehmen, einen wesentlichen Anteil am Reiz dieser Lebensform ausmacht. Weshalb wir mitten hinein ins pralle Leben einer Ich-AG hüpfen:


Gedächtnis

Der Verweis auf ein Vierteljahrhundert der Existenz meiner eigenen Ich-AG täuscht: Ich habe glatt übersehen, dass es ein Jubiläum zu feiern gab. Was in jedem halbwegs durchorganisierten Kleinbetrieb vom Computer automatisch vermeldet worden wäre, fand bei mir nicht statt. Das ist alles andere als ein Drama, verweist aber auf eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis: In der Ich-AG muss man buchstäblich für alles selber sorgen, auch für das Firmengedächtnis.

Papier und elektronische Speichermedien helfen dabei, doch beides hat seine Grenzen. So habe ich aus jener fernen Gründerzeit kaum noch fassbare Spuren, und ein zunehmendes Bedürfnis, mit leichtem Gepäck durchs Leben zu reisen, diverse Umzüge und ein begrenztes Platzangebot haben dazu geführt, dass mein Papierarchiv äusserst überschaubar ist. In meinem Mac steckt zwar eine Menge elektronisches Gedächtnis, doch dessen Haltbarkeit ist bekanntlich auch zweifelhaft.

Hauptspeichermedium ist und bleibt also das eigene Gehirn. Das hat den Vorteil, dass man sich seinen eigenen Mix aus Erinnern und Vergessen zusammen brauchen kann. Beides ist nötig. Wer zu sehr in der Erinnerung an gute oder schlechte Momente lebt, übersieht allzu leicht Risiken und Chancen von Gegenwart und Zukunft. Ohne die Gnade des Vergessens gibt es keinen Aufbruch zu neuen Ufern.

Doch auch das Erinnern ist wichtig. In der Geschichte meiner Ich-AG ist die Vergangenheit längst nicht immer fertig und abgeschlossen. Da hängen haufenweise lose Fäden rum, an die gelegentlich wieder anzuknüpfen sich lohnt. Da liegen Ideen und Projekte auf der Recycling-Halde rum, die dort deponiert worden sind, weil ihre Zeit noch nicht reif war, die aber jetzt in gewandelter Form zum blühenden Leben erwachen könnten. Da gibt es Menschen, zu denen der Kontakt etwas eingeschlafen war, der jetzt reif für eine Reanimierung sein könnte.

Und da gibt es auch die Möglichkeit, über die Zeit hinweg die Entwicklung des wichtigsten Produktionsmittel der Ich-AG, nämlich des eigenen Ichs, der eigenen Persönlichkeit, zu beobachten. Das kann spannend sein - wer kennt schon die Geschichte des eigenen Unternehmens so lang, so gut und so im Detail wie der Inhaber einer Ich-AG ? Und es motiviert, wenn man feststellen kann, dass man im Laufe der Jahre immer besser geworden ist, und damit die ganze Firma.

Im Gegensatz zum Gedächtnis auf Papier oder Silizium ist jenes im eigenen Gehirn wandlungsfähig. Erinnerungen neu arrangieren zu können, ist das Privileg des Gedächtnisses der Ich-AG. Weshalb es mir auch leicht fällt zu beschliessen, das 25-jährige Jubiläum meiner Ich-AG sei genau jetzt, und darauf einen heben zu gehen.


Antrieb

Als ich weiter oben schrieb, ich hätte "beschlossen", meine eigene Ich-AG zu werden, habe ich geflunkert. So frisch, frank und frei, wie das dort klang, war der Entscheid nicht. Ich hatte vielmehr das Gefühl, getrieben zu sein von einem inneren Antrieb, den ich damals nicht hätte benennen können. Klar war nur, dass ich Freiheit wollte, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Autonomie.

Bevor ich entdeckte, dass Menschen wirklich unterschiedlich ticken, war es für mich selbstverständlich, dass alle diesen Trieb nach Selbständigkeit in sich tragen. In geregelten Angestelltenverhältnissen zu arbeiten und zu leben, konnte somit nur eine vorübergehende Notlösung sein. Dass nach wie vor die Mehrheit der Menschheit genau das will und damit sehr zufrieden ist, fand ich erst nach und nach heraus. Was nichts an meinem starken Drang änderte, etwas anderes zu wollen.

Auf der Suche nach der Ursache dieses Antriebs bin ich auf allen Ebenen fündig geworden. Für die Vererbungstheorie spricht ein Urgrossvater, der nicht nur jene Tagelöhner-Existenz vorgelebt hat, die ich, wenn auch auf einem ganz anderen Niveau, heute auch betreibe, sondern auch so eigensinnig war, an seinem Hausberg die von alpinen Mythen überhauchte Blume Edelweiss in waghalsiger Kraxelei nicht etwa zu pflücken, sondern zu pflanzen, weil er fand, es gäbe dort zu wenig davon. Für die Sozialisierungstheorie spricht mein Vater, der seine limitierte Freiheit als Bierfahrer einem leichteren Job im regulierteren Innendienst auch dann noch vorzog, als die Hüfte längst schmerzte. Und für die Schicksalstheorie sprechen die Anläufe, die ich doch gelegentlich in Richtung eines Angestelltenverhältnisses unternahm und die allesamt haarscharf scheiterten, einmal an ein paar wenigen fehlenden Stimmen in einer öffentlichen Wahl.

Woher also der innere Antrieb in Richtung Unabhängigkeit kommt, bleibt letztlich ungewiss. Erklären lässt er sich nicht, wohl aber spüren. Wohl jenen, die diesen letztlich unbezähmbaren Antrieb in sich finden - er ist der unerlässliche Treibstoff jeder Ich-AG.


Teilpersönlichkeiten

Einer der Hauptgründe, warum es Ich-AG´s schwer haben, einen Bankkredit zu bekommen, liegt darin, dass sie kein Organigramm vorlegen können. Und damit nicht als vollwertige Firmen erscheinen. Doch dieser Schein trügt: Eine Ich-AG, jedenfalls eine funktionierende, ist eine vollwertige Firma.

Sie hat eines oder mehrere Produkte, die hergestellt sein wollen. Sie betreibt Marketing in allen Facetten. Sie organisiert Abläufe und Prozesse, pflegt Beziehungen, entwickelt Innovationen und Strategien. Und macht mit alledem in ihrem Mikrokosmos nichts anderes als ein grösseres Unternehmen, wenn auch in einem anderen Massstab. Nur auf eine Personalabteilung kann die Ich-AG getrost verzichten.

Ein Organigramm mit den unterschiedlichen Funktions- und Verantwortungsbereichen könnte also auch die Ich-AG zeichnen, nur stünde in jedem Kästchen derselbe Namen. Was noch nicht heisst, dass dort jeweils auch derselbe Mensch tätig ist.

Die oberste Verantwortung für die Unternehmensfinanzen zu tragen, erfordert bekanntlich eine etwas andere Persönlichkeit als jene für die Kreativitätsabteilung. Was also bleibt der obersten Führungspersönlichkeit der Ich-AG, die zwar ausführende Tätigkeiten durch Outsourcing delegieren kann, nicht aber die Verantwortung für jeden Aspekts ihres Unternehmens, anderes übrig, als sich in Teilpersönlichkeiten aufzuteilen ?

Hier sind wir auf einem interessanten Seitenpfad gelandet: Die Ich-AG ist nicht zuletzt deswegen ein Kind unserer Zeit mit Zukunft, weil die Vorstellung von Teilpersönlichkeiten ihren Schrecken verloren hat. Bis vor nicht allzu langer Zeit galt die "Aufspaltung in Teilpersönlichkeiten" als pathologisch. Heute gilt der Wechsel von Identitäten, der spielerische Umgang mit den eigenen Teilpersönlichkeiten, als normal.

Und will dennoch geübt sein. Der Betrieb einer Ich-AG bietet dazu reichlich Gelegenheit. Was nur dann eine mehrheitlich lustvolle Erfahrung bildet, wenn man Spass daran hat, von sich selber durch das Ausleben verschiedener Teilpersönlichkeiten ein runderes Bild zu gewinnen.

Für den Fall, dass ich mich bei diesem Spiel verlöre, hat mir mein Sohn schon in erstaunlich zartem Alter eine Maxime mitgegeben: »Weisst du Papa, in meinem Kopf ist ein ganzes Orchester. Aber ich bin der Dirigent.«


Allein-Zeit

So kann man sich irren. Als damals der PC und dann vor allem das Internet auftauchten, dachte ich wirklich eine Zeit lang, nur würde es vielen so gehen wie mir, der ich selig war, endlich alles zu Hause zu haben, Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten. Ernsthaft hatte ich die Vision von vielen Einsichtigen, die den Stress der Arbeitswege und das unproduktive Geplänkel am Arbeitsplatz gegen ein stressfreies Arbeiten zu Hause eintausch‚‚en. Ich war damit nicht allein, dieser Lebensform, dem "Tele-Working", wurde allgemein eine grosse Zukunft vorhergesagt. Bis klar wurde, dass der Mensch eben doch ein geselliges Wesen ist, dem es vor zu häufigem Alleinsein graust.

Schon allein deswegen, weil diejenigen, die allein sein nicht nur können, sondern wollen, eine rare Spezies bilden, ist die Ausbreitung der Ich-AG limitiert. Denn unabhängig davon, wieviel menschliche Kontakte die jeweilige Tätigkeit mit sich bringt, oder wieviel Möglichkeiten es gibt, das eigene Tun mit anderen zu besprechen, bleibt die Verantwortung für jeden Aspekt ungeteilt und unteilbar und lässt sich nur allein ausüben. Eigenverantwortung braucht - für wie ausgedehnte Phasen auch immer - Alleinsein-Wollen.

Allein-Zeit bedeutet mir mehr als in Stunden oder Tagen messbare allein verbrachte Zeit. Ich habe die Verantwortung, und damit die Freiheit - und umgekehrt - meine Zeitrhythmen selber zu bestimmen. Natürlich auch nicht uneingeschränkt, auch ich habe Termine, aber immer noch unvergleichlich mehr als jemand, der in vorgegebene Arbeitszeiten eingespannt ist.

Diese Freiheit zu nutzen, kann ganz schön anstrengend sein. Ich musste mich zum Beispiel von der aus tiefen Quellen protestantischer Arbeitsmoralvorstellungen stammenden Überzeugung lösen, nur geregelte und möglichst ausgedehnte Arbeitszeiten seien sittlich einwandfrei. Dass gerade komplexere geistige Tätigkeiten ihren eigenen Rhythmus haben, zu dem auch Phasen gehören, in denen scheinbar nichts geschieht, alldieweil in den uneinsehbaren Tiefen der Intuition gerade die Post abgeht, gehört zu jenen Lernschätzen, die ich der Allein-Zeit verdanke.

Sie hat mir ungeahnte Freiheitsräume eröffnet. Und damit gleichzeitig die Verantwortung übertragen, diese sinnvoll zu nutzen. Denn die eigenen Zeitrhythmen kann man nur in sich selbst entdecken. Allgemeingültige Regeln dafür gibt es nicht. Sonst hätten etwa Schriftsteller, jene Urform der Ich-AG mit langer Tradition, alle denselben Produktionsrhythmus. Haben sie aber nicht. Die einen schreiben dann, wenn ihnen gerade was einfällt, die anderen pünktlich nach der Stechuhr. Was letztlich niemanden interessiert, so lange sie dabei ihrem eigenen Rhythmus folgen und nicht einem von aussen auferlegten, weil das unweigerlich zu Einbussen bei der Qualität ihrer Produkte führen müsste.


Selbst-Bewusstsein

Hand aufs Herz: Würden Sie einer Ich-AG etwas abkaufen, der man von weitem ansieht, dass sie selber nicht an sich glaubt ? Oder die jenes überrissene Selbstbewusstsein zur Schau trägt, das einem unweigerlich - und meistens zu Recht - vermuten lässt, es stecke in Wahrheit ein ziemlich mickriges Würstchen dahinter ? Eben. Ohne Selbstbewusstsein läuft in diesem Geschäft gar nix.

Könnte sich also lohnen, mal hinzugucken, worum es da überhaupt geht. Um mehrdeutiges offensichtlich: Selbst-Bewusstsein meint ja zunächst einfach das Bewusstsein seiner selbst, ist also das Produkt einer fortlaufend sich akumulierenden Selbsterkenntnis. Daraus wächst Selbstbewusstsein im Sinne von Selbstvertrauen, von in sich selber ruhen, von eins sein mit selbst. Sich fortwährend aus der Distanz selber zu beobachten, um ganz in der Nähe von sich selbst zu sein, ist eines jener paradoxen Phänomene, die man als Inhaber einer Ich-AG tunlichst gern haben sollte.

Das liesse sich leicht mit Nabelschau verwechseln, doch es geht dabei nicht um die Selbstbespiegelung der eigenen Befindlichkeit, obwohl der pflegliche Umgang mit der eigenen Leiblichkeit zur nachhaltigen Zukunftssicherung der Ich-AG unabdingbar gehört, sondern um die ebenso liebevolle wie selbstkritische Reflexion des Tuns und Lassens der eigenen Teilpersönlichkeiten, die Verantwortung für die Ich-AG tragen - einschliesslich des obersten Managements. Ohne diese Transparenz läuft das Unternehmens-Schiffchen nämlich leicht aus dem Ruder, weil es dann am nötigen Selbstvertrauen gebricht.

Von Selbstvertrauen ist die Rede, nicht von Ich-Vertrauen. Natürlich gehört das Vertrauen in die eigenen Kräfte und Stärken zur erfolgreichen Ich-AG wie das nötige Kleingeld. Inklusive das Vertrauen in sich selbst, in schwierigen Zeiten nicht durchzudrehen und in guten nicht abzuheben, mit den unvermeidlichen Schwankungen im Markt, in der Liquiditätslage und in der eigenen Produktivität leben zu können, mit weniger Sicherheit auszukommen als andere, und im Falle eines Falles auch Knall auf Fall etwas ganz anderes machen zu können.

All diese Dinge entziehen sich dem Kontrollbereich unseres kleinen Ichs weitgehend. Und doch sind sie da und lassen sich erschliessen mit jenem Urvertrauen, das davon ausgeht, irgendwie werde es schon immer wieder weiter gehen, und wenn nicht, sei das auch nicht die grosse Katastrophe. Ein Stück dieses Urvertrauens gehört in die Möblierung jeder Ich-AG, gepaart mit dem Bewusstsein dafür, dass der Grad zwischen Urvertrauen und Wurstigkeit schmal ist.

Kaum erwähnt zu werden braucht, dass ein gesundes Selbstbewusstsein die Voraussetzung dafür bildet, jene Menschen zu erkennen, mit denen eine Zusammenarbeit Sinn macht, und mit ihnen im Geiste gegenseitigen Respekts zu kooperieren. Was für eine Ich-AG überlebensnotwendig ist.


Eigensinn

Von ihrem Arbeitgeber erwarten die meisten Arbeitnehmer nicht nur ein anständiges Gehalt, sondern auch eine sinnvolle Arbeit. Wer in einer Ich-AG tätig ist, kann sich nur vor den Spiegel stellen und vom Gegenüber Sinn einfordern. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass mir der Typ im Spiegel nur eine sinnvolle Antwort geben kann: Finde Deinen eigenen Sinn. Deinen Eigensinn. Ohne den gefunden zu haben und immer wieder aufs neue zu finden, hätte die Geschichte wohl böse geendet.

Mag sein, dass anderen Ich-AG´s Sinnfragen weniger wichtig sind, oder dass sie sie weniger bewusst wälzen. Ohne ein ausreichendes Mass an Eigensinn kommt keine aus. Denn, nicht wahr, etwas eigensinnig muss schon sein, wer sich lieber auf kaum sichtbaren Pfaden in die Büsche schlägt, statt auf bequemen Autobahnen gemächlich voran zu schaukeln oder gierig zu rasen.

Nur, wie sagte schon Hermann Hesse, der eine berühmte Ich-AG betrieb: »Eigensinn macht Spass!« Womit er auch meinte: Nur, wer seine Arbeit gern macht, weil sie sein oder ihr Ureigenstes ist, wird wirklich gute Arbeit leisten.


Massqualität

Der Markt als unerbittlicher Richter hat für die meisten Ich-AG´s ein klares Urteil bereit: »Wenn Du nicht besser bist als der Rest, vergiss es !« Mit Quantität kann die Ich-AG mangels Kapazitäten in der Regel nicht auftrumpfen. Nicht "immer mehr" kann also die Devise lauten, sondern "nur" "immer besser". Umso wichtiger ist eine klare Antwort auf die Frage, was denn wohl im eigenen Fall Qualität bedeute.

Besser zu sein als der Rest ist enorm schwierig, wie jeder Schauspieler und jede Tänzerin aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann. Das gilt vor allem dann, wenn man in einem klar abgegrenzten Gebiet tätig sein will. Die Nische kann deshalb nur heissen: mixen !

Gute Barmixer sind rar, obwohl gute Zutaten allen zur Verfügung stünden. Das Geheimnis, das gewisse Extra, liegt also offenbar in der persönlichen, individuellen Kunst des Mixens. Das Portfolio der eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen ist umso zukunftsträchtiger, je unverwechselbarer es ist.

Zur Qualität des Portfolios der Ich-AG gehört auch die Ausgewogenheit der einzelnen Elemente, das richtige Mass. Ohne einen Sinn dafür kann keine Ich-AG Qualität produzieren. Denn sie ist angesichts beschränkter Mittel immer dem fruchtbaren Zwang ausgesetzt, das Vorhandene massvoll zu verteilen und auf alles Überflüssige zu verzichten: Reduce to the Max !

Wo grössere Institutionen regelmässige Abmagerungskuren brauchen, weil sie Fett angesetzt haben, bleibt der Ich-AG gar nichts anderes übrig, als schlank zu bleiben. Das ist die beste Voraussetzung für einfache Prozesse und Lösungen ohne jeden überflüssigen Ballast. Und "einfach" bedeutet nach meiner Erfahrung fast immer auch "elegant", "kostengünstig", "sinnvoll", "intelligent" und so fort. Liebhabern des üppigen Barocks sei von der Ich-AG daher eher abgeraten.


Reifende Lebensqualität

Zwei Werte stehen in meiner aktuellen Studie über "Heisse Werte" zuoberst auf der Hitliste: Eigenverantwortung und Lebensqualität. Für diese Mischung bietet die Ich-AG das optimale Biotop. Ermöglicht sie doch nicht nur, was nahe liegt, ein optimales Mass an Eigenverantwortung, sondern darüber hinaus auch die Freiheit, die eigene Lebensqualität zunächst ganz eigensinnig zu definieren und dann zu realisieren.

Wenn Arbeitnehmer an ihrer "life-work-balance" herum schrauben, haben sie dabei wenig Spielräume. Anders die Betreiber einer Ich-AG, die zum Beispiel ganz einfach beschliessen können, die Unterscheidung zwischen Leben und Arbeit interessiere sie nicht, womit eine ganze Menge Regelungsbedarf in Sachen Arbeitszeiten entfällt.

Mit Sicherheit erfährt auf jeden Fall jede Ich-AG, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fliessender sind als im Lehrbuch der Gewerkschaften vorgesehen. Für Stempeluhren ist sie kein idealer Markt. Aber passen Stechuhren überhaupt in die sich ausbreitenden Lebensqualitäts-Märkte ?

Wie dem auch sei: Die Möglichkeit, seine eigene Lebensqualität zu definieren und sie reifen zu lassen, macht die Lebensform der Ich-AG attraktiv, auch wenn sie wie alles im Leben nicht gratis zu haben ist. Für mich jedenfalls gehört es zur reifenden Lebensqualität, die Früchte, die ich ernten kann, zu geniessen, nicht obwohl, sondern weil Säen und Pflege manche Müh und Plag gekostet haben.

Dass es wunderbar sein kann, sich selbst beim Reifen zuzuschauen, belegt die Antwort des bekannten Musikers Pablo Casal, der auf die Frage, warum er im hohen Alter immer noch täglich stundenlang übe, sagte: »Weil ich den Eindruck habe, immer noch besser zu werden !«


Persönlichkeit

Unter den Menschen, mit denen ich befreundet bin, sind erwartungsgemäss überproportional viele zu finden, die selber ein Ich-AG betreiben. Doch das ist für mich kein zwingendes Kriterium. Allerdings interessieren mich unter den Menschen im Angestelltenverhältnis vor allem jene, die dem Anzug ihrer Berufsrolle längst entwachsen sind, weil ihre Persönlichkeit grösser ist als der Berufsanzug. Am wenigstens interessant sind umgekehrt jene, deren Persönlichkeit kleiner ist als der Berufsanzug, weshalb sie sich über ihre Möglichkeiten hinaus aufpumpen müssen.

Als ich einmal eine etwas depressiv gefärbte Lebensphase hatte, konnte ich zwar meine Produktionsfähigkeit auf ansprechendem Niveau, wenn auch nicht auf Spitzenlevel, aufrecht erhalten, und dennoch liefen die Geschäfte nur harzig. Erst, nachdem diese Phase überwunden war, wurde mir klar, warum: Meine Ausstrahlung hat nicht gestimmt.

Der Spitzensport macht es vor. Gute Leistungen sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um eine Sportlerin oder einen Sportler erfolgreich zu vermarkten. Dazu kommen muss Persönlichkeit. Und zwar nicht eine Persönlichkeit, die man hat. Sondern die man ist.

Welcher Art diese Persönlichkeit ist, spielt dabei eine geringere Rolle als ihre Echtheit. Ecken und Kanten darf sie ruhig haben, Hauptsache, sie sind authentisch und bilden zusammen ein unverwechselbares Persönlichkeitsprofil. Die Ich-AG kann die erste Hälfte des Wortungetüms "Corporate Personality" getrost vergessen, von der zweiten lebt sie.

Stärker als in anderen Arbeitsformen trägt man mit der Ich-AG direkt seine Haut zu Markte. Mit aufgesetzten Masken kann man niemanden lange täuschen. Der Zusammenhang liegt nahe: Ich-Stärke macht die Stärke der Ich-AG aus.


Frei nach Woody Allen bedeutet die Ich-AG die Zusammenarbeit mit jemandem, den man mag. Jemanden zu mögen, der oder die ausreichend eigensinnig ist, unbedingt ein eigenes Ding machen zu wollen, und stur und starrsinnig genug, um das dann auch noch durchzuziehen, ist nicht ganz einfach. Aber darunter ist eine erfolgreiche Ich-AG nicht zu haben.

 

© by Andreas Giger, 18.08.03

 

 

Zur Erholung ein paar Bilder, die zur selben Zeit entstanden sind wie der Text


 


 

 


 

 


 

 


 

 


 

 


 

 


 

 


 

 

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