Das
Internetportal REIFE.CH lädt dazu ein, sich mit dem Leben in
Musse auseinanderzusetzen. Jürgen Kupferschmid im Gespräch
mit dem Zukunfts-Philosophen Dr. Andreas Giger, der das Angebot
vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat.
Herr
Giger, in der "Herbsternte" von REIFE.CH sprechen Sie
vom "Lob der Langsamkeit". Welchen Zusammenhang sehen
Sie zwischen dem Prozess des Reifens und der Geschwindigkeit?
Meines Erachtens wird die Beschleunigung in unserer
Gesellschaft zu stark gewichtet. Bewusste Reifung erfordert jedoch
eine gelegentliche Verlangsamung und eine Distanz zum hektischen
Alltagsgeschehen; Entschleunigung ist die Voraussetzung für
Reifung. Grundsätzlich ist Beschleunigung nicht falsch, doch
es muss auch möglich sein, sich mit seinem Leben in Musse auseinandersetzen
zu können.
Mit
dem Internet greifen Sie auf ein Medium zurück, das für
Geschwindigkeit und Beschleunigung bei der Informationsvermittlung
steht. Sehen Sie darin keinen Widerspruch zum Reifeprozess?
Nein. Es steht nirgends geschrieben, dass auf einer
Website jeden Tag etwas Neues stehen muss. Und im Gegensatz zu einem
Buch lässt das Internet mehr Spielraum. Man kann experimentieren
und etwas wagen, was sonst nicht möglich wäre. Zudem hat
praktisch jeder die Möglichkeit, das Internet zu nutzen; wir
sind also nicht an eine bestimmte Zielgruppe gebunden. Das Internet
steht im Zentrum der Kommunikation und daran wird sich auch in Zukunft
nichts ändern.
Welche konkreten Ziele verfolgen Sie mit dem Internetportal
REIFE.CH?
Die Beiträge auf REIFE.CH sollen Identität
und Sinn stiften. In den verschiedenen Entwicklungsphasen des Lebens
erlebt der Mensch unterschiedliche Identitäten. Die Beiträge
auf REIFE.CH sollen Impulse geben, in der eigenen Reifung den individuellen
Kern zu entdecken und damit Identität zu stiften. Den roten
Faden in seinem Leben zu finden, stiftet Sinn: Ich reife, also bin
ich.
Elke
Heidrun-Schmidt hat für die "Herbsternte" eine Polemik
über die "Generation 50plus" verfasst. Wie denken
Sie über die Kategorie 50plus?
Eine einheitliche Zielgruppe 50plus schaffen zu wollen
ist absurd. Zum einen: Je älter man wird, desto individualistischer
wird man. Zum anderen: Man kann nicht die Vorkriegsgeprägten
und die sogenannten "Baby-Boomer" - also die Älteren,
die nach dem Krieg geboren wurden - einfach in einen Topf werfen.
Kein Mensch ist nach seinem 50. Geburtstag anders, als einen Tag
davor. Der Reifungsprozess dauert das ganze Leben. Die 50plus-Kampagnen
sind Ausdruck eines überholten Zielgruppendenkens.
Steht 50plus nicht auch für das neue Selbstbewusstsein
einer Generation?
Selbstbewusstsein benötigt keine Kategorisierungen.
Das neue Selbstbewusstsein der Älteren äussert sich zum
Beispiel in einem anderen Lebensstil - sei es das Reiseverhalten
oder sei es was die Kleidung anbelangt. Das neue Selbstbewusstsein
kommt auch in neuen beruflichen Karrieren nach der Pensionierung
zum Ausdruck: Ältere Menschen entdecken zunehmend neue Chancen
und Potentiale, ohne dabei irgendwelchen Zwängen unterworfen
zu sein.
Reife-Autor
Fridolin Herzog bezeichnet das Leben als Reifen von der Geburt bis
zum Tod. Was zeichnet den Prozess des Reifens aus? Wie wird man
im Alltag reifer und gelassener?
Man sollte sich nicht an unerreichbaren Idealzielen
messen, was letztlich dazu führt, dass man sich unreif fühlt.
Die positive Selbstverstärkung - zurückblicken und sich
vor Augen führen, dass sich etwas getan und entwickelt hat
- ist eines der besten Mittel, um im Alltag zu reifen. Gelassenheit
ist eine Mischung aus eigenem Verdienst und der Gnade. die einem
das Leben geschenkt hat.
Ein
Beitrag von Ueli Ganz ist dem "Reifen der Wahrnehmung von Musik,
Malerei und Sprache" gewidmet. Inwiefern ändert sich die
Wahrnehmung im Prozess des Reifens?
Die jugendliche Wahrnehmung sucht das Spektakuläre.
Dagegen kann die reifere Wahrnehmung das Aussergewöhnliche
auch am Wegesrand sehen. Je älter man wird, desto differenzierter
wird die Wahrnehmung, desto mehr Details fallen einem auf und desto
stärker wird das Selbstvertrauen in das eigene ästhetische
Urteil. Zudem kann man mit zunehmendem Alter auch die übergeordneten
Zusammenhänge deutlicher wahnehmen.
Als
Zukunfts-Philosoph widmen Sie sich der Kunst des Fragens. Was ist
im Moment die zentrale Frage in der Auseinandersetzung mit dem Altern?
Die zentrale Frage lautet, welche Perspektiven angesichts
der steigenden Lebenserwartung entwickelt werden, die persönlich
und gesellschaftlich Sinn machen. Im Vergleich zu heute wird eine
älter werdende Gesellschaft in Zukunft reifere Werte haben
- weg vom Geld, hin zum Geist - weg von Quantität, hin zu Qualität,
vor allem zu Lebensqualität.
Herr
Giger, herzlichen Dank für das Gespräch!
Kasten:
Magazin
für Reife und Reifung
Das
Internetportal www.reife.ch versteht sich als "Magazin für
Reife und Reifung". Es bietet "Überraschendes und
Inspirierendes", das aktuell unter "Herbsternte 2005"
zu finden ist. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben Beiträge
zu Themen wie "Lob der Langsamkeit", "50plus: eine
Polemik", "Leben: Reifen von der Geburt bis zum Tod"
oder "Vom Reifen einer Vision" verfasst. Das Portal wurde
von dem Zukunfts-Philosophen Dr. Andreas Giger (Jahrgang 1951) ins
Leben gerufen. Auf der Seite www.reife.ch werden im Monat bis zu
5000 Zugriffe registriert. Die Leserinnen und Leser stammen aus
dem ganzen deutschsprachigen Raum.
Mehr
über Tertianum: www.tertianum.ch