Gigerheimat: Worte
Familienwerte im Wandel

 

Wege aus dem Chaos des Wertewandels

Für den "Zukunftsphilosophen" Andreas Giger aus dem Appenzellerland hat der Wertewandel in der "Multi-Options-Gesellschaft" ein Sinn-Vakuum hinterlassen, in dem die Menschen sich selber zurechtfinden müssen. Dieser manchmal steinige Weg werde in Zukunft immer besser begehbar. Text: Urs Fitze. Foto: Andreas Butz.

Andreas Giger, was macht ein Zukunftsphilosoph?

Er kennt die Vergangenheit, analysiert die Gegenwart und denkt auf Basis dieses Wissens nach über die Zukunft. So haben im Wesentlichen schon die Priester des Orakels von Delphi gearbeitet.

Machen Sie Vorhersagen?

Nein. Die Zukunft ist grundsätzlich offen. Prophezeiungen sind nicht möglich. Sonst würde ich ja jeden Samstag im Lotto gewinnen, wenn ich denn Kenntnis hätte davon, was in Zukunft geschehen wird. Gucken, was läuft, lautet meine Devise, und daraus lassen sich schon ein paar Trends ableiten, wie die Zukunft aussehen könnte.

Und wie gehen Sie dabei vor?

Seit einigen Jahren stelle ich ein paar hundert Leuten via die Internet-Seite www.sensonet.org regelmässig und in vertiefter Form Fragen. Die Befragten machen freiwillig mit. Sie sind nicht repräsentativ ausgewählt, sondern bilden, wenn man so will, eine Elite, vielleicht das Fünftel der Bevölkerung, das sich vertieft mit persönlichen und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt und bereit ist, Neues zu wagen. Diese Trendsetter und ein intensives Studium von Zeitungen, Zeitschriften und Literatur sind die Basis meines Orakels.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage der Familie?

Das Zusammenleben ist wesentlich vielfältiger geworden. Noch vor dreissig Jahren war das Konkubinat gesetzlich verboten. Damals galt das traditionelle Familienmodell sozusagen als allein selig machend. Heute haben wir es mit einer Vielzahl von Möglichkeiten zu tun, die allgemein akzeptiert sind. Die MultiOptions-Gesellschaft macht eben auch vor der Familie nicht Halt.

Wie kam es soweit?

Es gibt einen Megatrend: die Individualisierung. Jeder von uns hat heute sehr viel mehr Entscheidungsfreiheit als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Kirche hat ihre auf grosser Macht aufbauende Autorität verloren und damit auch weitgehend ihren einst grossen Einfluss auf die Familie. Und auch der Staat propagiert nicht mehr das klassische Familienmodell. Heute können wir uns frei entscheiden, welches Beziehungsmodell wir leben möchten, anderseits müssen wir es aber auch.

Wie meinen Sie das?

Der Wertewandel verlief sehr schnell, die Lage ist gewissermassen chaotisch. Die Vorbilder sind weg, die Rollenmuster und die Autoritäten auch. Das macht uns frei, aber es fordert uns auch, bis zur Überforderung.

Und wie gehen wir mit diesem Chaos um?

Das lässt sich an der Scheidungsstatistik ablesen. Viele Ehen dauern nicht mehr ewig, sondern sind eine Verbindung auf Zeit. Diese tiefe Erfolgsquote hat auch mit radikal veränderten Erwartungen an eine Beziehung zu tun. Alles baut auf Gefühlen. Der Pragmatismus früherer Generationen, als eine Ehe auch eine Zweckgemeinschaft war, ist Geschichte. Heute brauchen wir einander nicht mehr, um gemeinsam zu überleben. Übrig geblieben sind das romantische Liebesideal und eine reichlich narzisstische Erwartungshaltung, der Partner oder die Partnerin könne einem sozusagen eine Identität verleihen.

Aber erwarten die Menschen denn noch, dass eine Liebesbeziehung auf die Ewigkeit angelegt ist?

Durchaus. Dieses Ideal ist nicht einfach verschwunden, aber es hat heute einen ganz anderen Hintergrund. Die Lebenserwartung ist stark gestiegen, die ökonomische Abhängigkeit ist weit geringer, und der Individualismus ausgeprägter denn je. Gleichzeitig sind die Erwartungen an eine Partnerschaft hoch, sehr hoch. Und wenn wir Zufriedenheit als Summe der Erfüllung unserer Erwartungen betrachten, dann ist die Unzufriedenheit sozusagen vorprogrammiert.

Gibt es Auswege aus diesem Dilemma?

Die Multi-Options-Gesellschaft hat uns alle eben auch zu Suchenden gemacht, wir müssen unsere Identität selber erschaffen oder erfinden, wenn Sie so wollen. Das ist keine leichte Aufgabe, sie verlangt von uns die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, und das nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern auch im öffentlichen Diskurs. Nur so bilden sich Verhaltensmuster heraus, an denen wir uns orientieren können. Und da habe ich den Eindruck, dass wir dabei sind, die private Zone zu verlassen und uns öffentlich mit solchen in die Privatsphäre verdrängten Fragen der Identität auseinander zu setzen.

Woran äussert sich das?

Meine Lebensgefährtin hat eine Streitschule aufgebaut. Der Streit kommt ja noch vor der Mediation, und wer gelernt hat, zu streiten und damit der Auseinandersetzung nicht auszuweichen, macht gerade in der Beziehung nichts falsch. Das mag nur ein kleines Beispiel sein, aber es veranschaulicht ein offensichtlich vorhandenes Bedürfnis, das Vakuum allmählich aufzufüllen, das der Wertewandel bewirkt hat. Wir müssen als Individuen und als Gesellschaft lernen, mit unseren neu gewonnen Freiheiten zu leben. Die wachsende Beratungs-Industrie könnte da eine wichtige Rolle spielen.

Und der Staat? Was soll er tun? Was lassen?

Allzu lange hat der Staat eine Familienpolitik betrieben, die nur zum Ziel hatte, das klassische Familienmodell mit klarer Rollenteilung zu fördern. Heute ist selbst in der Schweiz ein angesichts der Realität schon lange notwendiger Pragmatismus eingekehrt. Familienpolitik wird zunehmend zur Demographiepolitik, der Nachwuchs wird, wie im einst belächelten Afrika, wieder zur Frage des Überlebens für die Alten. Persönlich glaube ich, dass der Staat längst nicht die Bedeutung hat, die sich manche Politiker vielleicht wünschen mögen. Letztlich werden solche Fragen heute auf der individuellen Ebene, in der Beziehung, in der Familie geklärt.

Warum kommen hierzulande immer weniger Kinder zur Welt?

Ein Kind fällt nicht mehr, wie in Zeiten, als Verhütung und Familienplanung noch kein Thema waren, einfach vom Himmel, sondern es wird immer öfters in die Lebensplanung einbezogen, es wächst alleine auf, wird aufs Podest gehoben und vergöttert. Das ist die heutige Realität. Warum das so ist, hat eine ganze Reihe von Gründen, die von Zukunftsangst, materiellen Überlegungen bis zu purem Individualismus reichen. Was sich aber vielleicht am meisten geändert hat: Kinder sind nicht mehr einfach selbstverständlich da, sie werden so überhöht wahrgenommen wie das eigene Ich oder die Liebesbeziehung. Das macht die Erziehung nicht einfacher, und die Überforderung ist angesichts dieser Ansprüche oft vorprogrammiert. Da kann ein Kind schon zuviel sein.

Verändert sich die Erziehung?

Der Wertewandel hat gewisse sekundäre Tugenden verschwinden lassen: Pünktlichkeit oder Disziplin haben keine grosse Bedeutung mehr. Das ist auch das Ergebnis der antiautoritären Erziehung. Doch es gibt eine zuweilen skurrile Züge annehmende Gegenbewegung. Plötzlich werden Internats-Modelle, die auf englische Vorbilder des frühen 20. Jahrhunderts zurückreichen, aus der Mottenkiste hervorgeholt und als Lösungsmodelle präsentiert. Das mag überzeichnet sein, die Diskussion ist aber sicher wichtig. Sind wir zu weit gegangen? Hat das, laisser-faire' nicht manche Probleme, etwa bei der Integration von Ausländern, noch schlimmer gemacht? Sollten wir, auch in der Erziehung, nicht wieder mehr fordern und damit die Gelegenheit schaffen, an der Herausforderung zu wachsen?

Wie wirkt sich das Chaos des Wertewandels auf die mit Kindern gesegnete Familie aus?

Es ist eine Gratwanderung. Die alten Modelle taugen nicht mehr, doch wir haben auch keine neuen, die sich bewährt haben. So taumelt die moderne Familie von einem Experiment zum andern. Doch die Werte haben sich gar nicht so stark verändert. In der Erziehung geht es doch nach wie vor darum, anständige, selbständige Menschen hervorzubringen, die in der Lage sind, ihr Leben zu meistern. Es sind viele Wege, die dahin führen. Doch es gibt niemanden, der einen Wegweiser aufgestellt hätte. Da müssen wir uns schon selber zurechtfinden.

Welche Trends sehen Sie für die Zukunft?

Die hohe Scheidungsrate könnte leicht sinken, die Geburtenrate leicht steigen, auch wenn der für eine stabile Bevölkerungszahl notwendige Wert von 2,1 Kindern pro Frau nicht erreicht werden wird. Das ist eine unspektakuläre Entwicklung, aber eine gewisse Entspannung in den brisanten Themen lässt sich absehen.

Weshalb?

Wir leben in einer Phase des Umbruchs, der Unsicherheit, gerade in Beziehungsfragen. Doch wir lernen dazu, individuell und als Kollektiv. Und wenn ich die jüngere Generation betrachte, so will mir scheinen, dass sich hier wieder ein gesunder Pragmatismus breit macht. Die Erwartungen an die Partnerschaft werden realistischer, die Beziehungen damit stabiler. Das wird es auch wieder leichter machen, Kinder auf die Welt zu stellen. Am meisten Veränderung erwarte ich in der älteren Generation. Die Alten von morgen werden unabhängiger und vitaler sein. Sie werden neue Lebensformen ausprobieren und damit vielleicht sogar eine Vorreiterrolle für die ganze Gesellschaft übernehmen.

Andreas Giger, der Zukunftsphilosoph

Vor 13 Jahren hat sich der heute 55-jährige Andreas Giger ins Appenzellerland zurückgezogen, wo er derzeit in einem Landgasthof mit weitem Ausblick eingemietet ist. In der Vergangenheit betätigte sich der studierte Sozialwissenschafter als Journalist, Unternehmensberater, Coach, Hausmann und alleinerziehender Vater. Beruflich machte er sich als Marktforscher selbständig und spezialisierte sich auf die Entwicklung von Visionen für Unternehmen. Doch der Wandel der Menschen und der Gesamtgesellschaft interessierte ihn langfristig mehr.

 

 

swissfamily - Dasandere Familienmagazin, April 2007. Test aus der deutschsprachigen, Bild aus der französischen Version

 

 

 

 

 

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