Swissfamily,
Oktober 2007
Intelligenter
Sex
In den Phasen akuter erotischer
Anziehung, also wenn die Gefühle spriessen und die Hormone schiessen,
sinkt das Gehirn des Mannes in die Hose, und das Denken der Frau wird
vom Unterleib gesteuert. Was den Beteiligten nur recht sein kann,
gilt doch das Ausschalten des kritischen Denkens geradezu als Voraussetzung
für ungehemmten und damit intensiven Sex.
Doch bekanntlich dauert
diese Phase nicht ewig. Bleibt das Paar dennoch zusammen, wird sein
Sex unausweichlich immer mehr zur Gewohnheitssache und damit weniger
spektakulär und aufregend. Jetzt schlägt in Sachen Sex die
Stunde des Kopfes, ja, dieser wird dringend gebraucht, um die Situation
zu retten.
Der wache Geist erkennt:
Wo Langeweile droht, ist Abwechslung angesagt. Die Frage ist nur:
wo und wie? Die Nummer auf dem Küchentisch mag ja einmal ganz
heiss sein, doch auf Dauer ist es im Bett eben doch bequemer. Und
stellungstechnisch bleibt ein Grossteil der Vorschläge aus dem
Kamasutra letztlich doch professionellen Akrobaten vorbehalten. Für
uns Normalsterbliche bleibt nur die ernüchternde Einsicht, wonach
man auch bei bestem Willen aus einem gemütlichen Ackergaul kein
feuriges Rennpferd machen kann.
Statt darob zu resignieren,
erinnert sich unser wacher Geist an jene zentrale Erkenntnis wahrer
LebensKunst, die da lautet: An den Fakten können wir nichts ändern,
wohl aber an deren Interpretation. Das heisst, wir, unser Geist und
unsere Intelligenz, sind frei, wenn es darum geht, den nicht zu ändernden
Tatsachen zur Abwechslung eine andere Bedeutung zu geben.
Auf die unabänderliche
Tatsache, dass zur Gewohnheit gewordener Sex nicht dasselbe ist wie
der Rauschzustand am Anfang, können wir reagieren, indem wir
den Anfangszustand als einzig erstrebenswerten definieren. Was konsequenterweise
heissen müsste, von einer Blüte zur nächsten zu hüpfen
ein Lebensmodell, das bekanntermassen keineswegs garantiert
glücklich macht.
Das liegt nicht zuletzt
daran, dass diesen Hüpfern all das entgeht, was eine längere
Beziehung gerade auch in punkto Sex zu bieten hat. Um das zu erkennen,
müssen wir allerdings bereit sein, von lieb gewonnenen Vorurteilen
Abschied zu nehmen. Zum Beispiel von jenem, Gewohnheit bedeute nichts
anderes als Langeweile.
Dabei sprechen wir sehr
wohl von der "Macht der Gewohnheit". Und nutzen diese in
Form von Ritualen. Indem wir Gewohnheitssex als Ritual pflegen, bestätigen
wir unsere Beziehung immer wieder aufs Neue, geben ihr Nahrung, Verlässlichkeit
und Sicherheit, stärken das gegenseitige Vertrauen.
Vor allem aber entgehen
wir dem Zwang, ständig aufregende Abwechslungen in unser gewohntes
Sexleben bringen zu müssen schliesslich erwartet niemand
von einem Ritual, dass es ständig verändert wird, im Gegenteil,
das Gewohnte ist unabdingbarer Teil jedes Rituals.
Nun kann man es mit der
Gewohnheit wie mit allem im Leben auch übertreiben, das heisst,
ohne eine gesunde Mischung aus Nähe und Distanz läuft gar
nichts. Wobei intelligenter Sex keine Patentrezepte kennt, nur individuelle,
massgeschneiderte und wandelbare Lösungen.
Diese sind keineswegs nur
einigen Intelligenzbestien zugänglich, sondern allen, die dazu
bereit sind, gelegentlich darüber nachzudenken und zu reden,
was Sex für sie ganz persönlich bedeutet. Dabei sind alle
Antworten, von "gar nichts (mehr)" bis "alles"
zulässig, so lange sie von allen Beteiligten geteilt werden.
Sonst wird es zugegebenermassen etwas schwierig...
Einen Tipp hätte ich
für dieses Nachdenken noch, nämlich die Besinnung auf die
vertikale Dimension. Üblicherweise betrachten wir ein Paar ja
als horizontale Begegnung. Etwas abhanden gekommen ist uns die Vorstellung,
das Paar könnte auch eingebetet sein in eine höhere Dimension,
also etwa in einen göttlichen Plan. Dieser gleichsam spirituelle
Aspekt soll manchen Paaren übrigens durchaus zu einem befriedigender
Sexleben verhelfen.
Dazu brauchen wir uns gar
kein höheres Wesen vorzustellen. Es genügt, wenn wir lernen,
das Paar, dessen Teil wir sind, als eigenständiges Wesen zu "sehen".
Dieses Paar-Wesen gibt uns Kraft, und es schöpft Kraft aus uns,
zum Beispiel dann, wenn wir die Wonnen teilen. Und Sex wäre in
dieser Optik dann immer auch freud- und lustvoller Gottesdienst an
diesem geheimnisvollen Wesen.
Unser Kopf ist und bleibt
unser wichtigstes Sexualorgan. Vor allem dann, wenn wir ihn dazu nutzen,
nicht nur an Sex zu denken, sondern darüber nachzudenken. Das
macht unser Sexleben nicht unbedingt aufregender. Aber sinnvoller.
Dr. Andreas Giger, Jahrgang
1951, lebt und arbeitet als Zukunfts-Philosoph,
Autor, Redner und Photograph
im appenzellischen Wald. Mehr über den Autor und sein Werk findet
sich im Internet unter www.gigerheimat.ch.
Porträtbild: Andreas
Butz