Reife
- ein Schatz, den es zu heben gilt
Zum Thema "Erfahrungswissen
als Ressource für die Unternehmen", geschrieben zusammen mit
Dr. Veronika Lullies für »Harvard Business manager«
- bisher leider nicht publiziert
Der
Reiz der New Economy bestand neben der Befriedigung nackter Gier auch
darin, dass sie gleichsam ein neues Paradigma anbot. Sinngemäß
also ein umfassendes neues Deutungsmuster, dessen Konstitution sich
in diesem Fall als Seifenblase entpuppte.
Echte neue Paradigmen kommen selten
mit spektakulärem Getöse daher. Doch sie lassen sich sehr
wohl vorhersehen. Das gilt besonders für jenes neue Paradigma,
um das es hier geht: Reife und Reifung.
Am Anfang stehen nackte Zahlen.
Jene der Bevölkerungsprognostiker. Deren demographisches Zahlenwerk
gehört zum Zuverlässigsten, was die Zukunftsforschung zu bieten
hat. Die Vorhersage, an der am wenigsten zu rütteln ist, lautet:
Wir werden älter. Als Personen mit längerer Lebensdauer, als
Gesellschaft mit anteilsmäßig mehr älteren Menschen.
Das erfordert nicht nur neue Lösungen
für die Renten und mehr Pflegeplätze -1999 gab es in Deutschland
bereits 2,02 Mio Pflegebedürftige, sondern führt auch zu einem
Wandel - beim Einzelnen wie in der Gesellschaft auf zwei buchstäblich
Grund legenden Ebenen: den Werten und der Identität.
Werte und Identität sind keine
eratischen Blöcke, vielmehr wandeln sie sich stetig, evolutionär,
nicht revolutionär. Und werden dabei unbestreitbar eines: älter.
Dieser Prozess, den jeder Mensch an sich selbst beobachten kann, gilt
auch für Gesellschaften. In einer älter werdenden Gesellschaft
sind Werte-Wandel und Identitäts-Entwicklung unausweichlich. In
seinem neusten Buch beschreibt der Poltikberater Meinhard Miegel, wie
die Deutschen diese zukünftige Entwicklung verdrängen, und
stellt fest, dass bei einer Bevölkerung, in der an die Stelle von
30 bis 40 Jährigen massenhaft 50 und 60 Jährige treten, es
gar nicht ausbleiben kann, dass eben nicht 30 bis 40 Jährige sondern
50 bis 60 Jährige gesellschaftsprägend wirken. Viele der überkommenen
Vorstellungen vom Alter müssen revidiert werden und sich einer
Bevölkerung anpassen, die fast geschlossen das achtzigste und in
großer Zahl das neunzigste Lebensjahr erreicht.
Ganz vorne mit dabei ist die Neubewertung
des Alters, oder besser des älter Werdens, selbst. Schon das, der
Wechsel von der fotografischen zur filmischen Perspektive, ist eine
Aufwertung: Nicht mehr das Alter als Ruhe-Stand ist interessant, sondern
das älter Werden als Entwicklungsprozess, der auch nach 50 weiter
geht. Und zwar lange.
Vor fünfzig Jahren, als die
Schweiz endlich ein allgemeines Rentensystem einführte, konnte
jemand, der mit 65 pensioniert wurde, noch mit rund zwei Jahren statistischer
Lebenserwartung rechnen. Heute sind es, nicht nur für Frauen, eher
zwei Jahrzehnte. Für das Jahr 2040 kann man mit Miegel damit rechnen,
dass in Deutschland nur noch 45 % der Bevölkerung zwischen 20 und
59 Jahre, aber 40 % über 59 Jahre alt sein werden.
So lange im Ruhestand
zu verharren, ist keine attraktive Perspektive. Die Identität des
Dritten Alters, das nun zwischen dem zweiten Alter mit seinen vollen
beruflichen und familiären Verpflichtungen und dem vierten liegt,
das man mit einem altmodischen Begriff Greisentum nennen
könnte, wird nicht mehr geprägt von alt sein,
sondern von älter werden.
Es gehört zu den anthropologischen
Konstanten, dass eine Identität, die auf dem Konzept des stetigen
Wandels aufbaut, zur Orientierung und Sinngebung nicht unbedingt ein
Ziel, wohl aber eine Richtung braucht, eine Antwort auf die Frage: Wohin
entwickle ich mich ? Oder, in der Sprache der Chaos-Theorie: Gesucht
wird der gemeinsame Attraktor der vielen chaotisch anmutenden Lebens-Läufe,
die eigentlich nur eines gemeinsam haben: das älter Werden.
Um kollektiv wirksam zu werden,
braucht dieser Attraktor einen attraktiven Namen. Es gibt ihn bereits:
Reife. Ob Reife im Sinne eines idealen Endzustands je
erreicht wird, ist dabei völlig unerheblich. Wichtig ist nur, dass
der bisher richtungslos scheinende Prozess des älter Werdens durch
die Neuinterpretation als Prozess der Reifung einen neuen, oder auch
nur wieder entdeckten Sinn bekommt.
Weil es immer mehr Menschen über
50 ("50plus") gibt, wächst die Nachfrage nach dem immateriellen
Gut Sinn für diese Lebensphase exponentiell. Solange
das Alter kurz und selten war, mochte das Bild von Alter
als Abbau und Defizit zutreffen. Jetzt, wo die Lebensphase ab 50 häufig
und lang geworden ist, wird eine nicht stigmatisierende, sondern im
Gegenteil positiv wertende Interpretation des älter Werdens verlangt,
zunächst zwar primär von den reiferen Jahrgängen selbst,
doch mehr und mehr auch von den Jüngeren, die ebenfalls lieber
eine attraktive Lebensphase vor sich haben als eine negativ bewertete.
Reifung oder noch prägnanter Reife ist der Schlüsselbegriff
für diese Neuinterpretation.
Reife als umfassendes neues Deutungsmuster
(so haben wir eingangs ein neues Paradigma umschrieben) ist ein wirksamer
Türöffner zu neuen Ein- und Aussichten. Zum Beispiel zu der,
dass Reife als Ressource betrachtet werden kann. Individuell. Gesellschaftlich.
Und wirtschaftlich. Was bedeutet Reife als Ressource für die Unternehmen?
Wie geht man heute dort mit Reife um? Und wie könnte dieses Potenzial
erschlossen werden?
Vom
Lernen aus dem Lehrbuch zur Reife
Wer als junger Mensch glaubt, die
Liebeskunst ausschließlich aus Büchern erlernen zu können,
dem wird es ergehen wie anderen in jedem Lebensalter, die Kochen lernen
wollen, indem sie zu einem Kochbuch greifen. Dort stehen zwar die benötigten
Zutaten einigermaßen akurat beschrieben. Wieviel aber, bitte schön,
ist eine "Prise" Salz? Noch vager wird beschrieben, wann und
wie die Zutaten zusammen kommen sollen. Vollends wie der Ochs vorm Berg
aber steht der Anfänger vor Instruktionen wie: "So viel Milch
zufügen, bis der Teig schwer vom Löffel fällt!"
Und wie hält man eigentlich einen Schneebesen am besten? Gibt es
dafür vielleicht einen kleinen, aber einleuchtenden Trick?
Bald wird unser Adept einsehen,
dass sich Kochen nur durch Kochen wirklich erlernen lässt. Nur
durch Erfahrung weiss man, wie man Zutaten und Energien ökonomisch
einsetzt und die Gerätschaften elegant und zweckmäßig
nutzt. Und nur durch Erfahrung weiss man auch, dass ein Gericht manchmal
noch besser wird, wenn man eine eigene, im Kochbuch nicht vorgesehene
Variante einbringt.
Wodurch also unterscheidet sich
das, was man aus dem Kochbuch lernen kann, von dem, was man weiss, wenn
man richtig kochen kann? Das, was im Kochbuch steht, ist kein Wissen
im eigentlichen Sinne, sondern bloß Information.
Information ist die Einbettung von
interpretierbaren Zeichen = Daten in einen Kontext, wodurch die Zeichen
mit Bedeutung versehen werden. Zu Wissen werden Informationen dann,
wenn sie mit Fähigkeiten, Gefühl, Interessen, Werten und Intuition
verbunden werden. Wissen stellt Bezüge zur Geschichte der Person
her, und veranlaßt sie, zu handeln. Wissen umfaßt demnach
nicht nur Sachwissen (know what), sondern schießt auch das Wissen
über das Wie (know how) und über das Warum (know why) mit
ein. Solches Wissen lässt sich nicht aus dem Lehrbuch erwerben,
auch im weltumspannenden Internet läßt es nicht finden. Es
wächst als Erfahrung in einem langen Reifungsprozess heran, der
auch Fehler und Misserfolge umfasst, und dabei wird es immer wertvoller.
Im Falle des Kochs bedarf der Wert
von Erfahrungswissen keiner weiteren Erläuterung. Auch nicht im
Falle eines Arztes sofern sich dieser auf der Ebene des Fachwissens
stetig fortgebildet hat. Denn reines Fachwissen altert schnell und bedarf
der ständigen Erneuerung und Ergänzung. Auch bei diesem lebenslangen
Lernen hilft die eigene Erfahrung: Man weiß jetzt, wie man selber
am besten lernt, man weiss auch, was man braucht, und man hat gelernt,
Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Und ein Manager, der
aufgrund seines Erfahrungswissens in "kritischer, aber konstuktiver
Distanz zum Geschehen" (Fredmund Malik) steht, braucht nicht mehr
jede neue und meist flüchtige Management-Mode mitzumachen, denn
er weiss, was dem Unternehmen mit seiner je eigenen Geschichte gut tut.
Dadurch kann er den Risiko-Korridor auf das absolut notwendige Maß
einengen eine Tugend, die im Management heute wieder dringender
als je gefragt ist.
Wofür steht Erfahrungswissen
im Sinne von Reife? In einer Befragung von SensoNet, einem aus ca. 300
Mitgliedern im deutschsprachigen Raum bestehenden Netz von zukunftsinteressierten
Menschen, wurden primär die folgenden Stichworte genannt:
- Blick für das Wesentliche
- Fähigkeit, mit Krisen umzugehen
- Menschenkenntnis
- Gelassenheit
- Sozialkompetenz, Umgang mit Menschen
- Fähigkeit, Zusammenhänge
zu sehen
- Werte erkennen, Sinn geben können
Die Liste beschreibt ein Set von
kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen, die im Laufe eines
Lebens nicht abnehmen, sondern wachsen und reifen. In einer primär
industriellen Wirtschaft mögen all diese Kompetenzen nicht besonders
wertvoll gewesen sein. In einer Wissensgesellschaft jedoch nimmt ihr
Wert kontinuierlich zu: Wissen und Erfahrung sind die Ressourcen, die
es zu nutzen gilt.
Die wachsende Popularität des
Themas Wissens-Management suggeriert, dass man in den Unternehmen
die Bedeutung der Ressource Wissen begriffen hat. Bei genauerer Betrachtung
erkennt man aber, dass es dabei weniger um das Management von Wissen
als vielmehr um Informations-Management geht. Der Grund für diese
Verkürzung ist, provokativ formuliert, ganz einfach: Wissen passt
in keinen Computer.
Wissen lässt sich nicht in
Formularen, Aktennotizen oder Dokumenten festhalten; es ist häufig
kaum in Worte und schon gar nicht in Zahlen zu fassen. Es steckt in
den Köpfen seiner Besitzer und lässt sich meist
nur durch Beobachtung oder durch ein Gespräch vermitteln, bei dem
eben auch die ganze Metakommunikation mitschwingt und hilft, zu verstehen.
Genau darin steckt der unersetzbare Nutzen der Meister-Lehrlings-Beziehung.
Dort, wo es versäumt wird,
Wissen durch Weitergabe an andere zu erhalten, geht es unwiederbringlich
verloren. So war in der Serie zum Wissensmanagement der Süddeutschen
Zeitung zu lesen, dass "die Berliner Luftbrücke heute vermutlich
gar nicht mehr zu wiederholen wäre. Denn das organisatorische und
technische Know-how, das die Briten und Amerikaner seinerzeit angehäuft
haben, versandet heute in Altenheimen in den ergrauten Köpfen
pensionierter Militärs.
So simpel die Fakten, so weitreichend
sind die Konsequenzen: Erfahrungswissen ist da, aber eben nur in den
Köpfen der Menschen. Und weil Erfahrungswissen dort naturgemäß
Reife-Zeit braucht, ist die Wahrscheinlichkeit, es in wertvoller Form
zu finden, bei den reiferen Jahrgängen wesentlich höher als
bei den jüngeren. Allerdings darf diese nicht zu der einfachen
Gleichung: Alter = Erfahrung führen, denn wie Michael Bruggemann
in seiner empirischen Studie "Die Erfahrung älterer Mitarbeiter
als Ressource" festgestellt hat, ist Alter lediglich die zeitliche
Dimension, entlang derer sich Erfahrung bilden kann.
Dort, in den Köpfen reiferer
Mitarbeiter und Managerinnen, ist also der Schatz zu finden. Er brauchte
eigentlich nur gehoben zu werden.
Vom
Kult zum Realismus
In der Theorie
und für Heinz Mandl, einen der Päpste des Wissensmanagements
ist alles klar "Das Expertenwissen, das sich Menschen im Laufe
ihres Berufslebens aneignen, ist enorm. Unternehmen suchen zunehmend
nach Wegen, wie dieses Potenzial erhalten werden kann.". Doch in
der die Praxis sieht es anders aus.
Wie der ehemalige Präsident
des Arbeitsamts Jagoda feststellen musste, beschäftigten im Jahr
1999 mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen keinen Menschen
über 50. Von den 58 Jährigen sind gerade noch 36 % sozialversicherungspflichtig
beschäftigt, von den 60 Jährigen sind es 10% und von den 64
Jährigen nur noch bloße 3 %. Das durchschnittliche Pensionierungsalter
bei der österreichischen Post sank 2001 auf rekordtiefe 48 Jahre.
All das heißt: Die Quelle für Erfahrungswissen ist in den
Unternehmen schlichtweg verschwunden. Das Schlagwort von der "Entberuflichung
des Alters" (Gerhard Nägele) macht die Runde.
Die Wurzeln dieser Entwicklung sind
in jenen nicht allzu fernen Zeiten zu suchen, in den die Muskeln das
dominierende Arbeitsorgan waren und nicht das Gehirn. Für körperliche
Tätigkeiten gilt die Formel: Alter gleich ausgelaugt sein gleich
sinkende Leistungsfähigkeit. Bauarbeiter etwa sind kränker
und sterben früher als der Rest der Bevölkerung. Wenn sich
diese Berufsgruppe in der Schweiz gerade erst den Übergang in den
Ruhestand mit 60 erstritten hat, macht dies für alle Beteiligten
Sinn: Die Bauarbeiter bekommen eine längere Restzeit, die Arbeitgeber
können stattdessen leistungsfähigere jüngere Mitarbeiter
einstellen.
Die Gleichsetzung von Leistungsfähigkeit
mit körperlicher Leistungsfähigkeit hat mit dem Bedeutungsverlust
von muskulärer Arbeit in der modernen Wirtschaft nicht etwa abgenommen.
Noch immer steckt tief in den Köpfen die Vorstellung, Leistung
bedeute das, was es im Spitzensport heißt: höher, weiter
schneller. Dort, im Spitzensport, zelebriert die Wissensgesellschaft
ein historisches Relikt, die Überbleibsel einer Zeit, in der Muskelkraft
über den Überlebenserfolg entschied, und dort holt sie sich
die Maßstäbe dafür, was Leistung bedeutet.
Noch früher als in der Wirtschaft,
nämlich schon mit 30 oder 35 statt mit 50 oder 55, ist die Zeit
vorbei, in der man als Spitzensportler einen Marktwert im Rennen hat.
Jenseits dieser Grenzen hat man einfach nicht mehr genug Power, ist
nicht mehr schnell/ hoch/ weit genug. Oder zu wenig ausdauernd. Die
Liste der Stereotype ließe sich beliebig verlängern, sie
laufen alle auf eines hinaus: Alter heißt Abbau von Leistungsfähigkeit.
Und weil es sich in harten Zeiten kein Unternehmen leisten kann, Mitarbeiter
zu beschäftigen, die nicht hundert Prozent Leistung bringen, erscheint
es nur rational, wenn sich Unternehmen von den älteren trennen.
Dieser Trennungs-Prozess
gestaltet sich in Deutschland mit dem Vorruhestandsgesetz und vor allem
mit dem Altersteilzeitgesetz besonders elegant. Ursprünglich
zur "Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand
und als Brücke in das Erwerbsleben für jüngere Beschäftigte
und Arbeitslose" geschaffen, erweist sich das Altersteilzeitgesetz
in Zeiten wie diesen, in denen die Arbeit nicht mehr wird sondern weniger,
als besonders gutes Instrument, um mit Hilfe staatlicher Förderung
Stellen sozialverträglich abzubauen. So wundert es
nicht, dass Unternehmen und Arbeitnehmer schon im Jahr 2001 von diesem
Gesetz so heftig Gebrauch machten, dass die von der Bundesregierung
für die Finanzierung der Altersteilzeit für dieses Jahr vorgesehenen
700 Mio Mark bei weitem nicht reichten und im September auf 1,1 Mrd
aufgestockt werden mußten.
Die Erfolge staatlich subventionierter
Reduzierung des Bestands an älteren Arbeitnehmern werden allerdings
etwas konterkariert durch das gleichzeitig von der Bundesanstalt für
Arbeit initialisierte Programm "50plus die können es",
das auf die Wiedereingliederung von über 50 Jährigen in das
Arbeitsleben zielt. Auch diese Initiative wird staatlich gefördert
durch Zuschüsse zum Arbeitsentgelt und zwar als "Ausgleich
für Minderleistung".
Bei all den Bemühungen, ältere
Arbeitnehmer in die Unternehmen hinein oder aus den Unternehmen heraus
zu drängen, geht die Frage ganz verloren, wie rational es eigentlich
ist, an ihren Körperkräften anzusetzen und damit den Leistungsbegriff
auf schneller, höher und weiter zu verkürzen. Die jugendlichen
Trümpfe mögen wirksamer stechen, doch ob ein Stich überhaupt
den Einsatz eines Trumpfes lohnt, weiss das Erfahrungswissen besser
und setzt seine vielleicht tatsächlich etwas reduzierten Energievorräte
deshalb ökonomischer ein. Ein junger Mensch mag auf dem dafür
vorgesehenen Weg zum Ziel tatsächlich schneller sein, doch der
alte Fuchs kennt jede Abkürzung und ist deshalb doch vorher da.
Das Gehirn ist hochflexibel und in der Lage, reduzierte Fähigkeiten
auf einem Gebiet durch erhöhte Fähigkeiten auf einem anderen
zu kompensieren. Diese Leistung des Gehirns bleibt lange erhalten, wenn
sie regelmäßig trainiert wird.
Auch darf bezweifelt werden, dass
ein physikalisch definierter Begriff von Leistung für die Wissensgesellschaft
überhaupt adäquat ist, denn für die Produktion von immateriellen
Produkten ist ja nicht Muskelkraft sondern Geisteskraft die entscheidende
Ressource.
In einer Studie des Internationalen
Instituts für Empirische Sozialökonomie (INIFES) sahen 2001
von 800 befragten bayrischen Unternehmen 80 Prozent keine Leistungsdefizite
bei Beschäftigten über 50 im Vergleich zu deren jüngeren
Kollegen, weshalb die Autoren zu dem Schluss kommen: ªTatsächlich
hat die Zwangsverjüngung (grassierende Kultur der vorzeitigen
Externalisierung) negative Folgen für die Volkswirtschaft.
Sie ist eine exorbitante Verschwendung von Ressourcen. Denn mit den
Älteren gehen Erfahrung und Wissen verloren und dies alles
nur aufgrund eines Vorurteils von ihrer geringeren Leistungsfähigkeit.´
Ebenso handelt es sich bei der Annahme,
ältere Arbeitnehmer seien weniger flexibel als jüngere, um
ein Vorurteil. Unternehmen, die bewusst auf ältere Mitarbeiter
setzen, haben die Erfahrung gemacht, dass die Flexibilität etwa
für kurzfristige Auslandseinsätze mit steigendem Alter aufgrund
geringerer familiärerer Verpflichtungen sogar zunimmt.
Es gibt also keinen Zweifel: Ältere
sind flexibel, ausdauernd, können Prioritäten setzen, stehen
den Jungen an logischem Denkvermögen in nichts nach, behalten auch
in stürmischen Zeiten die Nerven, habe soziale Kompetenz sowie
Menschen- und Branchenkenntnis, kennen ihr Unternehmen aus dem ff, und
so weiter und so fort und trotzdem läßt "das
Image derjenigen Angestellten, deren Haarschopf von Grau durchzogen
ist, noch immer zu wünschen übrig. Folglich hält sich
die gelegentlich gefeierte Wiederentdeckung der Älteren
in engen Grenzen und das, obwohl klar ist, dass die demographische
Entwicklung den Unternehmen bald keine andere Wahl mehr lassen wird.´
(Süddeutsche Zeitung, 15.09.2001)
Aufgrund des massiven Geburtenrückgangs
wird die zuvor beschriebene Lebensverlängerung nämlich nicht
dazu führen, den progredierenden Bevölkerungsrückgang
in den "individualistischen Wohlstandsgesellschaften" (Miegel)
auszugleichen. Das statistische Bundesamt prognostiziert, dass bis zum
Jahr 2030 Deutschlands Bevölkerung von 82 Mio auf 78 gesunken ist.
Um die Altersstruktur von heute zu erhalten, müssten jedes Jahr
mehr als 3 Millionen junger Menschen nach Deutschland einwandern, was
völlig unrealistisch ist. Noch scheint dieser Zeitpunkt in weiter
Ferne, doch die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor: "Die
Macher von Morgen haben graue Haare. In nur zehn Jahren werden nur noch
20 Prozent der Erwerbstätigen unter 30 sein, 30 Prozent schon über
50."
In ihrer Personalpolitik haben die
Unternehmen also zwei Möglichkeiten. Sie können warten, bis
die demographische Entwicklung sie zum war for talents zwingt
und sie wegen der geburtenschwachen Jahrgänge wieder reumütig
auf ältere Arbeitnehmer zurückgreifen müssen:
Karikaturen von Heinz
Pfister (pfuschi-cartoon©bluewin.ch)
Oder sie können heute schon
anfangen, die Ressource Reife zu nutzen:
Vom
Schema f zur Phantasie
Wenn die Ressource Reife nicht länger
zum Fenster hinaus geworfen werden soll, muss die Tendenz, Menschen
ab 50 systematisch aus dem Erwerbsleben herauszulocken oder herauszuekeln,
gestoppt und umgekehrt werden.
Die Lösung, die Ruhestandsgrenze
für alle Mitarbeiter schematisch gleich weit hinauszuschieben und
damit, wie der Vizedirektor des Schweizerischen Arbeitsgeberverbandes
Hans Rudolf Schuppisser sagt, eine "Pensionierung mit dem Rasenmäher"
vorzunehmen, wird weder der Vielfalt der arbeitenden Menschen noch derjenigen
ihrer Tätigkeitsfelder gerecht. Vielmehr gilt es, die Arbeitszeiten
insgesamt und individuell für jeden Arbeitnehmer flexibler zu gestalten.
Nichts spricht dagegen, dass Menschen arbeiten, so lange sie wollen
und können, auch über das offizielle Rentenalter hinaus
Auf die Frage, in welchen Formen
unsere Gesellschaft die Ressource Reife nutzen solle, ergab sich in
der schon erwähnten SensoNet-Studie ein klares Verdikt: Von allen
vorgeschlagenen Möglichkeiten kam "durch längere Erwerbsarbeit"
abgeschlagen auf den letzten Platz. Weitaus besser platziert waren "in
Form von Coaching für Jüngere" und "als BeraterInnen,
AufsichtsrätInnen u.ä.".
Um in diesem Sinne die Ressource
Reife zu nutzen, setzen eine ganze Reihe von Unternehmen ebenso wie
die Firma ABB ältere Manager als interne Consultants ein; BMW,
Siemens und Winthertur bilden dafür Tandems aus alten und jungen
Mitarbeitern und veranlassen gemeinsame Mittagessen von jungen Mitarbeitern
und Pensionisten; bei IBM Global Services sind den "Young Potentials"
ältere Mitarbeiter als Mentoren zur Seite gestellt. Der Management
Guru Malik spricht von einer "vierten Laufbahnphase", in der
die über 50 Jährigen als Lehrer eingesetzt werden: er sieht
darin, "einen der besten, billigsten und wirksamsten Wege, ...
Knowledge Management zu betreiben".
Besonders phantisievoll bei der
Nutzung der Ressource Reife geht ein Unternehmen in Österreich
vor: Verrentete Meister werden mit Beratervertrag in das Werk in Osteuropa
geschickt. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Probleme an den Maschinen
zu beheben. Zuvor hatte man versucht, Reparaturhandbücher zu verfassen,
in denen die möglichen Probleme und das Vorgehen zu ihrer Beseitigung
ausführlich beschrieben wurden. Diese Bücher wurden zwar immer
dicker, erwiesen sich aber dennoch als wenig hilfreich für die
Arbeiter vor Ort. Statt nun weiterhin in hunderten von Seiten zu suchen,
während die Produktion still steht, braucht der Meister meist nur
zu hören, wie der Fehler klingt, um zu wissen, worum es sich handelt.
Seine Erfahrung sagt ihm, welches Problem vorliegt und mit welche Tricks
und geschickten Handgriffen es schnell behoben werden kann. Dieses Wissen
läßt sich eben nur sehr schwer standardisieren und in Worte
fassen. Für die Firma rechnet sich der Einsatz der Pensionisten
gleich mehrfach, weil diese zugleich auch noch die Arbeiter an den Maschinen
einarbeiten. Und da sie ohnehin vor Ort sind, fahren sie sonntagnachts
auch noch die Maschinen wieder hoch, so dass die erste Schicht am Montagmorgen
unverzüglich mit der Produktion beginnen kann.
Mit dem Plädoyer
für die Nutzung der Ressource Reife wird wohlverstanden keine Gerontokratie
gefordert, keine Herrschaft der Greise wie weiland in der alten Sowjetunion.
Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind keineswegs besser
als jüngere, sie sind nur anders, und diese spezifischen reifen
Eigenschaften sind so wenig allein selig machend wie die von jungen
Menschen. Ein Unternehmen ist dann am erfolgreichsten, wenn es diese
altersgemäßen Kompetenzen nicht gegeneinander ausspielt,
sondern miteinander kombiniert. So wirbt auch die Bundesanstalt für
Arbeit für das Programm 50plus mit dem Slogan "Alt und Jung
zusammen ein erfolgreiches Team" und die Frankfurter Allgemeine
Zeitung weiss zu berichten, dass Projektteams aus Jüngeren und
Älteren besonders effizient sind, weil Planungsfehler sich leichter
vermeiden lassen und das sprichwörtliche Rad nicht immer neu erfunden
werden muß. (F.A.Z.-Hochschulanzeiger vom 22.5.2002)
Eine ausgewogene Altersbalance ist
das Prinzip der Nutzung der Ressource Reife, nicht der Ersatz des Jugendwahns
durch ein Altersdogma. Auf die konkrete Mischung kommt es an. Die unbekümmerte
Risikofreude der Jugend muss ebenso vertreten sein wie das vorsichtige
Abwägen des Alters. Abgehobene Kreativität muss sich mischen
mit einem hochentwickelten Gefühl für das Machbare. Wenn in
einem Team beide Alterspole vertreten sind, kann das so wenig schaden
wie der Einbezug auch der mittleren Jahrgänge.
So gesehen ist die Idee der deutschen
Arbeitsmarktpolitik, mit dem Gesetz zur Altersteilzeit einen Frühruhestand
zu finanzieren, wenn dafür ein Junger eingestellt wird, schon im
Denkansatz falsch: Es geht nicht um ein Entwederoder, sondern
um ein entschiedenes sowohl als auch, und dabei ist eine ganze Menge
Phantasie erforderlich.
Schließlich gehen - wie eine
Untersuchung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung) zeigt - mehr Jobs für Ältere auch nicht zu
Lasten der jüngeren Generation. Ganz im Gegenteil: Je mehr ältere
Menschen noch beruflich aktiv sind, desto niedriger ist die Arbeitslosenquote.
So liegt in der Schweiz und in Norwegen, wo rund 70 Prozent der Älteren
noch im Berufsleben stehen, die Arbeitslosenquote bei nur rund drei
Prozent. Anders in Italien und Belgien. Hier arbeiten nur etwa 25 Prozent
der Älteren - bei Arbeitslosenquoten um die 10 Prozent.
Vom
pubertären zum reifen Unternehmen
Die Potenziale der Ressource Reife
erschöpfen sich keineswegs in einer optimalen Nutzung von Erfahrungswissen.
Vielmehr könnte das Konzept des reifen Unternehmens selbst zum
Attraktor für die Unternehmensentwicklung werden. Ja, man kann
sogar den Schluss ziehen: Nur reife Unternehmen werden überleben.
Die Geschichte der "New Economy" hat deutlich gemacht, dass Unternehmen,
die zu schnell wachsen und sich dabei keine Zeit zur Reifung lassen,
drastisch verminderte Überlebenschancen haben. Pubertäre Unternehmen
mögen ihren Reiz haben, doch das Zeitfenster, das sie zur Reifung
nutzen können, schließt sich schnell.
Drei Faktoren zeichnen reife Unternehmen
aus:
1. Reife Unternehmen orientieren
sich an reifen Werten
- Die Beschränkung auf einen
einzigen Orientierung stiftenden Wert, nämlich Gewinnmaximierung,
ist unreif. Reife Unternehmen orientieren sich statt dessen an einem
ausbalancierten Set unterschiedlicher Werte.
- Unreife Unternehmen glauben,
Wachstum lasse sich beliebig manipulieren. Reife Unternehmen wissen,
dass es so etwas wie organisches Wachstum gibt und lassen sich die
Zeit, die nötig ist, um die erreichte Wachstumsstufe zu konsolidieren.
- Unreife Unternehmen investieren
maßlos, das heißt, zu viel oder zu wenig. Reife Unternehmen
wissen um das rechte Maß.
Die Beispiele ließen sich
beliebig fortsetzen. Das Schöne an reifen Werten ist, dass es keiner
ausgedehnten philosophischen Debatten darüber bedarf, was sie eigentlich
seien. Die meisten Menschen verfügen über ein durchaus ausgeprägtes
Gespür dafür, was unreif und was reif ist.
2. Reife Unternehmen entwickeln
eine reife Unternehmenskultur
- Unternehmenskultur gründet
auf den zentralen Konzepten Identität (Wer sind wir ? Was macht
uns besonders ?) und Werte (Was ist uns wichtig ? Worauf legen wir
besonderen Wert ?). Sie äußert sich in Überzeugungen
darüber, wie man die Arbeit macht und wie man miteinander umgeht.
- Unternehmenskultur ist nie statisch,
sie unterliegt auch den Einflüssen veränderter Wertelandschaften
im Umfeld des Unternehmens. Wenn nun immer mehr Individuen ebenso
wie die Gesellschaft als Ganzes ihre Werte und ihre Identität
um den Kristallisationskern Reife herum neu arrangieren, dann kann
das nicht ohne Auswirkungen auf die Unternehmenskultur bleiben.
- Zu einer reifen Unternehmenskultur
gehören die Würdigung und die systematische Nutzung von
Erfahrungswissen durch die vorurteilsfreie Integration älterer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu zählen aber auch zivilisierte
Formen des menschlichen Miteinanders, Konfliktfähigkeit und gegenseitige
Wertschätzung ebenso wie eine ausgewogene Balance zwischen Elementen
zur Förderung von der Stabilität und Dynamik.
Eine reife Unternehmenskultur weiss,
dass Reife als Idealzustand eine Utopie ist, Reifung dagegen eine voll
bejahte Notwendigkeit sein kann.
3. Reife Unternehmen pflegen reife
Beziehungen zu allen Stakeholdern
- Die Beschränkung auf den
Shareholder Value hat sich als unreif erwiesen. Ein reifes Unternehmen
weiß, dass es gute Beziehungen zu allen Stakeholdern braucht.
- Das reife Unternehmen ist sich
bewusst, dass alle reife Stakeholder reife Unternehmen wollen: Die
Kunden wollen ausgereifte Produkte und reife (Dienst-) Leistungen.
Die Mitarbeiterinnen und Lieferanten wollen reife, sprich wirklich
partnerschaftliche Beziehungen. Die Investoren wollen ausgereifte
Strategien. Und die Öffentlichkeit will etwas von jener reifen
Verantwortung spüren, die reife Unternehmen über die Erzielung
von Gewinnen hinaus übernehmen.
Ein Unternehmen, das nur ein paar
ältere Experten weiter beschäftigt, um sich ihr spezielles
Know How zu sichern, oder nur auf Senioren-Marketing setzt
(was eine sehr unreife Strategie wäre, denn reife Menschen wollen
als solche angesprochen werden und nicht als Senioren), sich dabei aber
nach innen wie nach außen weiterhin unreif verhält, wird
seine Glaubwürdigkeit verlieren. Der Druck auf die Unternehmen,
reif zu sein, wird von allen Seiten zunehmen. Statt nur zu reagieren,
können Unternehmen bei ihrer eigenen Reifung aber vor allem agieren.
Sie können geleitet werden von der Erkenntnis, dass Reifung ein
anziehender Attraktor für die Evolution des Unternehmens ist.
Neulich konnte man lesen, die britische
Post kehre zu ihrem angestammten Namen "Royal Mail" zurück.
Verwundert rieb man sich die Augen und fragte sich, ob sie denn mal
anders geheissen habe. Tatsächlich trug sie für kurze Zeit
einen zu Recht bereits wieder vergessenen Phantasienamen.
Diagnose: Mangelnde Reife. Reifer
klingt, was Alcatel-Chef Serge Tchuruk in einem Interview des Zürcher
Tages-Anzeiger vom 17. Juni 2002 auf die Frage, was ihm Geschichte und
Tradition bedeute, antwortete: ªFür einen Manager ist es die
wichtigste Aufgabe überhaupt, herauszufinden, wo die wahren Kompetenzen
und Fertigkeiten eines Unternehmens liegen. Worin es sich von der Konkurrenz
unterscheidet. Deshalb ist es zentral, dass man die Geschichte versteht.
Sie bildet das Fundament. Eine Unternehmung mit einer langen Geschichte
lässt sich nicht von Grund auf neu bauen.´
Das heißt im Klartext: Reife
bedeutet je nach Geschichte und Situation jeweils Unterschiedliches
und bietet deshalb Gelegenheit zur unverwechselbaren individuellen Positionierung
eines Unternehmens.
Bleibt als Fazit die Erkenntnis:
- Wie auch immer der Reifungsprozess
eines Unternehmens im Einzelfall gestalten sein mag, fest steht, dass
er empfindlich für Störungen ist, vor allem von (ganz) oben,
und dass er sich nicht verordnen oder delegieren lässt.
- Reifung heißt Leben und
kann deshalb nur vorgelebt werden.
- Das Unternehmen reift vom Kopf
her, oder es reift gar nicht. Reife ist Chefsache.
Hinweise für die weitere Beschäftigung
mit dem Thema
Veröffentlichungen:
Bruggemann, Michael: Die Erfahrung
älterer Mitarbeiter als Ressource. DUV. Wiesbaden 2000
Malik, Fredmund: Wichtig: Know-How
und Erfahrung der "Fünfziger". In: Schweizer Arbeitgeber,
Nr. 20/2000
Miegel, Meinhard: Die deformierte
Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Propyläen,
Berlin-München 2002