Essay:
Nahlust
statt Fernweh
Von Andreas Giger
Plädoyer für einen
intelligenten Tourismus
Oder: Warum in die Ferne schweifen
... ?
(Weltwoche Spezial, Nr. 18. 6.
Mai 1999)
Die wirksamste Methode, aus einem
öden Ort irgendwo in den Pampas eine touristische Goldgrube zu
machen, besteht noch immer darin, ihn zum Geheimtip zu (v)erklären.
Andererseits wird niemand, der wirklich um ein Geheimnis weiss, daraus
jemals einen Tip machen wollen. Im Falle von "intelligentem Tourismus"
lässt sich der Marketingtrick "Geheimtip" einsetzen,
ohne Gefahr zu laufen, dass daraus ein Massenphänomen wer den könnte.
Dafür ist der Rohstoff Intelligenz einfach zu limitiert.
Was nicht heissen soll, dass
er keine Zukunft hat. Im Gegenteil: Intelligenz wird zu den attraktivsten
Schlüsselbegriffen des nächsten Jahrhunderts gehören.
Intelligenz wird sexy und damit auch "intelligenter Tourismus"
als intelligentes Nischenangebot von intelligenten Gastgebern für
intelligente Gäste.
Stellen Sie sich vor, Sie wären
verantwortlich für die Tourismusförderung in, sagen wir mal,
der Ostschweiz oder auch in Oberfranken, einer durchaus vergleichbaren
Gegend. Schon eine grobe Bestandesanalyse zeigt, dass Sie in der globalen
Arena des mittlerweile bedeutsamen Geschäftsfeldes namens Tourismus
mit reichlich kurzen Spiessen ausgerüstet sind. Die schüchtern
aufkeimende Hoffnung, wenigstens etwas , grössere Rinnsale der
immer noch mächtig anschwellenden Touristenströme in die eigene
Gegend und Kasse lenken zu können, wird jäh zunichte, wenn
Sie sich klarmachen, was diese Touristenströme wollen: Nur weg
von hier, egal wohin, solange es Meer und Sonne gibt - und das alles
zu absurd tiefen Preisen. Lauter Dinge so, die Sie weder in der Ostschweiz
noch in Oberfranken zu bieten haben. Für diesen Wettbewerb, wo
rohe Kräfte spielen, haben Sie einfach zuwenig Muskeln. Also bleibt
nur eines: Köpfchen.
Neues Nomadendasein
Zehntausend Jahre lang lebte
die Menschheit einigermassen sesshaft, doch kaum hat sie die technischen
und ökonomischen Mittel dazu, knüpft sie nahtlos an jenes
Nomadendasein an, las sie zuvor für viele hunderttausend Jahre
gelebt hatte. Die eruptive Wucht, mit der sich die Massenmobilität
am Ende dieses Jahrhunderts ausbreitet, lässt auf starke Antriebskräfte
schliessen, die mit moralischen Appellen weder umzulenken noch gar zu
stoppen sind. Wohl verebbt jede Eruption eines Tages, doch dürften
wir dies im Falle des Massentourismus kaum mehr erleben.
Was uns nicht daran hindern soll,
die Frage nach dem Intelligenzgehalt dieser Form von Tourismus zu stellen,
also etwa danach, ob das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag,
zwischen Lust und Frust, zwischen Entspannung und Stress für das
Individuum wie für das Ganze wirklich intelligent genannt werden
kann. Zweifel sind jedenfalls erlaubt. Nüchtern und aus Distanz
betrachtet - was als "Teilnehmer" nicht einfach ist -, trägt
unser Mobilitätsverhalten wahnhafte Züge.
Wer keine Chancen bei den Massen
hat, muss auf Minderheiten setzen oder, um es in selbstbewusstem Klartext
zu formulieren, auf Eliten. Beim "intelligenten Tourismus"
für Eliten geht es jedoch weniger um die traditionellen "Oben-Elite",
die sich durch Geld und/oder Macht auszeichnen, sondern um neuartige
"Vorne-Eliten", die sich nicht über Sein, sondern über
Bewusstsein definieren. Angesichts ihres ausgeprägten Individualismus
lassen sich diese neue Eliten nicht in das Korsett herkömmlicher
Zielgruppenkategorien stecken, haben aber dennoch klare Gemeinsamkeiten:
ausgeprägte und vielseitige Interessen, eine Mentalität des
entschiedenen Sowohl-als-Auch, wache Neugier, Offenheit gegenüber
neuen Denkmustern.
Im Laufe der nächsten Jahre
werden die Möglichkeiten der heutigen Informations- und Kommunikationstechnologie
unser Leben in einer Art bestimmen, deren Richtung wir uns zwar schon
vorstellen können, kaum jedoch ihr Ausmass. Das bedeutet - auch
wenn es noch ein bisschen dauern mag - , dass möglicherweise ein
Teil der heutigen physischen menschlichen Begegnungen durch virtuelle
Kommunikation ersetzt werden wird. Für reine Routineangelegenheiten
wird man sich nicht mehr gemeinsam am selben Ort zur selben Zeit versammeln.
Schöpferische
Wohlseinsoasen
Qualitativ gesehen bedeutet diese
Entwicklung allerdings eine Aufwertung der persönlichen Begegnung,
und zwar privat wie beruflich (oder in einer der immer häufigeren
Mischformen): Wenn man sich schon persönlich trifft, was in vielen
Fällen nach wie vor unumgänglich sein wird, dann aber gleich
richtig. Umgebung und Atmosphäre müssen stimmen, das "Setting"
soll Leib und Seele erquicken und auch den Geist anregen. Kunstlichtgequälte,
sterile Tagungsräume irgendwo in einer Betonwüste können
nicht mehr mithalten. Chancen haben dagegen schöpferische Wohlseinsoasen,
in denen die Gäste das Nützliche mit dem Angenehmen aufs netteste
verbinden können.
Als Verantwortliche(r) für
den Tourismus der Ostschweiz oder von Oberfranken würden Sie vermutlich
spätestens an dieser Stelle mit der Frage einhaken, woher denn
diese attraktiven neuen Gäste kommen sollen. Die Antwort ist ganz
einfach: aus der Nachbarschaft! Das mag angesichts des anhaltenden Booms
von Fernreisen seltsam klingen, doch birgt auch dieser Trend den Keim
seines Gegenteils in sich: Ein noch schwaches, aber wachsendes Unbehagen
an den zweifelhaften ökologischen und sozialen Folgen des Ferntourismus
ist allgemein spürbar. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit ("slow
food") führt dazu, dass die Indianern zugeschriebene Einsicht,
wonach bei einer Flugreise die Seele dem Körper nicht folgen könne,
allmählich salonfähig wird. Das alles wird die Reiselust der
Menschheit nicht so schnell dämpfen, aber es weckt das Bedürfnis
nach attraktiven Alternativen; wenigstens gelegentlich.
Eine dieser Alternativen könnte
heissen: Nahlust statt Fernweh! Tatsächlich spricht einiges für
eine Neuinterpretation des alten Dichterwortes: "Warum denn in
die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!" Die Globalisierung
schafft als Gegenstück einen wachsenden Bedarf nach Wurzeln; und
damit nach Wissen über die eigene Nachbarschaft. Neue Eindrücke
gewinnen, geistige Anregungen erhalten, eines der wichtigsten Motive
"intelligenter" Touristen, kann man in der Nähe oft besser
als in irgendeiner exotischen Ferne. Denn damit sich der Spass an den
Unterschieden überhaupt entwickeln kann, braucht es eine gemeinsame
Verständigungsbasis. Nachbarn sind immer gleich und anders zugleich,
weshalb man bei ihnen am meisten über sich selbst lernt. Deshalb
sind Nachbarn die idealen Gäste von "intelligentem Tourismus",
wobei der Begriff "Nachbarschaft" im globalen Dorf natürlich
weit gefasst sein kann.
Angebot an Einzelmodulen
Fern der Heimat mag ein fertig
zusammengestelltes"´Menü" an Möglichkeiten
ja ganz angenehm sein, doch in der Nachbarschaft "essen" mündige
BürgerInnen lieber a la carte. Intelligente Touristen wollen keine
fertiggeschnürten Erlebnispakete. Sie wollen ein vielfältiges
Angebot an Einzelmodulen, die möglichst leicht kombinierbar sind.
Und sie wollen nicht nur das Modulangebot eines einzelnen Hotels oder
Kurorts, sondern solche aus der ganzen Region.
Auch diese Entwicklung ruft bereits
gebieterisch nach ihrem Gegenstück, nämlich nach Themen, Mottos,
Leitmotiven, um den einzelnen zersplitterten Modulen so etwas wie einen
verbindenden Zusammenhalt, ja sogar einen tieferen Sinn zu geben. Gesundheit
und Wellness sind hier nur der Anfang, auch Themenparks aller Art haben
zweifellos Zukunft. Was intelligente Tourismusmanager auf die Idee bringen
könnte, ihre Region als natürlichen Themenpark zu sehen und
dies Leuten schmackhaft zu machen, die das Echte dem künstlich
Geschaffenen vorziehen. Unsere eingangs erwähnten Beispiele Ostschweiz
und Oberfranken sind natürliche Themenparks für die Motive
"Wasser" oder "Erdgeschichte", aber auch für
die Herstellertradition von so wichtigen Gütern wie Textilien (Ostschweiz)
oder Porzellan (Oberfranken). Um dar aus ein spannendes Besichtigungsprogramm
für interessierte Nachbarn zu machen, braucht man kein neues "Disneyworld"
auf die grüne Wiese zu klotzen. Es genügt, vorhandene Module
zu entdecken und klug miteinander zu vernetzen.
Sollte sich während Ihrer
Lektüre allmählich der Verdacht eingeschlichen haben, der
"intelligente Tourismus" der Zukunft sei eigentlich gar nichts
Neues, dann haben Sie völlig recht. Für jedes Element gibt
es schon gewachsene Ansätze und Vorbilder. Die Kunst wird darin
bestehen, deren Form zu verändern und gleichzeitig ihre Essenz
zu bewahren. Oder anders gesagt: transformierte Traditionen in die Zukunft
zu transportieren.