Reife
als Jugendplus
"Ich
will so jung aussehen, wie ich mich fühle !" Mit dieser
Begründung vertrauen sich immer mehr ältere, aber auch mittelalterliche
und ganz alte Menschen den Skalpellen der Schönheitschirurgen
an und investieren dabei viel Geld und Zeit und oft genug auch Blut
und Tränen.
Auch für
dieses Verhalten gilt selbstverständlich, dass jede und jeder
nach ihrer und seiner Façon selig werden darf und soll
immerhin gehört dieser Grundsatz zu den reifsten Errungenschaften
menschlichen Zusammenlebens. Soll also schneiden und straffen, spritzen
und pumpen, wer mag. Wir können uns ja derweil der Frage zuwenden,
was daran reif ist und was nicht.
Was Reife
sein könnte, zeigt sehr schön und beispielhaft eine Bitte
an die höheren Mächte, die verschiedenen Autoren zugeschrieben
wird und vermutlich aus dem 18 Jahrhundert stammt:
"Gott,
schenke mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern
kann;
Den Mut,
Dinge zu ändern, die in meiner Macht stehen;
und die
Klugheit beides voneinander zu unterscheiden."
Reihe heißt hier
also nicht, passiv und Däumchen drehend dazusitzen und alles
Geschehen unbeeindruckt an sich vorbei ziehen zu lassen. Ins Geschehen
eingegriffen wird sehr wohl, aber nur dort, wo es sich lohnt, wo es
etwas bringt. Dort aktiv zu werden, wo Veränderungen nicht möglich
sind, bedeutet nur, Energien zu verschleudern und zu verpuffen, und
mit der eigenen Energie muss man nun mal in reiferen Jahren sorgsamer
umgehen.
Die Voraussetzung
für den haushälterischen und damit sinnvollen
Umgang mit der eigenen Energie wird in unserer Fürbitte als letzte
und vermutlich wichtigste der drei erflehten Tugenden genannt: die
Klugheit, zwischen Dingen zu unterscheiden, die ich verändern
kann, und solchen, wo ich nur gegen eine Wand renne. Es handelt sich
hierbei ohne Zweifel um eine reife Tugend, denn zu ihrem Erwerb ist
viel Erfahrungswissen nötig, und die Fähigkeit, aus dem
Erfahrenen die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Und natürlich
auch Offenheit und Flexibilität, denn die Grenzen zwischen dem
Möglichen und dem Unmöglichen sind nicht ein für allemal
festgelegt. Als die zitierte Bitte an die Gottheit entstand, gab es
noch keine Schönheitschirurgie; wer sich also auch im Alter eine
straffe Haut wünschte, war schlicht ein wenig blöd, denn
das gab es nicht im Angebot.
Das hat
sich bekanntlich gründlich geändert. Es steht heute, mit
etwas Hilfe der plastischen Chirurgie, durchaus in der eigenen Macht,
das eigene Aussehen zu ändern. Und sehr viel Mut braucht es dazu
auch nicht mehr, denn viele früher unvorstellbare "Anti-Aging-Maßnahmen"
werden heute allgemein akzeptiert, das heisst, sie sind normal geworden.
Um Normales zu tun, braucht es wenig Mut.
Unversehens stellen wir
fest, dass Schönheitsoperationen im Sinne unserer drei Tugenden
ein reifes Verhalten darstellen: Eine sich bietende Gelegenheit wird
ergriffen. Dieser (Trug-?)Schluss zeigt mal wieder, dass man sich
nicht unbesehen auf alte Zitate verlassen sollte. Wir leben nun mal
im 21. und nicht mehr im 18. Jahrhundert, und in dieser Zeit hat sich
das Spektrum dessen, was in unserer Macht steht, dermaßen erweitert,
dass sich unweigerlich die Frage stellt, ob wir wirklich alles dürfen
und sollen, was wir können.
Im heutigen
Supermarkt der Möglichkeiten ist es schlicht unmöglich,
alles zu tun, was möglich ist. Wir müssen deshalb ständig
auswählen, uns zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden.
Das allgemeinste Entschei-dungskriterium bei dieser Wahl ist immer
die Antwort auf die Frage: Wieviel ist mir dieses Angebot wert ?
Die Frage
nach dem Wert einer Sache ist bewusst persönlich formuliert,
denn Gott sei Dank lässt sie sich nicht generell beantworten,
sondern nur individuell: Wieviel mir etwas wert ist, hängt von
meinen persönlichen Werten ab.
Mich persönlich
zum Beispiel reizt das Angebot der Schönheitschirurgie wenig,
ich ziehe ein lebhaftes und lebendiges Gesicht mit Falten einer künstlich
geglätteten Fassade vor, der oft etwas Starres und Maskenhaftes
amhaftet. Doch das ist Geschmackssache. Mehr interessiert mich, welche
Werte denn eigentlich hinter dem starken Wunsch nach einem jünger
gemachten Gesicht stecken.
Die Phantasie
vom Jungbrunnen, in den man als alter Mensch hinein steigt und als
holde Maid oder knackiger Bursch wieder heraus kommt, ist uralt. Der
Wunsch nach ewiger Jugend steckt also tief in uns Menschen drin. Darin
steckt sicher viel Angst vor dem im Alter näher rückenden
Tod. Doch das kann noch nicht alles sein. Jugend an sich ist offenbar
ein wertvolles Gut, und die Abneigung gegenüber dem älter
Werden beruht wesentlich auf der Angst vor dem Verlust der Jugend.
Am im Wortsinne
sichtbarsten wird der Verlust der Jugend tatsächlich in
der Veränderung der eigenen äußeren Erscheinung. Wir
altern körperlich und werden dabei weder hübscher noch stärker
noch schneller. Ein Stück Jugend geht beim Altern unweigerlich
verloren.
Aufhalten
kann diesen Prozess alle Medizin der Welt bisher nicht, höchstens
mildern und verzögern. Das allein mag für manche vieles
bedeuten. Ob sich jemand seine Falten mit dem Messer glätten
lässt, kann nicht über den Reifegrad dieser Person entscheiden.
Aufschlussreicher
ist da schon die Frage, wie sehr man an seinem Äußeren
hängt, wie sehr man sich mit dem Glättegrad seiner Haut
identifiziert, wieviel Energie man da rein steckt. Und wie so oft
im Leben geht es auch hier um das richtige Maß, eine Erkenntnis,
welche die meisten Reifungsprozesse irgendwann bereit halten. Samt
der daraus folgenden Konsequenz: Reif ist es, das richtige Maß
zu finden und das Übermaß zu meiden.
Wer sein
Selbstbewusstsein ausschließlich davon abhängig macht,
wie jugendlich er aussieht, identifiziert sich offen-sichtlich im
Übermaß mit seinem Körper. Und übersieht dabei,
dass er oder sie durchaus auch in älteren Jahren viel von dem
kostbaren Gut Jugend behalten kann.
Der Boom
von "Anti-Aging", so haben wir einleitend festgestellt,
beruht auf dem Wunsch, das Äußere (so jung aussehen) wieder
mit dem Inneren (wie ich mich fühle) zur Deckung zu bringen.
Das erinnert mich an zwei Besitzerer eines Hauses, dessen Fassade
so exponiert ist, dass man ihr das Wirken des Zahns der Zeit nach
jeder Renovierung immer wieder schnell ansieht. Der eine Hausbesitzer
steckt alle Energie trotzdem immer wieder in die Fassadenrenovation.
Der andere lässt den Zahn der Zeit nagen und genießt stattdessen
das Innere seines Hauses, das unverändert frisch und gepflegt
ist. Welches der reifere Hausbesitzer ist, braucht wohl nicht lange
erörtert zu werden...
Sich jung
oder gar jugendlich zu fühlen, ist allemal wesentlich einfacher
und weniger aufwändig als jugendlich auszusehen. Wenn wir das
einmal begriffen haben, können auch wir Menschen in den reiferen
Jahrgängen anfangen, all die vielen Eigenschaften, Werte und
Energien in uns zu entdecken oder wieder zu entdecken, die man gemeinhin
mit Jugend in Verbindung bringt: Neugier und die Lust am Lernen, die
Fähigkeit zu staunen, die Freude an Spaß und Spiel, Lebenslust
und intensive Gefühle.
Kein Alter
kann uns dieser Schätze der Jugend berauben, wir können
es höchstens selbst. Wer sich seiner eigenen Reifung nicht entgegen
stemmt, wird sogar feststellen, dass manche in mittleren Jahren abgeschwächte
junge Eigenschaft im Alter wieder verstärkt hervor tritt. Hermann
Hesse formulierte es so: "Mit der Reife wird man immer jünger."
So gesehen
ist der viel beschworene Jugendlichkeitswahn unserer Tage also vor
allem deshalb ein Wahn, weil wir verzweifelt etwas nachrennen, das
wir bereits haben. Wir sind jung, auch in älteren Jahren, Reifung
ist nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Jugend.
Jedenfalls nicht auf deren
essentiellen Teile. Die ganze, ungeteilte Jugend können wir natürlich
nicht erhalten, das wäre auch langweilig. Manche Aspekte der
Jugend gehen mit dem Alter unweigerlich flöten, doch auf vieles
davon können wir gerne verzichten. Was beweist, dass zur Jugend,
die wir uns erhalten, durchaus Wertvolles hinzu kommen kann. Etwa,
dass wir nicht mehr alles müssen, was wir in der Jugend noch
zu müssen glaubten, und dadurch mehr können, nämlich
das, was unseren gewachsenen Ansprüchen entspricht, uns frommt
und Sinn macht. Reife meint somit nicht Verlust der Jugend, sondern
der Bewahrung plus das, was im Reifungsprozess dazu gekommen ist.
Plastisch
wird mir dies, wenn ich die Geschichte meines Photographierens betrachte.
Immer "nur" als Liebhaberei (wie unreif wir manche Wörter
noch immer verwenden...) photographiere ich seit frühen Jugendtagen.
Die Faszination dafür und die dazu notwendigen zwei Talente,
nämlich das Auge für ein potenzielles Bild und das Gefühl
für den richtigen Moment, habe ich vermutlich mitbekommen.
All das ist geblieben
und es ist eine Menge dazu gekommen. Blick und Timing sind gereift.
Stetige Erfahrung hat beides geschärft und verfeinert, gleichzeitig
sicherer und offener gemacht. Und die jugendliche Freude an dieser
Entwicklung, der Spaß und die Faszination, auf diese Weise ein
Stück Welt zu entdecken und abzubilden, sind nicht nur geblieben,
sie sind gewachsen. Das ist Reifung als Jugendplus.