Vom
Umgang mit dem Megatrend Reife: Kein Seniorenmarketing, bitte !
Publiziert
in »THEXIS - Fachzeitschrift für Marketing der Universität
St.Gallen «, 1.2003
Unsere
Gesellschaft wird unzweifelhaft älter. Das ist jedoch noch lange
kein Grund, Menschen ab 50 mit einem speziellen Marketing in die Senioren-Ecke
abzuschieben. Denn auch sie erwarten letztlich dasselbe wie alle: reife
Leistungen.
Ginge es
im Marketing einigermassen rational zu, dann müsste das Senioren-Marketing
boomen. Schliesslich steht es so im Lehrbuch: Man nehme einen verlässlichen
Trend, identifiziere die damit verbundenen Marktchancen und nutze diese
mit Hilfe eines speziell dafür entwickelten Marketings.
Stellen wir
uns einen jungen Marketing-Menschen vor, der genau das tut. Der erste
Teil ist einfach. Es ist wohl kaum ein verlässlicherer Trend vorstellbar
als jener des älter Werdens. Dass wir als Einzelne immer älter
werden, einem unentrinnbaren Trend-Shift gehorchend, wissen wir nur
zu gut, und nun hat es auch die Gesellschaft als Ganzes erwischt. Die
Kombination aus steigender Lebenserwartung und sinkender Geburtenrate
führt dazu, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt,
dass es, absolut und prozentual, immer mehr ältere Menschen gibt.
Dieser Trend
ist auf der ganzen Welt zu beobachten, am ausgeprägtesten allerdings
(nach Japan) in unseren Gegenden. Und er wird weitergehen, worauf Verlass
ist: Die Studienobjekte der Demographen sind fast alle bereits geboren,
ihre Prognosen, von gewissen Schwankungsbreiten abgesehen, deshalb ohne
Fehl und Tadel.
Ein Megatrend
Doch handelt
es sich bei der älter werdenden Gesellschaft überhaupt um
einen Trend ? Die Zunft der Zukunftsforscher ist sich einig: Nein, die
älter werdende Gesellschaft ist mehr als ein Trend. Sie ist ein
Megatrend.
Diese Unterscheidung
ist deswegen nützlich, weil sie den Horizont der eigenen Handlungsmöglichkeiten
begrenzt: Einen Modetrend kann man mit einigem Geschick selber machen.
Einen Trend kann man zwar nicht selber machen, doch wenn in irgendeiner
Szene einer entsteht, kann man ihn aufgreifen und verstärken ("rückkoppeln").
Ein Megatrend dagegen lässt sich weder schaffen noch verhindern,
weder steuern noch beeinflussen. Als mächtige, sich selbst schaffende
("emergente") gesellschaftliche Strömung wirkt ein Megatrend in
allen persönlichen und gesellschaftlichen Sphären und hat
ausgeprägte Auswirkungen und Konsequenzen. Alles Merkmale, die
auf die älter werdende Gesellschaft zutreffen. Die "aging society"
ist ein Megatrend, den man nicht beeinflussen, wohl aber nutzen kann.
Silberminen
Wenn unser
junger Marketing-Mensch seine durchaus natürliche Abneigung gegen
das Thema Alter erst einmal überwunden hat und an Hand nüchterner
Zahlen und Fakten gemäss Lehrbuch auf die Suche nach Marktchancen
geht, stösst er auf eine potenzielle Goldgrube. Oder, dem Thema
angemessener formuliert, auf Silberminen.
Herr Sechzig
und Frau Siebzig bilden eine hoch interessante Zielgruppe. Sie entsprechen
längst nicht mehr dem klassischen Bild der armen Alten, die ihr
spärliches Gnadenbrot verzehren. Im Gegenteil: Sie haben deutlich
mehr frei verfügbares Geld als alle anderen Generationen. Und sie
sind durchaus bereit, das auch auszugeben.
Und noch
etwas lässt in seinen Augen die Dollarzeichen aufleuchten. Schliesslich
weiss er um die wachsende Bedeutung des knappen Gutes "Aufmerksamkeit",
das immer mehr zur Leitwährung wird. Voraussetzung von Aufmerksamkeit
aber ist freie Zeit, und auch darüber verfügt man, wenn die
Berufslaufbahn ausläuft und die Kinder aus dem Haus sind, in höherem
Masse als in irgendeiner anderen Lebensphase.
All diese
löblichen Eigenschaften sind darüber hinaus nicht bei einer
unbedeutenden kleinen Zielgruppe zu finden, die allenfalls gar noch
schrumpft, sondern bei einer grossen, die stetig noch grösser wird.
Nur ein Blinder könnte die in all diesen Fakten steckende Botschaft
übersehen: "Auf, lasst uns die Senioren-Märkte erobern
!"
Blindheit
Unser junger
Marketing-Mensch wird nachdenklich. Ihm fällt auf, dass seine Branche
tatsächlich mit dieser Blindheit geschlagen ist. Dort, wo die Marketing-Schlachten
buchstäblich am sichtbarsten toben, nämlich in der Fernsehwerbung,
interessieren Menschen ab Fünfzig nicht im geringsten. Gezählt
und bezahlt werden ausschliesslich Kontakte mit 15 bis 49-Jährigen.
So, als ob das alte Klischee uneingeschränkt gälte, wonach
man danach ohnehin kein Geld mehr ausgebe, und wenn doch, dann höchstens
für Dinge, die man schon immer gekauft hat.
Diese Haltung
ist nicht nur diskriminierend, sie ist auch dumm. Unser aufgeweckter
junger Marketing-Mensch findet schnell heraus, dass alle Fakten gegen
sie sprechen. Im Segment über 50 wird sehr wohl gut und gerne konsumiert,
auch auf Gebieten, wo man es nicht unbedingt erwartet, Reisen etwa,
aber auch Weiterbildung oder Unterhaltungselektronik. Gut, Windeln werden
hier seltener gekauft, aber die Grosseltern spielen eine nicht zu unterschätzende
Rolle in den Kinder- und Jugendmärkten. Es kann also keine Zweifel
daran geben, dass auch jenseits der Schnapszahl von 50 gute Marktchancen
bestehen.
Der Held
unserer Geschichte macht sich jetzt auf die Suche nach spezifischen
Märkten, in denen er seine neu gewonnenen Erkenntnisse umsetzen
könnte. Nur kurz nimmt er dabei die Senioren-Märkte im engeren
Sinne ins Blickfeld, also die Gruppe jener, die man früher "Hochbetagte"
genannt hat, die gebrechlich und/oder pflegebedürftig sind und
Gehhilfen, Rollstühle und Inkontinenzwindeln brauchen. Logischerweise
wächst in einer alternden Gesellschaft auch diese Gruppe, doch
ihr Anteil an den über 50-Jährigen wird in der Regel weit
überschätzt, es sind deutlich unter 20 Prozent. Ökonomisch
mag dieser Markt ja interessant sein, besonders attraktiv ist er für
einen jungen Marketing-Menschen nicht. Er hat, sagen wir es brutal,
ein gewisses Schmuddel-Image. Und das hat in einem nicht zu unterschätzenden
Masse auf alle Märkte jenseits der Fünfzig abgefärbt.
Die Erfindung
einer Zielgruppe
Unser Held
lässt sich davon nicht abschrecken. Er sieht, dass fast alle Angehörigen
der Generation zwischen 50 und 80 für fast alle Branchen eine hoch
willkommene Zielgruppe sein müssten, deren reichlich vorhandene
Kaufkraft man noch viel besser abschöpfen könnte, wenn man
es denn nur richtig täte. Senioren-Marketing ist somit eindeutig
ein Feld mit Zukunft, und so beschliesst er, dafür ein Beratungsunternehmen
aufzuziehen.
Als erstes
muss eine ordentliche Definition der neuen Zielgruppe her, der Markt
verlangt das. Die Aufgabe erscheint nicht weiter schwierig, schliesslich
kann man auch Frauen- und Männer-Märkte definieren, und wenn
es ein spezifisches Jugend-Marketing gibt, kann es ebenso gut ein Senioren-Marketing
geben. Und auch die Abgrenzung ist einfach: Er fängt einfach dort
an, wo die Fernsehwerber aufhören, also bei 50. Nach oben hin ist
die Skala offen, wie lange jemand sein Leben als Konsument geniessen
kann, ist individuell verschieden. So kommt er auf die geniale Idee,
diese Zielgruppe einfach "50plus" zu nennen.
Beim Zusammenstellen
seines Argumentariums stösst er auf eine Erfolgsgeschichte: NIVEA
Visage, die spezielle Pflegeserie für die reife Haut, gedacht für
Frauen jenseits der 50. Das Konzept wurde in der Schweiz erprobt, dass
man dabei das erste Mal in einer breiten Werbekampagne ein Model einsetzte,
das auch real über 50 war, galt damals als mittlere Sensation.
Na also, es geht doch, wenn man nur mit der richtigen Einstellung dran
geht. Das Erfolgskonzept muss auch auf andere Märkte zu übertragen
sein.
Wo bleibt
der Boom ?
Da allerdings
stutzt unser junger Marketing-Mensch. Immerhin ist diese Geschichte
rund zehn Jahre alt. Wenn sie sich so leicht kopieren liesse, müsste
es mittlerweile Dutzende davon geben. Und ganze auf Senioren-Marketing
spezialisierte Stäbe, Agenturen und Beratungsunternehmen. Nichts
davon ist der Fall. Gut, die eine oder andere Erfolgsgeschichte lässt
sich mit Ach und Krach noch herbei schaffen, in vereinzelten Unternehmen
gibt es ganz hinten links nach der Abteilung für Jugendmarketing
noch eine Besenkammer für Seniorenmarketing, und ein paar Einzelkämpfer
in der Beratungsbranche finden ihr spärliches Brot. Von Boom kann
jedoch keine Rede sein.
Unser junger
Held, die in Wirklichkeit eine Heldin ist, ist klug genug, eine Sackgasse
rechtzeitig als solche zu erkennen. Stattdessen schreibt sie eine Forschungsarbeit
über die Gründe der seltsamen Diskrepanz zwischen dem auf
den ersten Blick riesig erscheinenden Potenzial von Senioren-Marketing
und der faktisch kümmerlichen Realisierung dieser Idee. Glücklichen
Umständen verdanken wir das folgende Interview, das ihre wesentlichen
Erkenntnisse zusammenfasst.
Ist das
Marketing einfach zu dumm, um das riesige Potenzial bei 50plus zu sehen
und zu nutzen ?
Ignoranz
spielt wie überall sicher auch hier eine Rolle. Aber so blind kann
das Marketing als ganzes gar nicht sein...
Oder liegt
es daran, dass das Thema Alter einfach nicht attraktiv genug ist ?
Sicher sind
wir alle noch geprägt von den klassischen Bildern, in denen Alter
gleichbedeutend war mit Armut, Gebrechlichkeit, Siechtum und Tod - und
das ist alles andere als sexy. Doch wir alle kennen nicht nur aus Statistiken,
sondern auch aus unserer Umgebung die "Neuen Alten", die mit diesem
Bild nichts mehr zu tun haben. Das allein kann es also auch nicht sein.
Ich bleibe
dabei: Besonders Prestige trächtig ist es nicht, sich mit dem Megatrend
Alter zu beschäftigen.
Richtig,
Verkaufs fördernd ist das nicht. Folgerichtig heisst eine neue
Studie zum Thema "Megatrend Reife" (siehe Kasten). Das macht tatsächlich
einen ziemlichen Unterschied aus: Hätte Eva ihrem Adam den Apfel
als "alt" angepriesen, sässen wir vielleicht heute noch im Paradies.
Ganz offensichtlich hat sie ihn aber als "reif" verkauft....
Reife
statt 50plus also. Beginnt denn Reife tatsächlich genau mit 50
?
So wenig
wie sie dann aufhört. Fragen Sie doch einfach mal jemanden kurz
nach dem fünfzigsten Geburtstag, ob sie oder er sich wesentlich
anders fühle als ein paar Wochen davor...
Vermutlich
so wenig wie an jedem anderen Geburtstag. Apropos fühlen: Stimmt
denn die alte Volksweisheit, wonach man so alt ist, wie man sich fühlt
?
Sicher, und
das ist genau der springende Punkt. Es gibt eine hübsche Theorie,
wonach unser tiefstes inneres Selbstbild ab ungefähr 35 aufhört,
die weiteren Jahrringe zu zählen. Je älter wir werden, umso
grösser wird die Diskrepanz zwischen unserem kalendarischen Alter
und dem, was wir fühlen. An diese Diskrepanz wird niemand gern
erinnert. Nur wer Marketing-Selbstmord begehen will, spricht deshalb
reife Menschen auf und über ihr Alter an.
Davon
raten ja mittlerweile auch die Experten für Senioren-Marketing
ab.
Und behalten
diese Bezeichnung im Firmenschild trotzdem bei. Das kann nicht gut gehen.
So was merken die kritischen und anspruchsvollen reifen Konsumenten
rasch und sind verstimmt. Es gilt, die ganze Idee von Senioren-Marketing
möglichst schnell und radikal zu vergessen.
Vergibt
man damit nicht alle Chancen bei der Generation ab 50 ?
Im Gegenteil.
Die Erkenntnis, dass Konsum-Bedürfnisse und Konsum-Wünsche
nach 50 nicht wesentlich anders aussehen als vor 50, ist ja ein Ausdruck
von Reife. Reife Konsumenten schätzen es, wenn sie eben gerade
nicht als irgendwie einer Sonderbehandlung bedürftiger Spezialgruppe
angesprochen werden, sondern als ganz normale, mündige Konsumenten,
die wissen, was sie wollen und wie der Hase läuft.
Was wollen
sie denn, diese reifen Konsumenten ?
Ganz einfach
das, was alle wollen, vielleicht noch etwas intensiver und verfeinerter:
Reife Leistungen, das heisst ausgereifte Produkte und Dienstleistungen,
auf den Markt gebracht mit einem reifen Marketing, das ihnen das Gefühl
gibt, ernst genommen zu werden.
Haben
solche Angebote nur bei reiferen Jahrgängen eine Chance ?
Natürlich
nicht. Das berühmte, aber leider offenbar utopische Videogerät,
das auch die 80-jährige Grossmutter problemlos programmieren kann,
würde ihr von ihrem 20-jährigen Enkel aus der Hand gerissen.
Was bei den besonders anspruchsvollen reifen Konsumenten ankommt, kommt
überall an.
Gibt es
umgekehrt Märkte, auf denen man die reiferen Konsumenten getrost
vergessen kann ?
Von irgendwelchen
Jugendkult-Artikeln abgesehen kaum. Der 60-jährige Harley-Fan:
Vor zehn Jahren kaum denkbar, heute eine Werbefigur. Die 70-jährige
fleissige Internet-Nutzerin: Schon fast eine Selbstverständlichkeit.
Die 80-jährigen fleissigen Konsumenten von Weiterbildungsangeboten:
Prototypen einer sinnvollen Gestaltung des Dritten Alters. Wer in seinem
Marketing all diese potenziellen Konsumenten vergisst und nicht auf
sie hört, ist selber schuld.
Dann wäre
die adäquate Antwort auf den Megatrend Reife also nicht Senioren-Marketing,
sondern Reife als Leitwert in allen Bereichen von Marketing und Kommunikation
?
Sie sagen
es.