Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

20. Die Sphäre der Reifung

Hätte man die Menschen vor fünfhundert, hundert oder auch nur fünfzig Jahren gefragt, was für sie eine optimale Lebensqualität bedeutet, wären die damaligen Vorstellungen mit Sicherheit deutlich anders ausgefallen als die heutigen. Dasselbe Phänomen können wir an uns selbst feststellen, auch unsere Vorstellungen von optimaler Lebensqualität wandeln sich im Laufe eines Lebens. Schon hier sehen wir die Richtigkeit der Betrachtungsweise, wonach nichts auf dieser Welt bleibt, wie es ist, sondern alles sich ständig wandelt. „Alles fließt“, wie schon die alten Griechen sagten.

Die meisten schon etwas in die Jahre gekommenen Menschen spüren manchmal so etwas wie ein metaphysisches Gruseln, wenn sie sich fragen, was sie eigentlich noch mit ihrer früheren Ausgabe von vor zwanzig oder dreißig Jahren zu tun haben. Was ja eine berechtigte Frage ist. Wir werden im Laufe solcher Zeiträume tatsächlich anders. Und das ist gut so. Ich halte es hier mit Brecht, der in einer winzigen Geschichte seinen Helden, Herrn K. auf einen alten Bekannten treffen lässt, den er lange nicht gesehen hat. Dieser Bekannte meint, Herr K. habe sich gar nicht verändert. Die Geschichte endet so: Herr K. erbleichte.

Blieben wir, wie wir sind, hätten wir gar nichts davon, dass wir älter werden. Älter werden wir nun mal unausweichlich. Und deshalb sollten wir auch etwas davon haben. Indem wir uns verändern. Und zwar zum Besseren. Also indem wir reifen.

Vom Käse lernen, heißt dabei siegen lernen. Guter Käse (und guter Wein) braucht eine Zeit der Reifung, um seinen optimalen Geschmack zu entfalten. Dasselbe gilt für uns Menschen: Reifung verbessert unsere Lebensqualität (siehe auch Kapitel 14, Die Sphäre der Zeit). Doch um die Sphäre der Reifung für unsere Lebensqualität voll nutzen zu können, braucht es zunächst eine Einsicht: Älter werden wir von allein. Reifer nicht.

Reifung bedeutet Entwicklung auf ein bestimmtes, positiv bewertetes Ziel hin. Zu diesem Idealziel vollendeter Reife, das wir so wohl kaum erreichen können, gehören Werte wie Lernen und Wissenserwerb, Selbst-Bewusstsein im Sinne von Selbsterkenntnis, aber auch von Gelassenheit und innerer Ruhe, im Reinen mit sich selbst zu sein, Vertrauen in den eigenen inneren Kompass, soziale Fähigkeiten, die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, sowie das Wissen darum, was man wirklich will und was einem wirklich gut tut. Wir könnten diesen idealen Endpunkt eines Reifungsprozesses auch mit dem schönen Wort Weisheit bezeichnen – im vollen Bewusstsein darum, dass wir, oder jedenfalls die meisten von uns, nie wirklich weise werden können, sehr wohl aber weiser.

Wenn wir die Sphäre der Reifung vom Ende her betrachten, also vom Zustand idealer Reife oder Weisheit aus, nützt sie uns wenig, denn dann werden wir immer eine Diskrepanz zwischen Soll und Ist feststellen, die uns unzufrieden macht. Zur Orientierung, also zur Frage, ob wir uns auf dem richtigen Kurs befinden, sind solche Blicke voraus in Richtung Idealziel sinnvoll, doch zu unserer Lebensqualität trägt der Blick zurück auf die Wegstrecke, die wir bei unseren Reifungsprozessen schon bewältigt haben, deutlich mehr bei. Der Weg ist hier tatsächlich das Ziel.

Wie jeder Weg kennt auch der Weg der Reifung seine Störungen und Unterbrüche und Umwege. Und wenn wir das Bild aufs Wasser verlegen, dann können wir oft nicht direkt auf unser Ziel los segeln, sondern müssen gegen den Wind kreuzen, was dazu führen kann, dass wir uns scheinbar vom Ziel weg bewegen. All das ist nicht weiter schlimm, solange wir insgesamt den Eindruck haben, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein.

Nicht nur Orientierung für unsere Lebensgestaltung bietet die Sphäre der Reifung an, sondern auch Identität („ich reife, also bin ich“) und Sinn („ein Sinn des Lebens ist es zu reifen“). Tatsächlich werden Sinn-Fragen im Laufe eines Reifungsprozesses anders gestellt und anders beantwortet, eine unmittelbare Nähe der beiden Sphären von Sinn und Reifung ist also gegeben. Da unsere Fähigkeit, Sinn-Quellen zu erschließen, sich durch Reifung steigern lässt, steigt unser Lebensqualitäts-Konto mit zunehmendem Alter auch dank dieses Zusammenhangs.

Wenn ich von Reife und Reifung schwärme und dabei auch auf das Bild des reifen Apfels verweise, der ja etwas ganz anderes ist als ein alter Apfel, bekomme ich von Menschen, die gerne überall ein Haar in der Suppe finden, manchmal zu hören, dieses Bild erinnere sie aber fatal an die Möglichkeit von Überreife. Und das sei bekanntlich etwas ziemlich ekliges.

Ich kann darauf jeweils nur entgegnen: Na und? Tatsächlich gibt es in der Natur nirgendwo so etwas wie ewige Reife, und so können auch wir Menschen keinen Anspruch darauf erheben, im Zustand optimaler Reifung zu verharren, wenn wir ihn denn erreicht haben. Ungeschminkt formuliert: Wir reifen natürlich auch zum Tode hin. So ist es, und deshalb nicht so schlimm. Mal abgesehen davon, dass ich die Vorstellung, auf ewig im selben unveränderbaren Zustand verharren zu müssen, selbst wenn dies der Zustand idealer Reife wäre, schlimmer finde als jene vom endgültigen Tod. So paradox es klingen mag: Unsere Lebensqualität wird durch das Wissen darum, dass sie nicht ewigen Bestand haben wird, intensiver. Weshalb ein geglücktes Leben noch immer die beste Vorbereitung auf das unvermeidliche Ende bildet.

So weit sind wir zum Glück noch nicht, und können uns deshalb getrost noch einem anderen wichtigen Aspekt der Sphäre der Reifung zuwenden, nämlich deren universaler Gültigkeit: Reifen können nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften wie Paare, Familien, Unternehmen oder ganze Gesellschaften. Reifer miteinander umgehen bedeutet, das Zusammenleben friedlicher, klüger, gelassener, toleranter zu gestalten. Weitere Aspekte einer reifen, ja vielleicht sogar weisen Gesellschaft können Sie sich sicher leicht selber ausmalen.

Dabei hilft es mir, jeweils auch das Gegenteil einzubeziehen, also Unreife. Unreife Menschen und unreifes  Verhalten erkennen wir oft leichter als Reife, was uns dabei hilft, zwischen beidem unterscheiden zu lernen. Ganz offensichtlich war zum Beispiel die letzte amerikanische Regierung ein Ausbund von Unreife, von kindischer Selbstbezogenheit und pubertärer Fixierung auf übersimple Vorstellungen von Gut und Böse. Noch ist es zu früh für einen Beweis dafür, die neue Regierung verkörpere eine höhere  Reifungsstufe, doch Anlass zur Hoffnung gibt es.

Beispiele für eine geradezu pubertäre Unreife finden sich auch in unserer näheren gesellschaftlichen Umgebung genug, woraus als Alternativentwurf leicht Vorstellungen einer gereiften Gesellschaft wachsen. Eine solche würde ohne Zweifel unser persönliches Lebensqualitäts-Konto deutlich verbessern. Nicht nur unsere persönliche Reifung, sondern auch jene der Gesellschaft, beeinflussen unsere Lebensqualität. Was uns darauf verweist, dass wir uns bei der Suche nach Möglichkeiten, unsere Lebensqualität zu optimieren, nicht auf eine reine Nabelschau beschränken sollten. Unsere Lebensqualität hat eben auch mit der Welt zu tun, in der wir leben. Und auch die wird zwar von allein älter, aber nicht reifer. Ganz ohne unser Zutun wird die kulturelle Evolution in Richtung Reife und Weisheit nicht stattfinden...

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Kein bisschen weise?

Die Autobiographie eines damals berühmten Schauspielers hieß, lang ist es her, „Sechzig und kein bisschen weise“. Unaufhaltsam nähere ich mich jetzt auch diesem Alter und frage mich deshalb, ob ich auch auf die Idee käme, meine Autobiographie so zu nennen. Mal abgesehen davon, dass ich es noch etwa früh finde für eine solche...

Nun, der Verfasser besagter Bekenntnisse hatte damals den Ruf eines Lebemannes, dem keine Festivität zu ausgelassen war. Weisheit hatte im Gegensatz dazu einen eher langweiligen Ruf, sprach von Abgeklärtheit und Ruhe, von Rückzug ins eigene Innere vielleicht auch, sicher nicht aber von Spaß und Aktivismus. Das Versprechen, auch mit Sechzig kein bisschen weise zu sein (oder jedenfalls sein zu wollen), sollte also sagen: Seht her, ich bin noch jung und voll im Saft, die abgeklärte Ruhe des Alters ist noch weit weg!

Manche derjenigen, die heut zu Tage als die Neuen Alten bezeichnet werden, haben diese Haltung voll verinnerlicht. Sie tun alles, um zu beweisen, wie jung sie noch seien, ob in Kleidung oder Verhalten. Tatsächlich fühlen sich Menschen der reiferen Jahrgänge heute jünger und besser als ihre Altersgenossen in früheren Zeiten, weshalb es verständlich ist, dass sie sich gegen das Klischee vom Alter als einer Zeit des Abbaus und der Defizite wehren und neue, „jüngere“ Formen des älter Werdens erproben wollen.

Auch hier kann man es allerdings übertreiben, und die Grenze zum krampfhaften Wahn, sich am Bild ewiger Jugendlichkeit festzuklammern zu müssen, ist bald einmal erreicht. Mir gefällt die uralte Vorstellung, ein Jedes habe seine Zeit, viel besser. Ewige Jugend ist für mich eine stinklangweilige Idee. Viel spannender ist es doch, mir bei meiner eigenen Entwicklung zugucken zu können.

So lange diese persönliche Evolution dazu führt, dass sie meine Lebensqualität verbessert, stimmt sie und macht für mich Sinn. Und so lange nenne ich diese Entwicklung auch Reifung. Meine persönliche Erfahrung deckt sich dabei mit derjenigen vieler anderer: Das Interesse an Reifung und die Bereitschaft, dafür auch etwas zu investieren, wachsen mit zunehmendem Alter. Die Jugend ist also nicht unbedingt die Zeit der Reifung.

Das ändert sich später – hoffentlich. Indem wir uns bewusst mit unserer eigenen Reifung (und jener der Gesellschaft) beschäftigen, helfen wir ihr auf die Sprünge und ermöglichen so auch die Annäherung an Weisheit. Wer also behauptet, auch mit Sechzig noch kein bisschen weise zu sein, hat offensichtlich etwas verpasst. Übrigens auch, wer behauptet, mit Sechzig total weise zu sein. Zur angemessenen Weisheit jedes Alters gehört eben auch die Erkenntnis, dass ein bisschen etwas anderes ist als Vollständigkeit. Und dass es seinen ganz eigenen Reiz haben kann, etwas wohl zu ahnen, aber nicht wirklich zu wissen.