Aus
"Kirchenbote des Kantons St.Gallen", November 2006
Andreas Giger, der Zukunftsphilosoph
Zuerst entwickelte er Visionen für
Firmen. Dann entschied sich der promovierte Sozialwissenschaftler
Andreas Giger, sich der Zukunft des Unternehmens "Menschheit"
zu widmen. Engagiert beobachtet und prägt er den Wertewandel.
Vor 12 Jahren hat sich der heute 54-jähriger
Andreas Giger ins Appenzellerland zurückgezogen, wo er derzeit
in einem Landgasthof mit weitem Ausblick eingemietet ist. Hinter
sich hat er ein bewegtes, vielseitiges Leben.
Visionen für die Zukunft
Aufgewachsen in Schaffhausen, hat er nach
der A-Matura zuerst Geschichte studiert, wechselte dann aber zu
den Sozialwissenschaften, in denen er über "Politisches
Verhalten" promoviert hat.
Damals, in den Nach-68er-Jahren, suchten die
jungen Leute nach Alternativen zu den erstarrten Zielen der Wohlstandsgesellschaft.
Neue Lebensformen und Bewusstseinszustände wurden erprobt,
man kämpfte gegen Umweltzerstörung und atomare Aufrüstung,
und neue Propheten des New Age kündeten vom baldigen Paradigmawechsel.
Materialismus und Egoismus sollten einem ökologischen und
sozialen Denken Platz machen.
Andreas Giger hat die Ansätze, Kämpfe
und Widersprüche dieser Zeit hautnah miterlebt. 10 Jahre
war er in Schaffhausen im städtischen und kantonalen Parlament
aktiv. Nach dem Prinzip ´lerning by doingª betätigte
er sich auch als Journalist, Lektor, Herausgeber der Zeitschrift
Sphynx, als Unternehmensberater, Ghostwriter, Lektor, Coach, Hausmann,
allein erziehender Vater usw. Beruflich machte er sich als Marktforscher
selbständig und spezialisierte sich auf die Entwicklung von
Visionen für Unternehmen doch diese Arbeit im
Dienste einzelner Firmen konnte ihn auf die Länge nicht befriedigen.
Mehr interessierte ihn der Wandel der Menschen und der Gesellschaft.
"Sanfte Verschwörung"
Die spirituellen Aufbrüche in den 70er-Jahren
hat Andreas Giger mit Interesse verfolgt, doch war er zu sehr
Wissenschaftler, um deren teils schwärmerischen Utopien für
bare Münze nehmen zu können. In dem frühen Buch
"Was bleibt von New Age?" zeigt er auf, dass es nicht
die Antworten sind, die nachhaltig wirken, sondern die damals
aufgeworfenen Fragen nach der Wirklichkeit, dem Geist, den Werten
usw. Solches Fragen hat er in sich wach gehalten.
Andreas Giger machte sich frei von Bindungen
aller Art und wurde dabei nicht einsam. Er fand sich in einem
Netz von Menschen, die wie er neue Werte suchen und Lebensqualität
neu leben. Er stellte fest, dass etwa ein Sechstel der hiesigen
Bevölkerung nicht einem Mehr an Luxus nachstrebt, sondern
qualitative Perspektiven verfolgen wie Lebenssinn, Echtheit oder
Zufriedenheit. Solche Menschen erachtete Andreas Giger als Exponenten
einer bessern Zukunft, als "Bewusstseinselite", welche
die Gesellschaft verändern wird. Diese verkannte Gruppe interessierte
ihn, mit ihr wollte er Zukunftsfragen erörtern und den Wandel
verstärken.
Inzwischen war die Internettechnik so weit
entwickelt, dass Andreas Giger das neue Medium für seine
Studien und nutzen konnte. Vor 10 Jahren gründete er mit
www.sensonet.org eine Plattform, auf welcher er die geistigen
Trends verfolgt und kommentiert. Weitere Internetauftritte wie
www.gigerheimat.ch kamen dazu, auch wissenschaftliche und populäre
Schriften. Im Unterschied zu den eher pessimistischen Endzeitlehren
der Religionen setzt der gefragte Vortragsredner und Autor auf
die Evolution ins Reich der qualitativen Werte.
Interview
Zukunftstrend: Vom Geld zum Geist
Kirchenbote: Herr Giger, warum nennen sie
sich Zukunftsphilosoph und nicht Prophet?
Andreas Giger: In meinen Vorträgen und
Texten geht es um philosophische Fragen und weniger um endgültige
Antworten, wie Religionen sie oft bieten.
Glauben Sie an Gott?
Ich bin ein überzeugter Agnostiker, aber
kein Atheist. Ich bin der Meinung, dass Gott für uns nicht
fassbar ist. Darum vertrete ich wie die Bibel, dass wir uns von
Gott kein Bild machen und seinen Namen nicht leichtfertig aussprechen
sollten.
Gott kommt in Ihren Texten nicht vor?
Dass es in der Evolution zur Personalisierung
kam, deutet auf eine Einbindung des Menschen in die Vertikale.
Wie dieser Bezug benannt oder vorgestellt wird, ist für mich
sekundär. Unsere Patchworkspiritualität bietet viele
Bilder an. Ich spreche z.B. von einer Wende vom Geld zum Geist,
wenn ich die neuen qualitativen Leitwerte deute. Oder ich spreche
vom Unsichtbare, das den Menschen das Gefühl gibt, mit etwas
Höherem verbunden zu sein.
Warum meiden sie die religiöse Sprache?
Ich habe in einer Umfrage nach den Quellen
gefragt, aus denen die Menschen ihren Sinn beziehen. Als Spitzenreiter
wurden genannt: das eigene Innenleben, die Seele, der Geist, aber
auch Beziehungen, die Natur, Philsophie, Esoterik, Religion. Als
Zukunftsphilosoph und Sozialwissenschaftler stelle ich fest, dass
die Menschen aus verschiedenen Quellen Sinn beziehen. Dazu gehört
auch die Religion, aber sie ist nicht mehr das dominante Sinnsystem.
Gehört die Zukunft dem Sinnsystem
Wissenschaft?
Keinesfalls. Die Wissenschaften sind teils
zu geschlossenen Systemen geworden, welche die Dynamik der Evolution
hemmen. Gefragt sind heute Wanderer zwischen den Welten, glaubwürdige
Persönlichkeiten und Übersetzer, die im Warenhaus der
Sinnangebote möglichst unabhängig wählen, was Qualität
und Erfüllung fördert.
Sind wir mit der freien Sinnwahl nicht
überfordert?
Die Reformation hat damit begonnen, den Menschen
die Sinnvermittlung ohne Zwischeninstanz zuzutrauen. Dieser Schritt
zur eigenen Entscheidung ist ein Wagnis, "Qual der Wahl".
Überforderung, Scheitern und Chaos charakterisiert den Übergang
zur neuen Sinnsuche. Was heute zählt ist weniger das Finden,
sondern das Suchen. Wir können uns heute dieses Suchen leisten,
da wir wirtschaftlich gesicherter leben und älter werden.
Lebenskunst und geistiges Wachstum wird zum Thema der Zukunft.
Werden wir damit auch eine bessere Welt
erhalten?
Mit der Zeit werden wir intelligentere Arbeiten
pflegen, zivilisierter Zusammenleben, bewusster konsumieren und
mehr Gelassenheit erfahren. Das in den 80er-Jahren postulierte
qualitative Wachstum beginnt erst jetzt wahrnehmbar zu werden.
Text
und Interview Andreas Schwendener