Gigerheimat: Worte
Sieben Minuten

 

Ein kleiner literarischer Exkurs

Wie die meisten Kolleginnen und Kollegen von der schreibenden Zunft habe auch ich geraume Zeit den Traum vom grossen Roman geträumt - ein paar Fragmente in den Tiefen meiner Festplatte zeugen davon - doch dort wollen wir sie auch ruhen lassen.

Ein einziges Mal ist ein literarischer Text von mir gedruckt worden - ein "7-Minuten-Roman" im "Beobachter" 2/96. Er beschreibt, nicht ganz fiktiv, den Beginn einer grossen Liebe, die bis heute anhält:

 

7-MINUTEN-ROMAN

1. Minute: Die Frau und der Mann steigen leise die Hoteltreppe hoch. Der verblichene Läufer dämpft das Knarren des Holzes von ehrwüdigem Alter nur unzureichend, und es ist schon weit nach Mitternacht. Der Kellner war erleichtert, als die beiden als letzte aus der Gruppe, die sich hier zu einem Seminar versammelt hat, endlich ihren Tisch geräumt haben. Sie kennen sich auch jetzt nur flüchtig. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich gegenseitig mehr als ganz nett finden.

2. Minute: Die Frau hat ihr Zimmer im zweiten Stock, der Mann im dritten. Zum Abschied wollen sie sich das übliche Küsschen auf die Wange geben. Daraus wird nichts. Stattdessen finden sie sich in einem intensiven Kuss wieder, der kein Ende zu nehmen scheint. Beide wissen nicht, wie ihnen geschieht. Später werden sie sich erzählen, sie hätten das Gefühl gehabt, Gott Amor persönlich hätte in diesem Moment seinen Pfeil auf sie abgeschossen, einen brennenden Pfeil, der das dürre Steppengras zwischen ihnen hoch auflodern liess.

3. Minute: Die Frau und der Mann denken nicht daran, dass in diesem Moment astronomisch gesehen der Frühling beginnt, auch wenn draussen in der trüben Nacht noch die letzten Schneeschauer verwehen. Sie tasten sich eng umschlungen den langen, nur noch schwach beleuchteten Gang entlang zum Zimmer der Frau. In der Luft tanzt uralter Staub. Die beiden haben keinen Blick für das Portrait der Kaiserin Elisabeth, die in diesen geschichtsträchtigen Räumen einst ihren geliebten König Ludwig getroffen hat. Im trüben Licht scheint sie zu lächeln. Ein einsames Haar schwebt durch die Luft. Es könnte noch von ihr stammen.

4. Minute: Im Zimmer angekommen, in dem sich seit Sisis Zeiten nichts verändert zu haben scheint, sinken sich die Frau und der Mann in die Arme. Hoch lodern die Flammen der Leidenschaft, als sie sich gegenseitig voreinander enthüllen. Seltsam vertraut fühlt sich die Haut an, die sich doch nie zuvor berührt hat. Bevor sie beginnen, sich endgültig zu erkennen, ziehen sie die Vorgänge zu und entziehen das weitere Geschehen unseren neugierigen Blicken. Schliesslich wissen wir auch nicht,wie weit es Sisi und Ludwig damals in Sachen körperlicher Berührung wirklich getrieben haben...

5. Minute: Aus der Absichtslosigkeit entfaltet sich die Fülle. ES erwacht. ES erlebt sich als ein einziger Wirbel aus Begehren und Lust. ES erkennt sich als das uralte Spiel zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen. Seine Ursprünge verlieren sich irgendwo in der Geschichte des Lebens, lange bevor es Menschen gab. ES ist die reine Sehnsucht nach Verschmelzung der getrennten Pole, der durch Äonen schallende Ruf "Ich will Dich !" . Dem Märchenkönig hätte das gefallen, ihm, der einst schrieb: "Oh, es ist notwendig, sich solche Paradiese zu schaffen, solche poetischen Zufluchtsorte." Um dann, ziemlich genau hundert Jahre vor unserer Geschichte, ein nasses Grab im selben See zu finden, an dem unser Hotel liegt.

6. Minute: ES wird sich seiner selbst bewusst. Ein Bild steigt in ihm hoch: Die Frau und der Mann sind die Pole eines starken Magneten - und ich bin der Magnet. Ich bin das, was die beiden verbindet. Ich bin das neue Wesen, das entsteht, wenn die zwei sich finden. Ich bin das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Ich bin ES, und ich heisse Eros und Liebe zugleich. Und Sisis Haar, unheilbar romantisch und verträumt, dabei natürlich und unaffektiert wie diese selbst, schwebt jetzt im Raum und hüllt die Nacht in einen geheimnisvollen Glanz.

7. Minute: ES spürt, dass es diesmal keine Angst zu haben braucht, nach einem flüchtigen Liebesrausch sinke es zurück in das Dunkel der Nichtexistenz. ES weiss, dass es diesmal leben wird, viele, viele Jahre lang. Die Frau und der Mann ahnen in dem Moment, in dem sie sich in einem gemeinsamen Jubel finden, noch nicht, dass ihre gemeinsame Geschichte erst begonnen hat. Nur unsere Geschichte ist hiermit zu Ende. Oder jedenfalls fast. Denn jetzt klingt Musik auf, das Vorspiel zu "Tristan und Isolde" von Richard Wagner, dem Spezi des träumenden Königs. Und mit ihr formen sich Worte, die erst viel später niedergeschrieben werden sollten: "Und immer wieder ein neuer Morgen, Tage, in denen die Sonne die diesseitige Realität mit all ihren irdischen Trennungen erhellt. Tausend Tode. Festgefügte Erwartungen, Vorstellungen, Bilder, Absichten, müssen laufend sterben, damit sich das, was sich zwischen uns entfalten will, entfalten kann. Lektionen zu Hauf, sanftere und härtere. Und das Leben in dieser Liebe wächst. Ein einziges grosses Abenteuer, voll Freude und Lust und Spass, die erfahrbarer werden durch die dunklen Momente. Das Vorspiel zu Tristan und Isolde endet sehr offen."

 

 

Nur, damit Sie die Geschichte glauben...

 

 

 

 

 

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