Gigerheimat: Worte
Mehr Sokrates bitte!

 

Jetzt erschienen in ALPHA, Der Kadermarkt der Schweiz (Beilage von "TagesAnzeiger" und "Sonntagsteitung") vom 19./20. November 2005:

Plädoyer für eine neue Kultur der Beratung:

Mehr Sokrates bitte!

Ein sokratisches Beratungsmodell, in dem Manager, die wissen, dass ihre Gestaltungsräume klein sind, von Beratern unterstützt werden, die wissen, dass sie nicht viel wissen, prophezeite jüngst der Kult-Philosoph Peter Sloterdijk. Für die Beratungs-Branche bedeutet das ein neues Rollenbild und vor allem mehr Bescheidenheit.

Stellen wir uns einen Dialog vor. Auf der einen Seite der wundersam wieder erschienene Sokrates, ein älterer Herr mt eher abgerissenem Äusserem, Ahnherr der abendländischen Philosophie, Erfinder der Kunst des Fragens, berühmt geworden durch sein Feststellung, er wisse, dass er nicht wisse. Auf der anderen Seite eine junge Dame von Ende Zwanzig, tiptop gekleidet, Juniorberaterin bei einer weltweit bekannten Beratungsfirma, dort in einem strengen Selektionsverfahren dank höchster Intelligenz und bester Zeugnisse ausgewählt.

Sokrates: Sie beraten also Unternehmen. Wozu brauchen diese Unternehmen externe Unterstützung?

Beraterin: Zum einen, um Wissen zu erschliessen, das intern nicht zugänglich ist. Und zum anderen, um ihr Unternehmen von aussen betrachten zu lassen, was Perspektiven öffnet, die wegen Betriebsblindheit intern nicht sichtbar sind.

S: Das leuchtet ein. Wie aber wählen Sie aus den unzähligen denkbaren Perspektiven, mit denen man ein Unternehmen von aussen betrachten kann, jene aus, die diesem am meisten nützt?

B: Dafür haben wir ein Modell entwickelt, das sich über Jahrzehnte bewährt hat, weil es immer und überall passt.

S: Das behauptet Ihre Konkurrenz von ihren Modellen auch. Wichtiger scheint mir die Feststellung, dass Ihre Beratungstätigkeit auf einem Modell beruht, also auf einem theoretischen Konstrukt.

B: Natürlich, das geht gar nicht anders, ohne ein theoretisches Gerüst könnten Sie die Menge an Daten nie ordentlich strukturieren. Konkrete Einzeldaten müssen statistisch bearbeitet werden, sonst verliert man den Überblick.

S: Sie meinen also z.B. die Berechnung von Durchschnittswerten. Wenn man einen massiv Übergewichtigen und einen fast Verhungernden zusammen nimmt, haben sie im Durchschnitt Normalgewicht. Kann man so dem konkreten Einzelfall gerecht werden?

B: Die Gesetze von Wirtschaft und Erfolg sind überall gleich, es geht nur darum, sie auf den Einzelfall anzuwenden.

S: Das heisst, wenn Sie und Ihre Branche Erfolg haben, funktionieren am Ende alle Unternehmen genau gleich nach denselben Regeln. Widerspricht das nicht den auch und gerade in der modernen Wirtschaft geltenden Gesetzen der Evolution, wonach auf Dauer nur überlebt, wer sein ureigenes, unverwechselbares Profil hat und damit seine evolutionäre Nische auf die einzig mögliche Art ausfüllt?

B: Ja, natürlich, im härter werdenden Wettbewerb um Aufmerksamkeit kann sich nur behaupten, wer über ein eigenständiges Profil verfügt, das ihn von anderen abhebt.

S: Und wie soll das gehen, wenn Sie jedem Unternehmen dasselbe theoretische Konstrukt überstülpen?

B: Nun ja, da kommt dann die Intelligenz des einzelnen Beraters ins Spiel. Danach werden wir ausgewählt, und deshalb sind wir ja auch ein Team von blitzgescheiten Köpfen.

S: Wie man an Ihnen sieht, gilt das auch für Beraterinnen... Ich zweifle keinen Moment daran, dass in Ihrem Beratungsunternehmen eine enorme Menge an kollektiver Intelligenz versammelt ist. Sie haben glänzende Unversitätsabschlüsse vereinigt, verfügen über beste Informationsquellen und haben erst noch ein bewährtes Modell. Wie aber steht es mit der individuellen Intelligenz, die ja, wie wir festgestellt haben, nötig wäre, um die Kunden bei der Realisierung ihrer Individualität zu unterstützen?

B: Sicher, der Hauptharst unserer Leute, die diekt in Beratungsprojekte involviert sind, ist blutjung. Wir wissen aber alle, dass wir noch viel zu lernen haben, und dass das am besten durch praktisches Tun geschieht. Deshalb sind bei uns Arbeitszeiten von bis zu sechzehn Stunden auch selbstverständlich.

S: Sie meinen sechzehn Stunden pro Woche?

B: Pro Tag natürlich. Gut, das klingt ein bisschen belastend, lässt sich aber aushalten, wenn man weiss, dass sich die Arbeitszeit später, wenn man die Leiter rauf geklettert ist, auf zwölf Stunden pro Tag reduziert.

S: Sie gehen also tatsächlich davon aus, im Beratunsgeschäft bedeute mehr Quantität automatisch und immer auch mehr Qualität?

B: Ehrlich gesagt, habe ich mir diese Frage bisher nie gestellt, dazu kommt man bei diesem Tagesgeschäft einfach nicht. Man macht es, weil man es halt so macht.

S: Das kann Ihnen ja auch niemand vowerfen. Ich dagegen habe Zeit gehabt, solche Fragen zu stellen und sie auch zu beantworten. Nach meiner Erfahrung lässt die Qualität meines Denkens nach ein paar Stunden massiv nach. Das heisst, wenn ich qualitativ hochstehend denken will, muss ich diese Tätigkeit zeitlich begrenzen. Schlafmangel führt nicht nur zu Unfällen, sondern auch zu Denkfehlern... Apropos Zeit: Wie steht es denn mit dem Raum?  Gibt es einen festen Platz, an den Sie sich jederzeit zurückziehen können, um ungestört zu denken?

B: Aber nein doch. Wir sind ständig auf Achse, mal ein paar Wochen da, mal einen Monat dort. Gelegenheit, um so etwas wie ein Basislager zu pflegen, gibt es dabei nicht.

S: Sie kennen also das Gefühl nicht, irgendwo Wurzeln zu haben und dank der Kenntnis der subtilen Eigenheiten Ihres Ortes ein Gespür für jene anderer Gegenden zu entwickeln?

B:Äh, nein, aber ich glaube, das brauche ich auch nicht. In Zeiten der Globalisierung sind feine regionale Unterschiede doch nichts als nostalgischer Luxus.

S: Oder Ansatzpunkt für jene unverwechselbare Individualität, von der wir gesprochen haben. Sind wir uns darüber einig, dass darin das unternehmerische Erfolgsgeheimnis von Gegenwart und noch mehr Zukunft steckt?

B: Ja, Stromlinienform wird nicht mehr genügen, es braucht schon ein paar Ecken und Kanten, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden.

S: Passt zur Herausforderung, diese unternehmerische Individualität zu suchen und zu finden, ein stromlinienförmiges Beratungskonzept, das seinen Beraterinnen und Beratern kaum Raum und Zeit lässt, ihre Individualität reifen zu lassen?

B: Wenn man davon ausgeht, dass die Berater wissen müssten, wovon eigentlich die Rede ist, nicht. Doch wenn man Ihren Gedanken, lieber Sokrates, konsequent zu Ende dächte, würde das ja bedeuten, dass ein Unternehmen keinem Berater trauen sollte, der nicht mindestens fünfzig Jahre alt ist und damit dank entsprechender Berufs- und Lebenserfahrung ausreichend Zeit hatte, zur individuellen Persönlichkeit zu reifen. Und er müsste an einem Ort fest verwurzelt sein, um von dort aus seine geistigen Zweige in den Himmel wachsen zu lassen. Und er dürfte nicht mehr als fünf Stunden am Tag arbeiten, um die Qualität seines Denkens nicht zu gefährden. Soll ich also meinen Job sofort aufgeben, um in zwanzig Jahren wieder darüber nachzudenken, Beraterin zu werden?

S: Gemach. Es gibt vermutlich für Ihre Art der Beratung genügend sinnvolle Anwendungsfelder, wenngleich ich Ihre Arbeitsbedingungen für absurd halte, wenn Qualität im Mittelpunkt stehen soll. Ich glaube wirklich, dass man Beratungsntelligenz auch anders organisieren kann als schematisch und quasi-industriell in Grossbetrieben, nämlich individueller und zugleich vernetzter.

B: Gut, ich überlege es mir noch mal. Doch wenn beide Beratungsarten Platz haben, macht das den Markt noch unübersichtlicher. Woran erkennt der Kunde in Zukunft gute Beraterinnen und Berater?

S: Am Grad ihrer Bescheidenheit. Wie ich schon lange zu sagen pflege: Ich weiss, dass ich nicht weiss. Wohlverstanden: nicht nichts. Mein bescheidenes Wissen mit jenem des Kunden zusammen zu bringen und daraus einen gemeinsamen Lernprozess zu gestalten, das ist Beratung. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

 

© 25. Juni 2005/AG

 

 

Bilder aus Kreta, Juni 2005

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mehr zu meinem aktuellen Kreta-Buch hier.

 

 

 

zurück zur Übersicht der Wortbeiträge von Andreas Giger