Der Mann,
der die Zukunft raubt
Andreas Giger nennt
sich Zukunftsphilosoph. Doch statt zauberhafte Science-Fiction bieter
er Entzauberung: "Die Zukunft ist unvorhersehbar". Wer ist dieser
Mensch, dessen Job es ist, die Hoffnungen zu enttäuschen, die
er weckt ? Eine Spurensuche im Appenzellerland.
St. Galler Tagblatt,
6. April 2004, Seite 2 (Hintergrund)- Text und Interview: René
Scheu
Zukunft ist naturgemäss
das, was noch nicht ist und folglich auch nicht erkannt werden kann.
Obwohl er diese Ansicht teilt, steht auf seiner Vistitenkarte "Zukunftsphilosoph":
Das ist Andreas Gigers selbsterfundener Beruf. Worüber man nicht
sprechen kann, darüber muss man schweigen, sagte zu Beginn des
20. Jahrhunderts der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein.
Worüber man nicht sprechen kann, darüber kann man immerhin
philosophieren, sagt der in Wald beheimatete, aus Schaffhausen stammende
Giger.
Aber philosophieren ist
nicht spekulieren. Im Gespräch warnt er immer wieder vor dem
menschlichen-allzumenschlichen Hang, die Zukunft vorhersagen zu wollen.
Und hält dagegen: Wer so über die Zukunft spricht, als ob
sie bereits da wäre, vergisst, dass sie nicht unabhängig
von uns Menschen existiert. Wir gestalten die Zukunft mit. Wobei er
ergänzt: Wir können sie nicht vollständig planen und
unserem Willen unterwerfen. Deshalb bleibt sie unvorhersehbar.
Es geschieht eigentlich
nichts
Giger, 52-jährig,
ist kein Phantast, sondern ein Realist, und er hat ein klares Programm.
Erstens: Den Menschen ihre Illusionen rauben. Zweitens: Die Zukunft
ausgehend von den Menschen denken. Doch was ist der Mensch? "Menschen
sind Gewohnheitstiere", sagt er. Deshalb wollen sie in ihrem
tiefen Inneren gar nicht, dass sich die Gegenwart verändert.
Die Zukunft nichts als die Fortsetzung der Gegenwart mit anderen
Mitteln? "Sehen Sie", sagt er, "das Auto ist nichts
anderes als eine Kutsche ohne Pferde." Natürlich habe die
Erfindung des Automobils grosse Auswirkungen gehabt, gesteht er ein,
aber: nüchtern betrachtet habe sich nichts wirklich Entscheidendes
verändert. Und dann der lakonische Schluss: "Man kann es
nämlich auch so sehen: Menschen werden geboren und sterben. Das
war so, und so wird es bleiben. Ausserdem geschieht nichts."
Alles eine Frage der Perspektive.
Giger, der Desillusionierer,
hatte auch mal Illusionen. Er habe zum Beispiel geglaubt, sein Glück
in der Politik suchen zu müssen. Doch fehlten ihm 1980 300 Stimmen
für den Einzug in den Schaffhauser Stadtrat. Was einen anderen
in eine Sinnkrise gestürzt hätte, nahm er als Wink des Schicksals:
"Eine etablierte Karriere, das ist nicht mein Ding." Denn
zuvor hatte er noch damit geliebäugelt, "ein kleines Rädchen
in einer grossen Instution" zu sein. Nach der Doktorarbeit 1976
an der Universität Zürich über das politische Verhalten
im Kanton Schaffhausen hätte er sich vorstellen können,
an der "alma mater" zu arbeiten. Es sollte nicht sein. Also
wurde er Freelancer, die gemäss Giger einzige für
einen Philosophen und frei denkenden Menschen angemessene Lebensform.
Als Journalist verdiente
er sich sein Brot, engagierte sich als Ghostwriter (was er zuweilen
heute noch tut), gab ein New-Age-Magazin heraus und arbeitete als
Unternehmensberater bis er irgendwann auf die Idee kam, sich
mit der Zukunft zu beschäftigen. Endlich hatte er gefunden, was
erst noch erfunden werden musste: die Zukunftsphilosophie.
Um das Unbekannte zu begreifen,
muss man mit dem Bekannten beginnen. Deshalb steht die Lektüre
weit oben auf Gigers geistigem Menuplan neben Gesprächen
mit Zeitgenossen, die ebenfalls über ein fein eingestelltes Zeitgeistsensorium
verfügen. Giger liest zwar viel, aber besonders gern immer wieder
dieselben Bücher. Zum Beispiel Lems "Der futurologische Kongress"
oder Hesses "Steppenwolf". "Ich sehe das Buch nach
jeder Lektüre wieder anders und sehe dadurch, wie ich mich verändert
habe." Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern,
sondern sie anders zu interpretieren. Deshalb interessiert er sich
auch für den Wertewandel. Gegenwärtig kreist sein Denken
um den Begriff des Alters. Wir müssen umdenken lernen, sagt er,
Alter ist nicht gleich Alter. Alter kann auch Reife sein. "Am
Anfang steht die Änderung eines Wortes, einer Perspektive, und
am Ende steht vielleicht die Änderung der gesellschaftlichen
Wirklichkeit."
Als Realist weiss Giger:
Zukunftsphilosophie ist nicht nur Musenarbeit, sondern auch Business.
Die Leser seiner Studien bezeichnet er als "Kunden". Für
die deutsche Post hat er die Frage geklärt, ob das Internet die
Briefpost in absehbarer zeit überflüssig machen werde. Seine
Antwort: Nein. Er hat Studien zur Zukunft des Wohnens, der Arbeitswelt
und der Hautpflege verfasst, und immer wieder ist seine Botschaft
eine solche der Gelassenheit.
Der Philosoph und die
Heimat
Gelassen wirkt er auch
im Gespräch, als hätte er nun in Wald den Ort gefunden,
den er stets gesucht hat. Giger wohnt im "Hirschen" etwa
einen Kilometer oberhalb von Wald. Die Ferien seiner Kindheit habe
er bei seiner Tante im Toggenburg verbracht, und das scheint Spuren
hinterlassen zu haben: Das Gigersche Heimatgefühl ist so stark
ausgeprägt, dass er seine Homepage nach ihr benannt hat (www.gigerheimat.ch).
1993 ist er nach Rehetobel gezogen, seit zwei Jahren waltet er in
Wald. Doch ist ihm das Appenzellerland vor allem geistige Heimat.
Die chaotische Formenwelt der Landschaft korrespondiert mit seinem
mehr organischen als geradlinigen Denken. Auf langen Spaziergängen
erkundet er die äussere und zugleich seine innere Landschaft,
und beides soll nun zwischen zwei Buchdeckeln versammelt im Appenzeller-Verlag
erscheinen. Ein Band mit photographisch eingefangenen Eindrücken
seiner Wanderungen, versehen mit eigenen Gedanken, dazu ein mysteriöser
Titel: "A. ist überall". A wie Appenzell und A wie
...? Ein Lächeln. "Wenn Sie das meinen: Appenzell ist nicht
am Arsch der Welt." Wenn schon, dann sei das Umgekehrte wahr:
Die Welt ist in Appenzell. "Ich wohne hier, abgelegen oberhalb
von Wald, und bin doch mit der ganzen Welt vernetzt." Und wenn
er nach Deutschland oder sonst wohin müsse, dann sei die Postautostation
nur ein paar Minuten von seinem Zuhause entfernt. "Auch im Wohnen
müssen wir umdenken lernen." Alles eine Frage der Perspektive.
Andreas Giger:
"A. ist überall. Appenzeller Ein- und Aussichten", Appenzeller
Verlag, 2004, 128 S., 42. Fr.