Obenabe - ein Plädoyer
für die Überheblichkeit
Eine der besten Schweizer Eigenschaften ist die
Überheblichkeit. Bloss weiss das niemand. Höchste Zeit also,
das Potenzial einer zu Unrecht verfemten Tugend zu entdecken, meint
Andreas Giger
Es ist wie ein Reflex. Immer, wenn ich auch einen
Begriff stosse, der so offenkundig und eindeutig negativ besetzt ist
wie Überheblichkeit, sträuben sich mir die intellektuellen
Nackenhaare. Die anschwellende Erfahrung der reiferen Jahre hat den
Glauben daran endgültig zersetzt, es gäbe irgendwo auf der
Welt etwas, das eindeutig und ausschliesslich gut oder schlecht, schwarz
oder weiss sei. Und so muss doch, gräbt man nur genügend tief,
unter dem zähen Grauschleier, der sich über die Überheblichkeit
gelegt hat, der eine oder andere Farbtupfer zu entdecken sein.
Das Spargel-Prinzip
Allerdings steht dieser geistigen Tiefenbohrung
ein typisch schweizerischer Reflex entgegen: "Mir wei nid grüüble
!" Wir wollen nicht grübeln und lieber in Treu und Glauben fest
halten, was eidgenössische Tradition gebietet. In einer auf Gleichheit
angelegten Demokratie stört alles, was sich zu weit über das
Mittelmass hinaus erhebt, das soziale Gleichgewicht aufs Empfindlichste.
Und obwohl die Schweiz kein ausgesprochenes Spargel-Land ist, wird deshalb
das Spargel-Prinzip erbarmungslos angewendet: Wer seinen Kopf zu weit
hoch streckt, wird geköpft.
Das weiss natürlich auch die gesamte helvetische
Servelat-Prominenz, weshalb sie sich eifrig bemüht, den Kopf nicht
zu hoch in den Lüften zu tragen. Stattdessen läuft sie herum
wie ein hochgewachsener Mensch, den es in ein Appenzeller Haus verschlagen
hat, leicht gebückt, den Kopf ganz in die Schultern eingezogen
und etwas nach unten hängend, um so ihre Verbundenheit mit dem
einfachen und im allgemeinen etwas niedriger positionierten Volk zu
demonstrieren.
Wer sich dieser nicht gerade rückenfreundlichen
Haltung entzieht und sich aufrichtet, sich erhebt, wird sofort als überheblich
verschrien und kriegt so lange Haue, bis er einsieht, dass er sich überhoben
hat wie ein Möbelschlepper oder ein unvorsichtiger Investor.
Doch was auf der individuellen Ebene scheinbar erfolgreich
verdrängt wird, kehrt als Widergänger auf der kollektiven
umso machtvoller zurück. Allem realen Anschauungsunterricht zum
Trotz sitzt die Überzeugung vom Schweizer Sonderfall tief in der
kollektiven Seele, und zwar vom Sonderfall ganz oben an der Spitze,
von der aus man getrost jene, die in die Niederungen der Normalität
leben müssen, etwas überheblich behandeln darf. Und durch
vornehme Abwesenheit glänzen, wenn sich in Brüssel das gewöhnliche
europäische Volk versammelt.
Damit hätten wir im Spannungsfeld zwischen
Selbstdefinition und Angrenzung bereits ein ordentliches Vorkommen am
Rohstoff schweizerischer Überheblichkeit entdeckt. Noch mehr ist
allerdings im Inneren zu finden. Wer einen Slogan wie den berüchtigten
"Wir sind immer mehr die Neger" in die Welt setzt, müsste ehrlicherweise
eigentlich hinzufügen "Dabei sind wir doch die geborenen Sklavenhalter
!"
Und wer, ob zur Linken oder zur Rechten, davon überzeugt
ist, die Welt wäre perfekt, wäre sie nur nach seiner Vorstellung
gestaltet, muss sich zwangsläufig über den Gegner erheben,
um den Glauben aufrecht erhalten zu können, er wisse es besser
als der andere. Von dieser Sorte Überheblichkeit, die unappetitlich
wirkt, unabhängig davon, ob sie aus blindem Idealismus oder aus
verblendeten Ideologien genährt wird, ist hier zu Lande derzeit
ein eindeutiges Überangebot auf dem Markt.
Kollektive Überheblichkeit wirkt im besten
Falle lächerlich und im schlechtesten zerstörerisch, da bildet
innerschweizerische und ausserschweizerische Überheblichkeit keinen
Sonderfall. Nur wenn wir die Überheblichkeit schleunigstens privatisieren,
können wir ihre Früchte ernten.
Wo Berge sich erheben
In einem mehr geologisch als politisch oder kulturell
definierten Feld ist die Schweiz tatsächlich ein Sonderfall: Sie
hat im europäischen Vergleich mehr Berge als die meisten anderen
Länder. Und bietet damit mehr Gelegenheit, auf Gipfel zu steigen
oder dorthin Bergbahnen zu bauen. Beide Möglichkeiten werden eifrig
genutzt.
Doch wozu ? An der unmittelbaren Umgebung kann es
nicht liegen. Die meisten Menschen fühlen sich in der sicheren
Ebene wohler als auf ausgesetztem, schmalem Grat oder handtuchgrossem
Gipfel. Und sie mögen sattes Grün mehr als nacktes Eis oder
trostloses Geröll. Also kann man den Menschen glauben, wenn sie
als zentralen Teil des Gipfelerlebnisses die Aussicht, die Fernsicht
benennen.
Beim Schweifes des Auges vom Berggipfel ist der
faszinierendste Blick nicht jener geradeaus auf andere Gipfel, sondern
jener runter in die Täler und Ebenen. Von oben herab zu blicken
- obenabe, wie es das Schweizerdeutsche in unnachahmlicher Prägnanz
formuliert - bringt Weitblick, und damit Überblick.
Im mäandernden Flusslauf verliert sich die
Übersicht leicht, vom nächsten Hügel aus dagegen ist
zu erkennen, was mit wem zusammenhängt. Und urbaner Gesinnte steigen
auf den nächsten Kirchturm oder nutzen den Lift auf den Fernsehturm,
um sich einen Überblick über die Siedlungsstruktur der Stadt
zu verschaffen.
Wenn im Dickicht der Details der Dinge nichts Neues
zu entdecken bleibt, gibt es nur eines: einen Perspektivenwechsel. Ab
in die Höhe. Neugier treibt hinauf, um zurück nach unten blicken
zu können. Die Entdeckung der Vertikalen, der dritten Dimension
als Mittel der Horizonterweiterung.
Die Schweizerinnen und Schweizer als Weltmeister
im Bergwandern und Bergbahnfahren wissen, dass ohne beträchtliche
Investitionen an Schweisstropfen und Billettaxen kein Höherkommen
denkbar ist. Ganz von allein schwebt niemand zu den besten Aussichtspunkten.
Sich über die Niederungen zu erheben ist immer aktives Tun, als
dessen Lohn der Blick von oben runter winkt.
Nur: Runter kommen sie bekanntlich immer, nicht
nur die Flieger, sondern auch die Berggänger. Gipfel sind für
eine dauerhafte Besiedlung denkbar ungeeignet, und so wohnen auch in
der Schweiz, wo man sich gerne zwischenrein über die Niederungen
erhebt, die meisten Menschen denn doch meistens in denselbigen. Was
es ziemlich sinnlos erscheinen lässt, in jenen Momenten, in denen
man von oben herab auf den Rest der Menschheit blickt, diesen von oben
herab zu behandeln und verächtlich als mickrige Würstchen
der Tiefländer zu bezeichnen. Schliesslich wird man bald selber
wieder dazu gehören.
Und doch schleckt keine noch so hoch subventionierte
Berggeiss die simple Tatsache weg, dass es gut und bereichernd sein
kann, sich bewusst und aktiv über die zweidimensionalen Niederungen
zu erheben, um sich in der dritten Dimension einen besseren Überblick,
einen weiteren Horizont zu verschaffen. Und das bedeutet immer auch,
Abstand zu gewinnen, indem man Distanz schafft.
Sehen ist nicht handeln
Genau diese Distanzierung trägt zum üblen
Image von Überheblichkeit bei. Sich über das übliche
Niveau zu heben, wird gleichgesetzt mit Abwertung der unten Gebliebenen.
Alles Quatsch. Der Blick obenabe ist sich Zweck genug, er braucht
keine Eindunkelung des Unterlands, im Gegenteil, diese würde nur
den klaren Blick von oben herab trüben.
Fazit: Wer sich einen Überblick verschaffen
will, muss sich in die Höhe erheben, und dort kommt er um den überheblichen
Blick nicht herum. Dagegen können nur zu kurz Gewachsene
Einwände erheben, und meistens nicht mal die, scheitert doch die
eigene Erhebung wesentlich öfter am fehlenden Willen als am fehlenden
Können. Der daraus entstehende Bodensatz an Gefühlen in Form
von "Neid der besitzlosen Klassen" braucht jene mit dem besseren Überblick
nicht zu kümmern. Ohne schlechtes Gewissen das zu tun, was einem
beliebt und frommt, solange es die Bewegungsfreiheit anderer nicht einschränkt,
gehört zu den Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft.
Nun gibt es allerdings einige fehlgeleitete Irre,
die den überheblichen Blick mit überheblichem Verhalten
verwechseln, andere Menschen überheblich behandeln und damit
nicht nur diese, sondern eindeutig auch die Grenzen verletzen, welche
eine individualisierte Ethik zu Recht als Schutz vor Übergriffen
setzt. Einen besseren Überblick zu haben, bedeutet eben keinesfalls,
besser zu sein. Und der Blick obenabe ist nicht gleichzusetzen
mit dem Gesamtblick, er bietet eine etwas andere, aber keineswegs die
einzige Perspektive. Nur Anfänger oder solche, die trotz erhöhter
Perspektive geistig eingeschränkt bleiben, verwechseln das und
behandeln ihre Mitmenschen von oben herab.
Das berechtigte Wehgeschrei über überhebliches
Handeln übertönt dann allzu leicht die ebenso angebrachten
Lobpreisungen des überheblichen Blicks. Was jene, die diesen eigentlich
hätten, allzu oft erschrocken zusammenzucken und sich ducken lässt.
Oben statt Mitte
Besten Anschauungsunterricht dafür bietet die
schweizerische Parteienlandschaft, die ja von ihrer grundsätzlichen
Anlage her ganz auf die Förderung des überheblichen Blicks
ausgerichtet ist - ein dialektisches System im besten Sinne des Wortes.
Am Anfang der Dialektik stehen notwendigerweise These und Antithese,
die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, in Wirklichkeit
aber Spiegelungen des jeweiligen Gegenpols sind. Gemeinsam ist ihnen
die Überzeugung, so sei die Welt und nicht anders, und die Vorstellungen
darüber, wie sie zu sein hätte, schlössen sich diametral
aus.
Diese Version einer Interpretation der Wirklichkeit
liegt im Flachland, in einer zweidimensionalen Ebene, nahe. Bleibt man
auf demselben Stockwerk, haben nicht zwei Zimmer am selben Ort Platz.
Doch was in der Mentalität der Ebene logisch und überzeugend
klingt, löst sich in der dritten Dimension in Luft auf: Stapelt
man mehrere Stockwerke übereinander, geht also in die Höhe,
haben sehr wohl zwei und mehr Zimmer am selben Ort (bezogen auf die
Ebene) Platz.
Das ist das ganze Geheimnis der Dialektik: Eine
Synthese wischen These und Antithese ist nur dann möglich, wenn
man sich auf eine höhere Ebene der Betrachtung begibt. Erst dann
wird sichtbar, dass beide Pole sich nicht ausschliessen, sondern ergänzen,
und dass die Wahrheiten, die in beiden stecken, sich zu einer neuen
Wahrheit auf höherem Niveau kombinieren lassen.
Während in vielen politischen Systemen keine
Möglichkeit besteht, das ewige Ping-Pong zwischen These und Antithese
zu durchbrechen, fördert das schweizerische die Synthesenbildung
auf höherer Ebene. Das Dumme ist nur, dass derzeit jene, welche
die Rolle von These und Antithese spielen, also im Wesentlichen SP und
SVP (wobei es völlig unerheblich ist, wer was spielt), diese Rolle
wacker und gekonnt ausfüllen, während jene, welche die Rolle
der Synthesenbildung übernehmen sollten, also die sogenannten Mitteparteien,
etwas schwach auf der Brust wirken.
Warum ? Weil sie nicht selbstbewusst genug sind,
sich den überheblichen Blick zu gönnen. Weil sie nicht stolz
genug darüber sind, jene höheren Ebenen erklommen zu haben,
die den Blick "obenabe" erst gestatten. Weil sie nicht offensiv zur
Bedeutung ihrer Rolle stehen, die darin besteht, aus These und Antithese
im Blick auf das Ganze eine echte Synthese zu schöpfen. Und auch,
weil sie sich manchmal doch auch überheblich und arrogant verhalten
- was bekanntlich immer auf mangelndes Selbstbewusstsein schliessen
lässt.
Der überhebliche Blick als Exportschlager
Erst, wenn im Binnenmarkt die Kurse des überheblichen
Blicks wieder erheblich gestiegen sind, wird auch die Besinnung darauf
wieder möglich werden, dass es sich dabei um einen Exportartikel
mit hohem Potenzial handelt, denn im Vaterlande muss beginnen, was leuchten
soll im Weltenrund.
Das Potenzial des Blicks "obenabe" auch und gerade
im Verhältnis der Schweiz zur Welt, vor allem aber zu Europa, spricht
für sich selbst: Einen Flickenteppich von oben überblicken.
Zusammenhänge herstellen. Die Bedeutung der einzelnen Elemente
relativieren. Schnittstellen erkennen. Ansätze für Synthesen
sehen. Das alles als oft geübte Fähigkeiten, zum einen wegen
der Gnade der Geographie und Geologie mit den vielen Höhen, die
geradezu dazu einladen, die Vorteile des überheblichen Blicks augenscheinlich
zu erleben, zum anderen wegen einer langen kulturellen Tradition der
zivilisierten Synthese: Wenn man unterschiedlichste Positionen unter
einen Hut bringen will, kann dieser nur obenabe kommen...
Es ist kein überhebliches Verhalten, diese
Früchte einer Geschichte, die dank eines Nährbodens mit einem
bis zur Unkenntlichkeit vermischten Gemenge aus eigener Schlauheit und
unverdientem Glück gereift sind, mit anderen zu teilen, indem man
sie ganz unaufdringlich anbietet. Überheblich wäre es vielmehr,
sie den anderen zu verweigern. Der überhebliche Blick wird noch
weiter, wenn ihn viele Augen teilen.
Überheblichkeit als die etwas andere Art der
Wahrnehmung gehört zu jenen Eigenschaften der Bewohnerinnen und
Bewohner dieses Landes, welche sie ein kleines bisschen anders machen
- nicht besser. In Zeiten, in denen unverwechselbare eigenständige
Eigenschaften gefragt sind, um sich stark zu positionieren, ist das
eine gute Nachricht. Wenn es denn gelingt, den überheblichen Blick
(wieder) in die ihm gebührende Rangposition einzuführen, kann
obenabe zum Exportschlager werden.
© 04.09.03 / AG