»Mobilität an sich ist kein
erstrebenswertes Ziel mehr«
Zukunftsforscher Andreas Giger über
Cocooning und die Sehnsucht nach dem Echten
VON KARIN AESCHLIMANN
Der Schweizer Zukunftsforscher und Sozialwissenschaftler
Andreas Giger ist Autor mehrerer Bücher und lebt aus Überzeugung
auf dem Land. Seine Erkenntnisse über das Wohnen in der Zukunft
gewinnt er unter anderem aus der Befragung eines 300-köpfigen Netzwerks
namens SensoNet (www.sensonet.org).
Herr Giger, es gibt sehr futuristische
Entwürfe zur Zukunft der Architektur, vom kilometerhohen Wolkenkratzer
bis zu organischen Erdhäusern. In welche Richtung wird sich ihrer
Meinung nach das Wohnen tatsächlich entwickeln?
Wirft man einen Blick in die Vergangenheit,
sieht man, dass das Grundmuster in der Architektur dasselbe geblieben
ist, seitdem die Höhlenbewohner mit Rentierfellen ihre Höhlen
unterteilt haben: Es geht immer um zusammengefügte, schachtelförmige
Räume. Meiner Meinung nach sind auch in der Zukunft keine grossen
Wohn-Revolutionen zu erwarten. Denn wie alle elementaren Grundbedürfnisse
des Menschen - Essen, Trinken, Sex - ist auch das Wohnen grundsätzlich
konservativ.
Wenn das wirtschaftliche und weltpolitische
Umfeld rau ist, steigt allerdings der Stellenwert der eigenen vier Wände.
Wird sich nicht aus diesem Grund das Wohnen in Zukunft verändern?
Es sind beim Wohnen eben auch viele Emotionen
und Gefühle im Spiel. Der Mensch braucht mehr als ein Dach über
dem Kopf, es geht in einem umfassenden Sinn um Sicherheit, Schutz und
Geborgenheit. Und da ist die Entwicklungsrichtung klar: Die Wohnung,
das Haus werden in zehn Jahren noch sehr viel mehr Lebensmittelpunkt
sein als heute. Das haben auch Befragungen von SensoNet über einen
längeren Zeitraum hin ergeben.
Widerspricht das denn nicht dem Trend
zur Mobilität?
Es war eine Zeit lang tatsächlich
sehr en vogue, mobil zu sein. Das war ein Produkt der New Economy. Heute
ist Mobilität an sich kein erstrebenswertes Ziel mehr; unterwegs
ist man nur noch, wenn es nötig ist. Selbst Expeditionen brauchen
aber ein«Basislager«, das heisst, der Bedarf nach einer
gemütlichen Wohnung wird bei denen, die reisen müssen, noch
steigen. »Cocooning« ist deshalb nach wie vor ein mächtiger
Trend: Man zieht sich ins Private zurück, spinnt sich in einen
symbolischen Kokon ein, in dem man emotionale Geborgenheit findet und
so für die nächsten Ausflüge Kraft tankt.
Wir leben im Zeitalter der Individualisierung.
Wie schlägt sich dies beim Wohnen nieder?
Bis vor zwanzig, dreissig Jahren wurde
von den Möbelherstellern entschieden, wie wir uns einrichten. Alle
hatten die Wohnwand in Eiche, das war das Angebot, das »hatte
man«. Heute ist die Instanz individualisiert, die darüber
entscheidet, was gut, schön oder cool ist. Das heisst, dass jeder
und jede selber wählen, selber entscheiden muss, was einem gefällt.
Eine hohe Anforderung bis Überforderung. Manche entlasten sich,
indem sie sagen, ich möchte alles aus einer Hand, und kaufen eine
fixfertig von Philippe Starck durchgestylte Immobilie, wie sie jetzt
in verschiedenen europäischen Städten gebaut werden. Der Trend
dazu heisst Home Fashioning. Möbeldesigner weiten ihr Betätigungsfeld
aus und entwerfen auch die Zahnbürste und den Hometrainer, sie
schaffen ganze, stilreine Lebenswelten.
Die einen Einrichtungsmagazine schwärmen
von Schnörkeln, die anderen propagieren den Trend zur »new
simplicity«. Was wird sich letztlich durchsetzen?
Nochmals: Es gibt keine Einheitstrends
mehr. Auch Stil-Magazine sind nur Steinbrüche, in denen man sich
bedient. Es gibt Schnörkel, es gibt Cocooning, es gibt aber auch
den starken Trend zu Vereinfachung, den Simplify-Trend. Dabei geht es
weniger um Askese und keinesfalls um die Lust am Verzicht, sondern um
die Reduktion von Ballast und die Hinwendung zu Qualität - und
damit zur eigenen Lebensqualität. Die Sehnsucht nach dem Echten,
nach Konzentration auf das Wesentliche wächst. Dekoration wird
damit überflüssig. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist
der deutsche Manufactum-Versand, der unter dem Motto »Es gibt
sie noch, die guten Dinge« handwerklich gefertigte, qualitativ
hochwertige Waren und Möbel anbietet.
Was für Gegenstände und Möbel
sollte also ein gewiefter Designer entwerfen, um am ehesten Erfolg zu
haben?
Die Herausforderung der Zukunft wird darin
bestehen, individuelle Wünsche zu bedienen und trotzdem kostengünstig
zu produzieren. Am einfachsten wird sein, ein Basismodul anzubieten,
das unterschiedlich ausgestattet werden kann und das flexibel ist. Wie
die unverwüstlich-eleganten Möbel von USM Haller etwa, die
man immer wieder neu kombinieren und je nach Bedarf im Büro oder
im Wohnzimmer einsetzen kann.
Der sicherste Trend der Zukunft ist
die Alterung der Bevölkerung. Was hat das für Folgen fürs
Wohnen?
Es wird ja gern und ausführlich von
den 30-jährigen Singles in den Grossstädten gesprochen. Die
sind vielleicht medienwirksam, aber statistisch gar nicht sehr relevant;
Einpersonenhaushalte findet man am häufigsten bei den Senioren.
Einer der interessantesten Zukunftsmärkte im Wohnbereich wird deshalb
die Alterswohngemeinschaft sein. Letztlich geht es darum, nach dem Auszug
der Kinder und dem Wegsterben des Partners eben nicht allein in der
Fünfzimmerwohnung hocken zu bleiben, sondern die Möglichkeit
zu haben, als älterer Single in anregendem Umfeld soziale Kontakte
zu pflegen. Beispielsweise, indem sich mehrere Wohnungen ein Gästezimmer
teilen oder einen grossen Aufenthaltsraum.
»Der wahre Wohnluxus der Zukunft
wird sein: Raum, Ruhe und Stille.«
Wie steht es mit der Technik für
Senioren? Manchmal hat man das Gefühl, moderne Häuser seien
selbst für Leute, die mit dem Computer aufgewachsen sind, eine
Überforderung: all die Anlagen, die gewartet, eingestellt, gepflegt,
verstanden, gesäubert, mit Software gefüttert werden wollen.
Es ist eine Urangst des Menschen, in einer
ausrastenden Technik gefangen zu sein. Dieses berühmte ´intelligente
Hausª - es reguliert sich selber voll elektronisch, ist mit selbst
füllendem Kühlschrank ausgestattet und so weiter - wird deshalb
niemals durchschlagenden Erfolg haben, auch bei jüngeren Leuten
nicht, zumal der IT-Hype vorbei ist und wir alle ein wenig ernüchtert
sind. Es wird aber schon erwartet, dass für Haus- und Wohnungsbau
die jeweils modernsten Materialien verwendet werden, zum Beispiel Fensterglas,
das die Blend- oder Isolationswirkung selbstständig regelt. Was
kommen wird, ist eine Renaissance der häuslichen Dienstleistungen.
Die riesigen Fensterfronten der modernen Häuser rufen zum Beispiel
nach professionellem Fensterputz-Service. Senioren-gerecht heisst im
Übrigen nicht »hässlich«, sondern in erster Linie
»leicht bedienbar«, und davon profitieren auch andere Nutzergruppen.
Was wird also der wahre Wohn-Luxus der
Zukunft sein?
Sicher nicht mehr die goldenen Wasserhähne
und dicken Orientteppiche. Luxus wird sein: Raum, Ruhe und Stille. Das
grundlegende Problem dabei ist, dass wir jetzt schon in sehr dicht besiedelten
Landschaften leben. Man muss aber auch sehen, dass die Form von Privatheit,
wie wir sie heute pflegen und schätzen, eine junge soziale Errungenschaft
ist, ein neues Privileg. Früher wohnten alle in einem Raum, jeder
hat vom anderen alles mitgekriegt. Insofern kann man von einem Retro-Trend
sprechen, wenn man sieht, wie die Menschen wieder näher zusammenrücken
und sich hinter grossen Fensterfronten ausstellen. Und: Auch interessante
soziale Anregungen in der Umgebung der Wohnung können Luxus sein,
etwa die Stadtwohnung mitten im Geschehen.
Wie wohnen Sie selber?
In einer Wohnung in einem Gasthof in einem
kleinen Dorf im Appenzeller Vorderland. Aus Überzeugung. Ausprobiert
habe ich alle Wohnformen von München bis Kuhdorf. Das ist übrigens
auch eine typische Erscheinung. Man hat im Laufe seines Lebens Erst-,
Zweit- und Drittwohnungen, durchschreitet also eine Wohn-Entwicklung.
Darf denn ein Zukunftsforscher überhaupt
auf dem Land wohnen, weitab von der brodelnden Szene?
Vor zwanzig Jahren wäre das wohl noch
nicht möglich gewesen, heute sitze ich dank Internet virtuell mitten
im Leben. Ausserdem bin ich ja nicht Trendforscher, sondern eher Zukunfts-Philosoph,
das heisst, ich habe die längerfristigen Entwicklungsperspektiven
der Gesellschaft im Auge. Und da tut ein wenig Distanz zum hektischen
Trendgeschehen ganz gut.