"Es
gibt Stadtmäuse und Landmäuse. Ich bin eher eine Landmaus.
Deshalb lebe ich auf dem Land", sagt Andreas Giger. Das 54-jährige
"Landei" wohnt über dem Nebel, in Wald AR, wo er
eine unvergleichliche Aussicht auf die Bergwelt mit Säntis
& Co. geniesst.
Ihre
Adresse ist eine Landbeiz im Appenzellischen. Etwas banal-ländlich
für einen, der sich mit Zukunftsfragen befasst und der sich
selber als Zukunfts-Philosophen bezeichnet.
Ich
habe in Zürich, Basel und München gelebt. Aber hier
auf dem Land ist es mir am Wohlsten. Philosophie braucht ein Stück
Distanz, braucht Überblick. Mein Denken ist so "chaotisch"
wie die hiesige Hügellandschaft. Ich bin aber kein Eingeborener,
sondern ein Wahl-Appenzeller.
Was
tun Sie denn eigentlich den ganzen Tag, hier in dieser winterlichen
Idylle? Sind sie der "Weise vom Berg", wie es irgendwo
auf Ihrer Internetseite steht?
Das
möchte ich allenfalls mal werden... Überhaupt interessiert
mich weniger, was ist, als vielmehr, was sein wird. Ein wesentlicher
Teil meiner Arbeit besteht dabei aus Denken wobei ich dem Grundsatz
folge "Trau keinem Gedanken, den du nicht im Gehen verfasst
hast". Dazu brauche ich dieses Appenzeller "Basislager",
das mir dank Internet auch den Anschluss an die Welt ermöglicht:
Meine Forschungen etwa kann ich von hier aus online betreiben.
Sie
behaupten zum Beispiel, dass in den nächsten Jahren eine
starke Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein bevorsteht, mehr
Geist, weniger Ideologie. Sie plädieren für eine neue
Disziplin des Denkens und nennen das "Mindness".
Der
Ausdruck stammt nicht von mir, und ich bin mit solchen Neo-Anglizismen
auch nicht glücklich. Mindness heisst kreativer und produktiver
Denken, heisst mit Optimismus vorwärts zu blicken. Heute
ist das öffentliche Denken noch durchtränkt von Pessimismus,
Nostalgie und Sentimentalität.
Stellen
Sie denn eine Trendwende, weg von solchen Denken fest?
Durchaus,
ein solcher Trend ist feststellbar, wie eine Studie zum Thema
"Geld und Geist" ergeben hat. In der Hitparade der erstrebenswerten
Werte schwingen Lebenssinn, Lebensqualität, Wahrheit oder
Eigenverantwortung obenaus. Das heisst aber nicht, dass wir morgen
plötzlich von herrschenden Ideologien Abschied nehmen. Das
sind schleichende Prozesse, die Zeit brauchen. Doch im Verborgenen
strebt schon eine wachsende Minderheit diesen neuen Geist an.
Wie
zeigt sich dies im Alltag?
Indizien
sind, dass zum Beispiel das Leben in einem Kloster im letzten
Migros-Magazin zum Thema gemacht wird. Oder das Boomen von Philosophencafés.
Impulse für bewusste Lebenskunst, etwa in Buchform, stossen
auf verstärkte Nachfrage.
Ist
Geist geil?
Geist
wird geil werden. Es wird gehen wie beim Älterwerden: Das
galt bisher als unsexy. Jetzt ist Reife plötzlich gefragt.
Ist
unser Denken zu pessimistisch?
Es
ist eine Neigung zum Jammern feststellbar, in Deutschland noch
ausgeprägter als in der Schweiz. Wir sollten nicht nur die
Risiken der Zukunft fürchten, sondern die Chancen und das
Potential der kommenden Zeiten nutzen und mit mehr Optimismus
in die Zukunft blicken.
Was
müsste sich in der Wirtschaft ändern?
Ich
wundere mich, dass diese überhaupt noch funktioniert. Sie
hat, nur so als Beispiel, das Potential der über 50-jährigen
Menschen noch nicht erkannt. Das sind nicht nur erfahrene, kluge
Mitarbeiter, sondern auch anspruchsvolle Konsumenten. Der Wirtschaft
mangelt es an Geist, an Vernunft, was sich auch bei den überrissenen
Managergehältern zeigt, das ist nackte Gier.
Muss
stetes Wachstum sein, oder gelangen wir an Grenzen?
Wir
im Westen nähern uns tatsächlich der Limite, denn Wachstum
ist nicht unendlich. Auch die Chinesen werden irgend wann an diesem
Punkt angelangt sein. Wachstumsraten wie in den Sechzigerjahren
sind eine Illusion. Das wird die Herausforderung für die
Gesellschaft der Zukunft sein. Wir werden lernen müssen,
damit umzugehen. Ich sehe als Reaktion auf die materielle
Sättigung eine Bewegung hin zu mehr Geist, mehr Denken. Wir
fragen uns verstärkt, wie wir mit einem Weniger an materiellen
Werten ein Mehr an Lebensqualität und Lebenssinn erzielen
können.
In
einem Ihrer Vorträge sprechen sie davon, dass künftig
eine "Wissensgesellschaft" entsteht. Was verstehen sie
darunter?
Wir
leben erst in einer Informationsgesellschaft, die gelernt hat,
Daten zu verknüpfen. Wissen aber bedeutet, Informationen
miteinander zu verknüpfen, Zusammenhänge herzustellen
und Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden. Das Idealziel
wäre, dadurch mehr Weisheit zu erlangen.
Sie
behaupten, wir hätten einen uns inne wohnenden Drang nach
Bewusstseinserweiterung. Welche Drogen empfehlen Sie?
(Lacht)
Darum geht es nicht, sondern um das Leitmotiv, das schon die Griechen
propagierten - erkenne dich selbst - und die Welt um dich herum.
Darauf gründet sich unsere Kultur. Anders als beim materiellen
Wachstum gibt es für die Erweiterung des Geistes keine Grenzen.
Sein Bewusstsein zu erweitern bedeutet lebenslanges Lernen, heisst
aber auch, einseitiges Entweder-Oder-Denken zu überwinden.
Sie
sagen, reife Menschen wissen, was Lebensqualität ist, was
diese einschränkt und was sie fördert. Da sollte man
eigentlich gleich aufs Auto verzichten.
Die
Redewendung "man sollte" ist im alltäglichen Leben
nur beschränkt tauglich. Für manche Leute ist der Verlust
des Autos ein Verlust an Lebensqualität. Für andere
ist es aber genau umgekehrt. Das ist sehr individuell.
Wie
halten es denn Sie persönlich in dieser Beziehung?
Vom
medizinischen Standpunkt aus gesehen sollte man ja jeden Tag mindestens
eine halbe Stunde zu Fuss gehen. Ich tue das, indem ich zum täglichen
Einkaufen den Kilometer bis ins Dorf hinunter laufe. Und wenn
ich zu meiner Liebsten nach München fahre, lasse ich das
Auto in St.Margrethen stehen und nehme dann den Zug. Auch Lebensqualität
im Bereich Mobilität ist nur individuell definierbar.
Sie
kritisieren den Jugendwahn in der Werbung, bemūngeln, dass die
Werbung vor allem die 19- bis 49-Jährigen ins Auge fasst.
Ja,
dabei sind reife Menschen anspruchsvolle Verbraucherinnen und
Verbraucher. Und zu ihren wichtigsten Ansprüchen gehört
der Wunsch, ernst genommen zu werden.
Wird
dem Jugendwahn deshalb ein Ende gesetzt?
Das
nicht, es wäre auch nicht sinnvoll. Aber alles an seinem
Platz: Wir dürfen nicht vergessen, dass das Durchschnittalter
eines Käufers einer Harley-Davidson 50 Jahre ist!
Wird
in Zukunft die Inividualisierung noch weiter verstärkt?
Ja,
der Trend, sein Leben nach eigenen Werten zu leben geht weiter.
Doch das bedeutet keineswegs soziale Zersplitterung und Vereinzelung.
Im Gegenteil. Es gibt Anzeichen, dass soziale Werte wieder zunehmen.
Wir sind als Wesen auf andere angewiesen, Solotrips sind uncool.
Und der eigene Bauchnabel ist nicht abendfüllend.
Wo
erkennen Sie solche Anzeichen?
Zum
Beispiel, wenn Zeitschriften wie Geo oder Stern und auch andere
vermehrt soziale Themen wie Mitmenschlichkeit oder Solidarität
in den Vordergrund rücken.
Pflegen
wir überhaupt genügend Solidarität?
Ich
denke wohl, aber sie befindet sich im Wandel, indem Beziehungen
lockerer gelebt werden oder neue Formen des Zusammenlebens gefunden
werden, auch über die Generationen hinweg. Rentner sein muss
nicht Mallorca und Kreuzfahrt bedeuten, sondern beispielsweise
eine Erfüllung, indem Pensionierte in Schulen die Lehrer
entlasten. Das sind neue Formen der Solidarität. Und das
ist kein Wunschdenken; das ist zum Teil bereits Realität.
Wie
steht es mit dem Zusammenhalt der Familien? Es gab noch nie so
viele Scheidungen, noch nie so viele allein Erziehende.
Die
Vielfalt der Formen des Zusammenlebens wird sich verstärken.
Die Tendenz geht hin zu Patchwork-Familien, neuen Wohngemeinschaften,
Beziehungen auf Distanz. Es gibt auch Ansätze zu Mehr-Generationen-Familien.
Doch auch die "normale" Familie wird als eine Möglichkeit
überleben.
Wie
erklären Sie sich die hohe Selbstmordrate in einem so reichen
Land?
Es
mangelt an der Kommunikationskultur. Wir sind unfähig, über
unsere eigenen Gefühle zu sprechen. Mangelnde Kommunikation,
ob diese nun verbal oder über SMS erfolgt, führt zu
Vereinsamung.
Jemand
hat den Begriff der "Beschleunigten Gesellschaft" geprūgt.
Heute muss alles schnell gehen, sogar in den Ferien sind wir gehetzt.
Werden wir den Mut zur Langsamkeit haben?
Ich
hoffe es. Jeder Trend bewirkt einen Gegentrend. Kreativität
verlangt mehr Langsamkeit; mehr Geist bedeutet mehr Langsamkeit.
Es klingt langweilig, aber ein Mittelweg ist das Gescheiteste.
Wie
sieht unsere virtuelle Zukunft aus?
Die
Grundsätze sind gelegt. Was jetzt kommt, sind Optimierungen.
Stichworte: Home-Kino, neue Arbeitsformen oder der grenzenlose
Marktplatz E-Bay. Aber virtueller Sex wird sich nicht durchsetzen.
Genauso wie das papierlose Büro oder der Milch bestellende
Kühlschrank Illusionen sind.
Ist
die Eidgenossenschaft ein Auslaufmodell?
Im
Gegenteil. Aus unserem Erfahrungsschatz könnte man durchaus
noch mehr machen. Je reifer ich werde, desto mehr gelange ich
zur Erkenntnis, dass es ein Modell mit Zukunft ist. Aber es ist
im Moment durch den Politstil der SVP und der sich dieser anpassenden
Linken in Gefahr.
Heute
steht die Angst vor einem Stellenverlust im Vordergrund. Welches
wird die Angst der Zukunft sein?
Das
wird sich in naher Zukunft nicht ändern. Vergessen wir nicht.
Die Vollbeschäftigung, die Hochkonjunktur nach Ende des Zweiten
Weltkrieges bis in die 80er-Jahre war eine Ausnahmeerscheinung.
Was wir jetzt haben, ist die Regel.
Wo
sehen Sie den Trend bei den Religionen, beim Glauben?
Man
wird sich ein Menu zusammenstellen, von jedem etwas, was gerade
passt, doch für Viele wird der Glaube verstärkt zum
Thema werden. Nicht zuletzt, weil wir älter werden und deshalb
mehr Zeit haben, über den Sinn des Lebens nachzudenken.
Also
jedem sein eigener Glaube?
Ja,
so kann man das sehen.
Interview
Carl Bieler
Bilder
Vera Hartmann