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Jenseits von Konfusion: Die LebensqualitätsmärkteI

 

Jenseits von Konfusion: die Lebensqualitäts-Märkte

Wonach sich die Konsumenten der Zukunft orientieren werden, zeichnet sich am Horizont ab. Eine neue Ordnung der Werte der Individuen wird sichtbar. Sie organisiert sich um einen zentralen Leitwert herum: Lebensqualität. Immer mehr werden Kaufentscheide auf Grund einer einzigen Frage getätigt: Führt das mein Lebensqualitäts-Konto ins Minus oder ins Plus ?

Von Dr. Andreas Giger*

erschienen in THEXIS, Fachzeitschrift für Marketing der Universität St.Gallen. 4.2004

Wer bei anderen Konfusion diagnostiziert, sollte vorsichtig sein, denn es gilt auch hier, dass alles im Auge des Betrachters liegt. Bekanntlich kann ein Schreibtisch, welcher der ganzen Umgebung als das nackte Chaos vorkommt, dem Besitzer selbst keinerlei Mühe machen, etwas zu finden. Und spätestens seit der Chaos-Theorie wissen wir, dass Chaos meist nichts anderes ist als eine noch nicht erkannte Form von Ordnung auf höherer Ebene.

Vielleicht gibt es also gar keine Consumer Confusion", sondern nur die Unfähigkeit des Marketings, neue Ordnungen und Muster im scheinbaren Chaos des Denkens und Verhaltens der Konsumentinnen und Konsumenten zu erkennen. Dann wäre es allerdings naheliegender, von einer "Marketing Confusion" zu reden...

Individuen statt Kategorien

Entlastend wollen wir dem Marketing zu Gute halten, dass das Verhalten der Konsumenten tatsächlich verwirrlicher geworden ist. Jedenfalls in den Kategorien des alten, klassischen Marketings, als es noch darum ging, die Märkte in Zielgruppen und Kundensegmente zu unterteilen. Wusste man mal, zu welcher Kategorie ein Kunde gehörte, so konnte man dessen Bedürfnisse und Verhaltensweisen ziemlich genau vorhersagen.

Wenn es damit längst vorbei ist, so ist dies weitgehenden auf einen einzigen grossen soziokulturellen Megatrend zurückzuführen: die Individualisierung. Diese Tendenz, den einzelnen Menschen nicht nur in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihm auch immer mehr Freiheiten zu lassen, ist tief in der westlichen Kultur verankert, doch so richtig durchgesetzt hat sie sich bei uns erst ab den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Die Emanzipation des Individuums bedeutet in ihrem Kern nichts anderes als den Schritt weg vom "man" ("das tut man so", "so denkt man nicht") hin zum "ich" ("ich sehe das so", "für mich stimmt das"). Nicht mehr Kirche, Staat oder gesellschaftliche Herkunft entscheiden darüber, was für uns gut und richtig ist. Wir tun es selber, und sind dabei von Lebensverwaltern zu Lebensgestaltern geworden.

Bei der individuellen Gestaltung unseres Lebens sind wir nicht nur wesentlich freier geworden, wir haben auch eine ungleich grössere Auswahl an Möglichkeiten. Die Multioptions-Gesellschaft zeigt sich nicht nur in einem beinahe unübersehbar gewordenen Angebot an Zahnpasten und Versicherungspolicen, sondern auch in einem Supermarkt der Lebensentwürfe und der dazu gehörigen Orientierungssysteme.

Die Qual der Wahl

Und genau darauf ist das zeitgenössische Individuum mehr denn je angewiesen: auf Orientierung. Wonach soll ich mein Leben ausrichten ? Was bedeutet mir wieviel ? Was ist mir wieviel wert ? Solche Fragen bewegen die einzelnen Menschen mehr denn je, denn es gibt niemanden mehr, der ihnen die Antworten abnehmen kann. Sie können selber entscheiden, aber sie müssen auch, und dabei stossen sie unweigerlich auf etwas, was der Volksmund lange schon kennt: die Qual der Wahl.

Wenn jemand, der bisher nichts kannte ausser seinem kleinen Dorfladen mit einem sehr beschränkten Angebot, das erste mal einen grossen Supermarkt betritt, ist er mit ziemlicher Sicherheit zunächst einmal ziemlich verwirrt, und er wird sich konfus verhalten, bis er die neuen Freiheiten richtig nutzen und geniessen kann. In historischen Zeiträumen gemessen ist die Individualisierung noch sehr jung, und es kann daher nicht erstaunen, dass wir kollektiv noch mitten in der Phase der Konfusion stecken. Werte-Wandel geschieht nicht über Nacht, wir brauchen Zeit, uns an die neue Situation zu gewöhnen.

Apropos Werte-Wandel: Bei den Werten, also bei dem, was uns etwas wert ist, zeigt sich der Prozess der Individualisierung besonders schön. Nicht nur bei der Wahl von Lebenspartnern und Formen des Zusammenlebens, nicht nur bei der Auswahl von dem, was wir beruflich und in der Freizeit tun, und nicht nur beim Kauf von Shampoos und Reisezielen können und müssen wir uns selber frei entscheiden, sondern auch bei der Wahl unserer Werte. Also bei der Frage, wonach wir, jenseits aller kurzlebigen Wünsche, unser Leben ausrichten wollen.

Diese neue Freiheit führte, verständlicherweise, zunächst zur Konfusion. Die alten Werte schienen obsolet, überzeugende neue Alternativen waren nicht in Sicht. Das führte in einem Anfall von kollektiver Verwirrung zunächst dazu, dass eine ganze Gesellschaft während eines ganzen Jahrzehntes ihr gesamtes Werte-System auf einen einzigen "Wert" reduzierte, nämlich den Wert, möglichst viele materielle Werte zu scheffeln.

Werte werden was wert

Das hat nicht nur ökonomisch nicht geklappt. Man braucht sich nicht mal auf die Bibel zu berufen, um zu erkennen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Die Neunziger haben deshalb, zunächst bei den nachdenklichen Vordenkern, und dann immer mehr in breiteren Kreisen, zur Frage geführt, ob ein geglücktes Leben wirklich ausschliesslich von möglichst vielen materiellen Gütern abhänge. Ob mehr Konsum wirklich mehr Glück oder auch nur mehr Zufriedenheit bringe. Ob weniger nicht manchmal gar mehr wäre.

Und weil solcher und ähnlicher Fragen mehr werden, wächst ein noch immer unterschätzter Trend: Simplifying. Verzicht auf überflüssigen Ballast, auch und gerade beim Konsum. Dahinter steckt keineswegs eine neue Askese, es geht nicht um Verzicht an sich. Es geht um die Befreiung von Fesseln, um sich besser auf das Essenzielle im Leben konzentrieren zu können.

Woraus aber besteht dieses Essenzielle ? Schält sich im scheinbar hoffnungslos zersplitterten Werte-Universum der Individuen von heute und morgen so etwas wie ein Zentrum heraus ? Bündeln sich die vielen wirren und konfusen Einzelwerte allmählich zu einem Leitwert, der über das einzelne Individuum hinaus allgemein Gültigkeit und Einfluss erlangt ?

Das sind alles andere als abgehobene philosophische Fragen ohne Bedeutung für das praktische Leben, sprich für das Marketing. Denn schon heute, verstärkt aber noch morgen, gilt: Alle Wertschöpfung geht von den Werten des Individuums aus. Dieses entscheidet auf Grund seiner Werte, was ihm so viel wert ist, dass es gekauft wird.

Wenn sich nun bei immer mehr Individuen jenseits einer verständlichen Phase der Konfusion der Werte eine neue Ordnung abzeichnet, in der sich um einen zentralen Leitwert herum, der zwar für jede und jeden etwas eigenes bedeutet, und doch viele Gemeinsamkeiten aufweist, lauter wichtige Einzelwerte bündeln und verdichten, dann bedeutet dies: Es gibt, auch für das Marketing, einen Schlüssel zum Verständnis der Werte der Individuen jenseits der Konfusion.

Leitwert Lebensqualität

Dieser Schlüssel heisst "Lebensqualität". In einer soeben erschienenen Studie des Zukunftsinstituts** konnte ich zeigen, dass dieser unscheinbare Begriff das Zeug dazu hat, zum Leitwert des 21. Jahrhunderts zu werden.

Folgende sieben Gründe für die Eignung von Lebensqualität als Leitwert im Zentrum des Werteuniversums lassen sich empirisch begründen:

Lebensqualität eignet sich als Richtschnur für Lebensgestaltung: "Lebensqualität wird immer mehr zum Leitwert meiner eigenen Lebensgestaltung" - "... wird für immer mehr Menschen zum obersten Leitwert": Das sind Szenarios von höchster Attraktivität.

Lebensqualität betrifft das (ganze) Leben: Die eigene Positionierung in Raum und Zeit, die eigenen Tätigkeitsfelder, das menschliche Umfeld - Lebensqualität betrifft alle Lebenssphären und bündelt sie zum ganzheitlichen eigenen Leben.

Lebensqualität verbindet und lässt individuelle Spielräume: Lebensqualität lässt sich nur individuell definieren, leben und spüren, und kann trotzdem zum verbindenden Ziel werden.

Lebensqualität ist wandlungsfähig: Das Konzept Lebensqualität ist nicht abschliessend definiert, sondern kann sich dem Wandel der Zeitläufte anpassen.

Lebensqualität ist optimierbar: Das Optimum der eigenen Lebensqualität ist noch nicht erreicht - was einen enormen Antrieb zur Optimierung bildet.

Lebensqualität ist lernbar: Lebensgestaltung in Freiheit und Eigenverantwortung mit der generellen Zielrichtung von mehr Lebensqualität: das lässt sich lernen.

Lebensqualität liegt im Trend: Der allgemeine Shift von Quantität zu Qualität, der Simplify-Trend, der Wellness-Boom, die wachsende Attraktivität von Reife und Weisheit: alles passt.

Lebensqualitäts-Konten

Wenn Lebensqualität mehr und mehr zum Wert aller Werte, zum Leitwert im Zentrum des Werteuniversums wird, dann werden Konsumentscheide mehr und mehr von einer Frage beherrscht: Verbessert dieses Angebot meine Lebensqualität, oder vermindert es sie ?

Die wichtigste marktwirtschaftliche Spielregel der Zukunft wird deshalb hart, aber gerecht sein: Wer die Lebensqualität seiner Kunden beeinträchtigt, fliegt raus. Wer sie verbessert, wird belohnt.

Die wichtigsten Lebensqualitätskiller sind: Zeitklau. Mangelnder Respekt vor dem Kunden. Beleidigungen für Auge und/oder Verstand. Alles, was nicht benutzerfreundlich ist. Mangelnde Durchschaubarkeit von Angeboten. (siehe Grafik)

Lebensqualität verbessern kann alles, was das seelische und körperliche Wohlsein fördert, was das eigene Wissen vermehrt, alles, auf das man sich wirklich verlassen kann, was mehr "Eigenzeit" bringt, was wirklich Qualität hat und ist, was das Leben angenehmer, leichter und einfacher macht, was das Beziehungsnetz wachsen lässt, was Stress vermindert und was in der "Kunst des Lebens" weiter hilft. (siehe Grafik)

Die neuen Märkte

Für immer mehr Anbieter von Waren, Diensten und Werten wird sich in Zukunft die Frage nicht mehr stellen, ob sie in die Lebensqualitäts-Märkte eintreten wollen oder nicht. Vielmehr werden sie automatisch hineingesogen, weil sich immer mehr Märkte zu Lebensqualitäts-Märkten entwickeln.

Als Anreiz dazu, sich dieser Herausforderung frohgemut zu stellen, mag diese Prophezeiung von Matthias Horx dienen: ªAlle wirklich profitablen Märkte der Zukunft sind Lebensqualitäts-Märkte.´

Dazu zum Schluss noch ein Tipp: Wer sich in den Kopf seiner aktuellen und künftigen Kunden hinein versetzen will, versetzt sich am besten in den eigenen Kopf. Denn es gilt: "Was Lebensqualität ist, kann jeder(r) nur für sich sagen." Also stellen Sie sich ruhig immer wieder die Frage, was für Sie als Kundin oder Konsument Lebensqualität ausmachen würde, und was nicht...

 

*Andreas Giger lebt und arbeitet als selbständiger Zukunftsforscher und Zukunfts-Philosoph im appenzellischen Wald (www.gigerheimat.ch)

** Die Trendstudie "Lebensqualitäts-Märkte" ist soeben erschienen. Informationen dazu www.zukunftsinstitut.de).

 

 

 

Grafiken zm Artikel

Lebensqualiäts-Förderer:

Lebensqualitäts-Killer:

 

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