Gigerheimat: Worte
Der Gigerzähler

 

Der Gigerzähler

Ein Beitrag aus "MIGROS MAGAZIN". Nr. 52, 27. Dezember 2005

"Es gibt Stadtmäuse und Landmäuse. Ich bin eher eine Landmaus. Deshalb lebe ich auf dem Land", sagt Andreas Giger. Das 54-jährige "Landei" wohnt über dem Nebel, in Wald AR, wo er eine unvergleichliche Aussicht auf die Bergwelt mit Säntis & Co. geniesst.

Ihre Adresse ist eine Landbeiz im Appenzellischen. Etwas banal-ländlich für einen, der sich mit Zukunftsfragen befasst und der sich selber als Zukunfts-Philosophen bezeichnet.

Ich habe in Zürich, Basel und München gelebt. Aber hier auf dem Land ist es mir am Wohlsten. Philosophie braucht ein Stück Distanz, braucht Überblick. Mein Denken ist so "chaotisch" wie die hiesige Hügellandschaft. Ich bin aber kein Eingeborener, sondern ein Wahl-Appenzeller.

Was tun Sie denn eigentlich den ganzen Tag, hier in dieser winterlichen Idylle? Sind sie der "Weise vom Berg", wie es irgendwo auf Ihrer Internetseite steht?

Das möchte ich allenfalls mal werden... Überhaupt interessiert mich weniger, was ist, als vielmehr, was sein wird. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit besteht dabei aus Denken wobei ich dem Grundsatz folge "Trau keinem Gedanken, den du nicht im Gehen verfasst hast". Dazu brauche ich dieses Appenzeller "Basislager", das mir dank Internet auch den Anschluss an die Welt ermöglicht: Meine Forschungen etwa kann ich von hier aus online betreiben.

Sie behaupten zum Beispiel, dass in den nächsten Jahren eine starke Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein bevorsteht, mehr Geist, weniger Ideologie. Sie plädieren für eine neue Disziplin des Denkens und nennen das "Mindness".

Der Ausdruck stammt nicht von mir, und ich bin mit solchen Neo-Anglizismen auch nicht glücklich. Mindness heisst kreativer und produktiver Denken, heisst mit Optimismus vorwärts zu blicken. Heute ist das öffentliche Denken noch durchtränkt von Pessimismus, Nostalgie und Sentimentalität.

Stellen Sie denn eine Trendwende, weg von solchen Denken fest?

Durchaus, ein solcher Trend ist feststellbar, wie eine Studie zum Thema "Geld und Geist" ergeben hat. In der Hitparade der erstrebenswerten Werte schwingen Lebenssinn, Lebensqualität, Wahrheit oder  Eigenverantwortung obenaus. Das heisst aber nicht, dass wir morgen plötzlich von herrschenden Ideologien Abschied nehmen. Das sind schleichende Prozesse, die Zeit brauchen. Doch im Verborgenen strebt schon eine wachsende Minderheit diesen neuen Geist an.

Wie zeigt sich dies im Alltag?

Indizien sind, dass zum Beispiel das Leben in einem Kloster im letzten Migros-Magazin zum Thema gemacht wird. Oder das Boomen von Philosophencafés. Impulse für bewusste Lebenskunst, etwa in Buchform, stossen auf verstärkte Nachfrage.

Ist Geist geil?

Geist wird geil werden. Es wird gehen wie beim Älterwerden: Das galt bisher als unsexy. Jetzt ist Reife plötzlich gefragt.

Ist unser Denken zu pessimistisch?

Es ist eine Neigung zum Jammern feststellbar, in Deutschland noch ausgeprägter als in der Schweiz. Wir sollten nicht nur die Risiken der Zukunft fürchten, sondern die Chancen und das Potential der kommenden Zeiten nutzen und mit mehr Optimismus in die Zukunft blicken.

Was müsste sich in der Wirtschaft ändern?

Ich wundere mich, dass diese überhaupt noch funktioniert. Sie hat, nur so als Beispiel, das Potential der über 50-jährigen Menschen noch nicht erkannt. Das sind nicht nur erfahrene, kluge Mitarbeiter, sondern auch anspruchsvolle Konsumenten. Der Wirtschaft mangelt es an Geist, an Vernunft, was sich auch bei den überrissenen Managergehältern zeigt, das ist nackte Gier.

Muss stetes Wachstum sein, oder gelangen wir an Grenzen?

Wir im Westen nähern uns tatsächlich der Limite, denn Wachstum ist nicht unendlich. Auch die Chinesen werden irgend wann an diesem Punkt angelangt sein. Wachstumsraten wie in den Sechzigerjahren sind eine Illusion. Das wird die Herausforderung für die Gesellschaft der Zukunft sein. Wir werden lernen müssen, damit umzugehen.  Ich sehe als Reaktion auf die materielle Sättigung eine Bewegung hin zu mehr Geist, mehr Denken. Wir fragen uns verstärkt, wie wir mit einem Weniger an materiellen Werten ein Mehr an Lebensqualität und Lebenssinn erzielen können.

In einem Ihrer Vorträge sprechen sie davon, dass künftig eine "Wissensgesellschaft" entsteht. Was verstehen sie darunter?

Wir leben erst in einer Informationsgesellschaft, die gelernt hat, Daten zu verknüpfen. Wissen aber bedeutet, Informationen miteinander zu verknüpfen, Zusammenhänge herzustellen und Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden. Das Idealziel wäre, dadurch mehr Weisheit zu erlangen.

Sie behaupten, wir hätten einen uns inne wohnenden Drang nach Bewusstseinserweiterung. Welche Drogen empfehlen Sie?

(Lacht) Darum geht es nicht, sondern um das Leitmotiv, das schon die Griechen propagierten - erkenne dich selbst - und die Welt um dich herum. Darauf gründet sich unsere Kultur. Anders als beim materiellen Wachstum gibt es für die Erweiterung des Geistes keine Grenzen. Sein Bewusstsein zu erweitern bedeutet lebenslanges Lernen, heisst aber auch, einseitiges Entweder-Oder-Denken zu überwinden.

Sie sagen, reife Menschen wissen, was Lebensqualität ist, was diese einschränkt und was sie fördert. Da sollte man eigentlich gleich aufs Auto verzichten.

Die Redewendung "man sollte" ist im alltäglichen Leben nur beschränkt tauglich. Für manche Leute ist der Verlust des Autos ein Verlust an Lebensqualität. Für andere ist es aber genau umgekehrt. Das ist sehr individuell.

Wie halten es denn Sie persönlich in dieser Beziehung?

Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen sollte man ja jeden Tag mindestens eine halbe Stunde zu Fuss gehen. Ich tue das, indem ich zum täglichen Einkaufen den Kilometer bis ins Dorf hinunter laufe. Und wenn ich zu meiner Liebsten nach München fahre, lasse ich das Auto in St.Margrethen stehen und nehme dann den Zug. Auch Lebensqualität im Bereich Mobilität ist nur individuell definierbar.

Sie kritisieren den Jugendwahn in der Werbung, bemūngeln, dass die Werbung vor allem die 19- bis 49-Jährigen ins Auge fasst.

Ja, dabei sind reife Menschen anspruchsvolle Verbraucherinnen und Verbraucher. Und zu ihren wichtigsten Ansprüchen gehört der Wunsch, ernst genommen zu werden.

Wird dem Jugendwahn deshalb ein Ende gesetzt?

Das nicht, es wäre auch nicht sinnvoll. Aber alles an seinem Platz: Wir dürfen nicht vergessen, dass das Durchschnittalter eines Käufers einer Harley-Davidson 50 Jahre ist!

Wird in Zukunft die Inividualisierung noch weiter verstärkt?

Ja, der Trend, sein Leben nach eigenen Werten zu leben geht weiter. Doch das bedeutet keineswegs soziale Zersplitterung und Vereinzelung.  Im Gegenteil. Es gibt Anzeichen, dass soziale Werte wieder zunehmen. Wir sind als Wesen auf andere angewiesen, Solotrips sind uncool. Und der eigene Bauchnabel ist nicht abendfüllend.

Wo erkennen Sie solche Anzeichen?

Zum Beispiel, wenn Zeitschriften wie Geo oder Stern und auch andere vermehrt soziale Themen wie Mitmenschlichkeit oder Solidarität in den Vordergrund rücken.

Pflegen wir überhaupt genügend Solidarität?

Ich denke wohl, aber sie befindet sich im Wandel, indem Beziehungen lockerer gelebt werden oder neue Formen des Zusammenlebens gefunden werden, auch über die Generationen hinweg. Rentner sein muss nicht Mallorca und Kreuzfahrt bedeuten, sondern beispielsweise eine Erfüllung, indem Pensionierte in Schulen die Lehrer entlasten. Das sind neue Formen der Solidarität. Und das ist kein Wunschdenken; das ist zum Teil bereits Realität.

Wie steht es mit dem Zusammenhalt der Familien? Es gab noch nie so viele Scheidungen, noch nie so viele allein Erziehende.

Die Vielfalt der Formen des Zusammenlebens wird sich verstärken. Die Tendenz geht hin zu Patchwork-Familien, neuen Wohngemeinschaften, Beziehungen auf Distanz. Es gibt auch Ansätze zu Mehr-Generationen-Familien. Doch auch die "normale" Familie wird als eine Möglichkeit überleben.

Wie erklären Sie sich die hohe Selbstmordrate in einem so reichen Land?

Es mangelt an der Kommunikationskultur. Wir sind unfähig, über unsere eigenen Gefühle zu sprechen. Mangelnde Kommunikation, ob diese nun verbal oder über SMS erfolgt, führt zu Vereinsamung.

Jemand hat den Begriff der "Beschleunigten Gesellschaft" geprūgt. Heute muss alles schnell gehen, sogar in den Ferien sind wir gehetzt. Werden wir den Mut zur Langsamkeit haben?

Ich hoffe es. Jeder Trend bewirkt einen Gegentrend. Kreativität verlangt mehr Langsamkeit; mehr Geist bedeutet mehr Langsamkeit. Es klingt langweilig, aber ein Mittelweg ist das Gescheiteste.

Wie sieht unsere virtuelle Zukunft aus?

Die Grundsätze sind gelegt. Was jetzt kommt, sind Optimierungen. Stichworte: Home-Kino, neue Arbeitsformen oder der grenzenlose Marktplatz E-Bay. Aber virtueller Sex wird sich nicht durchsetzen. Genauso wie das papierlose Büro oder der Milch bestellende Kühlschrank Illusionen sind.

Ist die Eidgenossenschaft ein Auslaufmodell?

Im Gegenteil. Aus unserem Erfahrungsschatz könnte man durchaus noch mehr machen. Je reifer ich werde, desto mehr gelange ich zur Erkenntnis, dass es ein Modell mit Zukunft ist. Aber es ist im Moment durch den Politstil der SVP und der sich dieser anpassenden Linken in Gefahr.

Heute steht die Angst vor einem Stellenverlust im Vordergrund. Welches wird die Angst der Zukunft sein?

Das wird sich in naher Zukunft nicht ändern. Vergessen wir nicht. Die Vollbeschäftigung, die Hochkonjunktur nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 80er-Jahre war eine Ausnahmeerscheinung. Was wir jetzt haben, ist die Regel.

Wo sehen Sie den Trend bei den Religionen, beim Glauben?

Man wird sich ein Menu zusammenstellen, von jedem etwas, was gerade passt, doch für Viele wird der Glaube verstärkt zum Thema werden. Nicht zuletzt, weil wir älter werden und deshalb mehr Zeit haben, über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Also jedem sein eigener Glaube?

Ja, so kann man das sehen.


Interview Carl Bieler

Bilder Vera Hartmann

 

 

 

 

 

 

 

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