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erschienen in "Lebensart",
Magazin für eine nachhaltige Lebenskultur, Dezember 2005:
Spiritus
ante portas ?
MINDNESS:
ein verheissungsvoller Trend
MINDNESS, die bewusste
Pflege eines klaren und schönen Geistes, liegt im Trend. Was hat
es mit diesem Trend auf sich ? Steht wirklich ein Zeitalter des Geistes
vor der Tür ?
Spiritus sanctus, der heilige
Geist, ist in den neuen Papst Benedikt XVI gefahren. Jedenfalls glaubt
er das, spätestens, seit ihn das Kardinalskollegium als das Sprachrohr
des Heiligen Geistes fast einstimmig gewählt hat. Lassen wir mal
dahingestellt, ob es sich dabei um ein echtes Phänomen handelt
oder um einen Placebo-Effekt. Die Wirkung ist auf jeden Fall unübersehbar:
Der Mann sieht viel entspannter aus als früher, er hat die Rolle
seines Lebens gefunden und ist sich dabei höheren Beistands gewiss.
Die restliche Welt muss dieses
Beistands durch den Heiligen Geist allerdings leider entraten. Sie ist
und bleibt auf den eigenen Geist angewiesen. Und mit diesem ist es nicht
zum Besten bestellt. Vielmehr zeigen sich allenthalben die Anzeichen
einer veritablen mentalen, also geistigen Krise.
Mentale Krise
Betrachten wir etwa den öffentlichen
Diskurs über politische und gesellschaftliche Fragen unter der
Perspektive, welche geistigen Muster darin sichtbar werden, so befällt
uns ein kaltes Grausen:
Gedacht wird fast ausschliesslich
in Schwarz--Weiss. Dass dazwischen nicht nur Grautöne,
sondern auch viele bunte Farben liegen, geht dabei unter.
Ideologisches Denken
herrscht vor: Ich allein kenne die einzige und gesamte Wahrheit. Jedes
Mittel ist recht, um diese durchzusetzen.
Noch immer wird primär
in Kategorien des entweder - oder gedacht, obwohl doch längst
klar ist, dass in der Welt und in unserem Geist genügend Platz
für ein "entschiedenes sowohl - als auch" da ist.
Der dialektische Prozess
bleibt so regelmässig in der Konfrontation zwischen These
und Antithese stecken, zur Synthese sind die blockierten Pole
unfähig.
Das öffentliche Denken
ist durchtränkt von Pessimismus, Nostalgie und Sentimentalität,
statt mit illusionslosem Optimismus vorwärts zu blicken und dabei
auf kühle rationale Analyse zu bauen.
Keinen Trost findet der nach
Klarheit und Schönheit dürstende Geist, wenn er sich stattdessen
der Wirtschaft zuwendet, jenem angeblichen Hort kühler Rationalität.
Das Gegenteil ist der Fall: Je mehr man in die Wirtschaft hinein sieht,
desto mehr wundert man sich darüber, dass diese trotz so vieler
offenkundiger Dummheiten einigermassen funktioniert. Vier Beispiele
müssen zur Illustration genügen:
Obwohl die Mär von
der angeblichen nachlassenden Leistungsfähigkeit älterer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter längst als solche entlarvt ist,
und obwohl man um den Wert der Ressource Erfahrung bestens Bescheid
weiss, beschäftigen weit über die Hälfte aller deutschen
Unternehmen niemanden über fünfzig !
Obwohl man weiss, dass
freie Entfaltungsmöglichkeiten sowie Respekt und Anerkennung
Mitarbeiter am besten motivieren, wird immer noch voll auf das weitgehend
untaugliche Anreizsystem Geld gesetzt.
Obwohl jeder Marketing-Manager
wüsste, dass er, wenn er in die Rolle des Konsumenten schlüpft,
vor allem einen Wunsch hat, nämlich mit Respekt behandelt zu
werden, werden Unsummen in "Customer Relationship Management"-Programme
investiert, die deswegen verpuffen müssen, weil der richtige
Geist dahinter fehlt.
Obwohl offenkundig ist,
dass in unseren gesättigten Volkswirtschaften weiteres kräftiges
Wachstum schwierig bis unmöglich ist, weil wir bald wirklich
alles haben, was wir brauchen und wollen, und noch weit mehr, starren
alle wie das Kaninchen auf die Schlange auf diesen Fetisch Wachstum,
statt zu erkennen, dass die Steigerungslogik (immer noch mehr vom
selben), die dahinter steckt, zwangsläufig an Grenzen stossen
muss.
Sagen wir es offen: Die Welt
wird von Dummheit regiert. Und da bekanntlich jedes Volk die Regierung
hat, die es verdient, müssen wir davon ausgehen, dass die mentale
Verfassung der Einzelnen auch nicht viel besser dran ist.
Angesichts dieser Diagnose
klingt es erstaunlich, wenn ausgerechnet ein Trend namens MINDNESS proklamiert
wird, dessen Inhalt explizit die Pflege eines klaren und schönen
Geistes ("a beautiful mind") ist, wie dies Matthias Horx eben
getan hat (Matthias Horx:
Trend-Report 2005. Zukunftsinstitut).
Ist das angesichts der mentalen Krise, in der wir stecken, und für
die es ausser den genannten noch reichlich Indizien gibt, nicht blosses
Wunschdenken ?
Silberstreifen am Horizont
Nun, ein Trend ist keine
Massenbewegung, sondern gerade am Anfang oft nur schwer zu erkennen.
Anzeichen aber gibt es dafür. Da wäre zunächst das Phänomen
zu nennen, dass eine wachsende Zahl von Menschen bewusst erkennt, wie
viel Dummheit in unserem Denken steckt. Und deswegen nach Alternativen
sucht. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung...
Und dann liegt MINDNESS auch
in der Logik der kulturellen Evolution: Nachdem wir uns im Rahmen des
WELLNESS-Trends um das Wohlbefinden von Körper und Seele gekümmert
haben, und im Rahmen des SELFNESS-Trends unser Ich, unsere Persönlichkeit
gepflegt, rückt bei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise jetzt
fast zwangsläufig auch unser Geist ins Blickfeld.
Jene Minderheit, die einen
Trend wie MINDNESS zum Blühen bringt, setzt längst nicht mehr
auf die Steigerungslogik der materiellen Werte. Ihr sind Werte wie Selbstverwirklichung,
Lebensqualität, Reife oder Weisheit wichtig, alles Werte, die einer
Annäherungslogik folgen: Wir werden sie nie vollständig realisieren,
aber wir können uns ihnen Schritt für Schritt annähern.
Just für solche Werte
ist die eingangs geschilderte mentale Verfassung aber denkbar ungeeignet.
Dummheit ist ein effizienter Lebensqualitäts-Killer...
Gegen Dummheit kämpfen
laut einem Dichterwort Götter selbst vergebens. Das mag für
die Dummheit anderer gelten. Gegen die eigene können wir sehr wohl
etwas tun. Das ist eine Einsicht, die sich langsam durchsetzt.
Dabei geht es nicht einfach
um die Steigerung jener Intelligenz, die ein Intelligenz-Test misst.
Natürlich mag es nützlich sein, das eigene Gedächtnis
zu verbessern, doch bevor wir anfangen, Telefonbücher auswendig
zu lernen, sollte die Frage gestellt werden, was es denn überhaupt
lohnt, gespeichert zu werden...
MINDNESS meint nicht, einzelne
geistige Programme zu optimieren, es geht dabei vielmehr um eine grundsätzliche
Renovation unseres geistigen Betriebssystems. Das ist, es sei zugegeben,
kein ideales Bild, denn unser Gehirn funktioniert nicht wie ein Computer,
aber es zeigt doch ganz gut, worum es geht: um grundsätzliche Muster
und Arbeitsweisen unseres Geistes, unseres Denkens.
Grundzüge eines neuen
mentalen Betriebssystems
Obwohl man am Anfang eines
Trends nie genau wissen kann, wohin er sich entwickelt, lässt sich
doch abschätzen, wie die Grundzüge eines neuen mentalen Betriebssystems
aussehen werden. Schliesslich kommt der Trend MINDNESS nicht aus dem
Nichts, er nährt sich vielmehr aus einem reichen Schatz von Ideen
und Überlegungen vieler kluger Denkerinnen und Denker über
die Jahrhunderte und Jahrtausende. Das eindeutig wieder erwachte Interesse
an Philosophie, die sich als Anleitung zur Lebens-Kunst versteht, ist
ein Anzeichen dafür, dass wir uns dieses Schatzes und seines Wertes
wieder bewusster werden.
Demnach werden folgende Merkmale
unser zukünftiges Denken prägen:
Statt ideologisch denken
wir evolutionär: Wir nehmen unsere Gesellschaft als Spiel
unterschiedlicher, aber gleichberechtigter Interessen wahr, glauben
an eine offene und menschengemachte Zukunft, nehmen die Spielräume
unserer Eigenverantwortung ebenso realistisch wie mutig wahr, glauben
nicht an einfache Lösungen, sondern an beeinflussbare Prozesse.
Wir denken wieder bevorzugt
in klugen Fragen.
Wir fragen uns, wie wir
mit einem Weniger am materellen Werten ein Mehr an Lebensqualität
und Lebenssinn erzielen können.
Wir vermeiden, so weit
es geht und sinnvoll ist, eine pessimistische Grundhaltung und setzen
stattdessen auf einen illusionslosen Optimismus: Die Welt sehen,
wie sie ist, aber sie an ihren Möglichkeiten messen.
Wir freuen uns, basierend
auf einer Grundhaltung von Neugier und Interesse, darüber,
dass wir immer noch dazu lernen und besser werden können.
Wir verlagern unser Interesse
weg von den Einzelteilen hin zu den Zusammenhängen, Prozessen
und Vernetzungen.
Wir erkennen, dass Widersprüche
Teil einer komplexen Welt sind, und lernen, sie nicht nur auszuhalten,
sondern konstruktiv zu nutzen.
Kurzum: Unser Denken wird
ganzheitlicher, flexibler, fliessender, optimistischer, zukunftsorientierter.
Poetischer formuliert: Die Flamme unserer Be-Geist-erung wird heller
und strahlender.
Was aber nährt diese
Flamme ? Zum einen die Sehnsucht nach mehr Kontrolle des Selbst: Das
alte Betriebssystem hat sich als unfähig erwiesen, unsere neuen
Werte wie Lebensqualität zu realisieren, also brauchen wir ein
neues. Wenn wir bei unserer Lebensgestaltung den vollen Freiheits-Raum
ausschöpfen wollen, müssen wir von Gehirn-Besitzern zu Gehirn-Nutzern
werden.
Die zweite Antriebskraft
liegt in der menschlichen Natur und ist alles andere als neu: Wir wollen
die Welt verstehen. Und damit uns selbst. Wir haben einen uns inne wohnenden
Drang nach Bewusstseinserweiterung. Und stellen gerade fest, dass wir
da unsere Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft
haben. Das Projekt Aufklärung ist noch nicht zu Ende, in mancherlei
Hinsicht geht es gerade erst los.
Denken ist nicht alles,
aber ohne Denken ist alles nichts
Sollte der Trend MINDNESS
tatsächlich zu einer gesellschaftlich und kulturell bestimmenden
Kraft werden: Droht uns dann eine kopflastige Zukunft ? Die Gefahr ist
gering. Zu eng sind die drei Trends WELLNESS, SELFNESS und MINDNESS
miteinander verknüpft. Körper und Seele, Ich und Selbst, Geist
und Erkennen werden immer weniger als getrennte Sphären erlebt,
sondern als zusammen gehörende Elemente eines selbstverantworteten
und selbstbewussten Menschen.
Dazu tragen gerade geistige
Früchte bei: Die Hirnforschung hat etwa längst erkannt, dass
Kognitionen und Emotionen eng verknüpft sind, so dass sich die
unselige scharfe Trennung zwischen Denken und Fühlen nicht aufrecht
erhalten lässt. Auch die enge Verflechtung von Einsicht und Schönheit
wird immer deutlicher: Ein schöner Gedanke ist meist auch ein richtiger
und guter Gedanke.
All das haben jene Menschen,
die sich dank intensiver Selbstreflexion einigermassen kennen, natürlich
immer schon gewusst, aber es ist doch schön, wenn jetzt auch die
Wissenschaften so weit sind...
Lebenskunst, verstanden als
jenes Kunsthandwerk, mit dem wir unsere Lebensqualität pflegen,
hat viel mit Balance und richtigem Mass zu tun. Auch das ist nicht ganz
neu. Neu ist dagegen die Erkenntnis, wie wichtig für uns bei der
Ausübung des Kunsthandwerks Lebensgestaltung das Instrumentarium
unseres Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens, kurz unseres Geistes,
ist.
Weil dieses Instrumentarium
oder Werkzeug offenkundig nicht mehr so funktioniert, wie wir es brauchen
würden, wenden wir ihm jetzt unsere bewusste Aufmerkamkeit zu und
versuchen, es zu verstehen und dann zu verbessern.
Gelungenes Kunsthandwerk
verlangt einen bewussten und pfleglichen Umgang mit dem eigenen Handwerkszeug
und Instrumentarium. Im Falle unserer Lebens-Kunst ist das wirksamste
- und bei aller Anstrengung auch formbarste - Werkzeug unser Geist.
Der herauf dämmernde
Trend MINDNESS meint in seinem Kern nichts anderes, als dass uns diese
Erkenntnis allmählich dämmert...
© 2005 by
Dr. Andreas Giger. Dieser Text wurde bisher noch nirgends abgedruckt.
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