Reifes
Marketing für reife Märkte: Megatrend »Reife«
Publiziert
in »ALPHA - DER KADERMARKT DER SCHWEIZ«, 19./20. Oktober
2002
Ob unsere
Gesellschaft, einschliesslich der Wirtschaft, künftig von Greisen
oder von Weisen geführt werden wird, hängt davon ab, wie wir
die demographische Revolution deuten. Immer stärker ins Blickfeld
rückt dabei das Modell von Reife als Ressource.
Der junge Journalist eines deutschen Wirtschaftsmagazins war hörbar
genervt, als er sich erkundigte, ob die Rückkehr der alten Männer
bei der Deutschen Telekom, bei Bertelsmann und bei ABB als Vorboten
eines neuen Trends zu betrachten seien. Übernehmen die Alten jetzt
endgültig das Ruder ? Droht eine Gerontokratie, eine Herrschaft
der Greise, in der alles erstarrt und kein Raum mehr ist für junges
frisches Blut und für Innovationen ?
Dem Manne konnte geholfen werden, als er erfuhr, dass mehr als die Hälfte
der deutschen Unternehmen keine Mitarbeiter über 50 beschäftigen.
Nichtsdestotrotz zeigt die blosse Existenz eines so dämonisierenden
Szenarios, wie tief die Ängste vor jenem Gespenst sitzen, das bis
vor kurzem ungeniert "Überalterung" genannt werden durfte.
Zu seinen Fratzen gehört nicht nur die Gerontokratie, sondern auch
der Zusammenbruch des Rentensystems und ein enormer Bedarf an neuen
Pflegeplätzen, für deren Finanzierung sich die noch aktive
Bevölkerung krumm und dämlich schuften muss.
Als magische Gegenmacht dazu wird derweil das Bild der neuen Alten heraufbeschworen,
einer wachsenden Schar von aktiven, fröhlichen "Best-Agern",
die über Geld verfügen und über Zeit und damit Aufmerksamkeit,
und so mit ihrem Konsum die Wirtschaft ankurbeln. Beide Extrempositionen
sind so eindeutig überzogen, dass klar wird: Die richtige Einstellung
zum unbestreitbaren Phänomen der demographischen Revolution haben
wir noch nicht gefunden.
Paradies für Prognostiker
Prognosen seien unsicher, vor allem wenn sie von der Zukunft handelten,
meinte einst ein Spötter, und jeder Zukunftsforscher wird ihm zustimmen.
Mit einer Ausnahme. Wer Prognosen über die Altersentwicklung einer
Gesellschaft macht, befindet sich dabei auf sicherem Boden. Köpfe
und Alter lassen sich zählen, und die wichtigsten Faktoren wie
Lebenserwartung und Geburtenrate sind bekannt und ziemlich stabil. Wenn
der Demograph über die Sechzigjährigen in dreissig Jahren
nachdenkt, sind seine Forschungsobjekte alle längst geboren...
Die Ergebnisse dieser sicheren Prognosemethode sind eindeutig: Wir werden
immer älter, als Einzelne wie als Gesellschaft. In Europa und Japan
wirkt sich das schneller aus als anderswo, doch das Phänomen ist
global. Weil zur steigenden individuellen Lebenserwartung sinkende Geburtenraten
kommen, steigt nicht nur das Durchschnittsalter, sondern sinkt bald
auch die Zahl der Bevölkerung. Einwanderung wird diese Entwicklung
abschwächen, sie aber kaum aufhalten: Wir werden unweigerlich älter.
Noch wird diese Entwicklung, die nicht nur kommt, sondern längst
begonnen hat, eher zaghaft und unwillig zur Kenntnis genommen. Woher
kommt dieser Widerstand ? Hauptsächlich speist er sich wohl aus
der Verschränkung zwischen unserer persönlichen und unserer
gesellschaftlichen Existenz, die kaum je so sichtbar wird wie beim Thema
älter Werden: Wir altern sowohl als Einzelne wie als Gesellschaft.
An das Altern der Gesellschaft zu denken, erinnert deshalb unweigerlich
an das eigene Alter und damit verbunden an Krankheit und Tod. Damit
beschäftigen sich die wenigsten gerne, weshalb es einleuchtet:
Das Thema Alter ist nicht sexy. Und verdient dennoch viel Aufmerksamkeit.
Ein Megatrend
Eine Mode kann man machen. Einen Trend kann man aufgreifen und verstärken.
Ein Megatrend dagegen lässt sich weder schaffen noch verhindern,
weder steuern noch beeinflussen. Als mächtige, sich selbst schaffende
gesellschaftliche Strömung wirkt ein Megatrend in allen persönlichen
und gesellschaftlichen Sphären und hat ausgeprägte Auswirkungen
und Konsequenzen.
Die Zunft zur Zukunft ist sich einig: Die älter werdende Gesellschaft
hat all diese Eigenschaften, ist also eindeutig ein Megatrend. Megatrends
kann man nicht beeinflussen. Man kann sie beschreiben, analysieren -
und nutzen. Doch zuvor braucht das Kind einen Namen. Und zwar einen
attraktiveren als "die alternde Gesellschaft".
In Japan gäbe es solche Marketing- und Kommunikationsprobleme nicht.
Dort wird jährlich Mitte September offiziell der "Tag des
Respekts vor dem Alter" begangen. In unseren Breitengraden aber
verkauft sich "Alter" nicht. Die Lösung kommt aus den
dunklen Käsekellern der "Emmi": Ein spezieller Emmentaler
wird als "der Reife aus dem Dunklen" angepriesen, und damit
auch jeder versteht, worum es geht, kommt gleich die Wiederholung;:
"Die Höhlengereiften".
Der Unterschied zwischen "Alter" und "Reife" hat
Weltgeschichte gemacht: Hätte Eva ihrem Adam den Apfel als "alt"
angepriesen, sässen wir vielleicht heute noch im Paradies. Ganz
offensichtlich hat sie ihn aber als "reif" verkauft...
Waren es also ausschliesslich Marketing-Überlegungen, die mich
dazu veranlasst haben, meine Studie über die Chancen einer älter
werdenden Gesellschaft "Megatrend Reife" zu nennen ? Nein.
Ein starker Name verkauft nicht nur besser, er ist auch ein geistiger
Türöffner. Der zum Beispiel zu einer in einer durchökonomisierten
Gesellschaft eigentlich nahe liegenden, aber selten gestellten Frage
führt: Könnte Reife nicht auch eine Ressource sein ? Oder
jedenfalls werden ?
Reife als menschliche Ressource
Reife ist eine zutiefst menschliche Ressource. Sie korreliert mit dem
Alter, das heisst, sie tritt mit zunehmenden Alter mit erhöhter
Wahrscheinlichkeit auf, ist aber keineswegs eine automatische Frucht
des älter Werdens: Älter werden wir von selbst, reifer nicht.
Die älteren Herren sind nicht wegen ihrer Lebensjahre an die Spitze
der eingangs erwähnten Unternehmen gekommen, sondern weil sie wissen,
wie der Laden läuft, und weil sie ein Risikobewusstsein haben,
dass über jenes von frühpubertierenden Pfadfindern hinaus
geht.
Das Ende der New Economy lässt sich auch als Scheitern unreifer
Ideen, Konzepte und Menschen deuten, was - wenigstens im Nachhinein
- ganz einfach ist: Wir mögen zwar nicht immer genau wissen, was
falsch und was richtig ist, können jedoch sehr wohl zwischen reif
und unreif unterscheiden, und zwar intuitiv und aus dem Bauch heraus,
auch wenn wir über keine exakten Definitionskriterien für
Reife verfügen.
Mit dieser Optik wird der Wert der Ressource Reife für die Wirtschaft
wie für die Zivilgesellschaft mehr als deutlich: Reife Menschen
vereinen einen immensen Schatz an Erfahrungswissen mit ausgereiften
Kompetenzen im sozialen Umgang ebenso wie im Selfmanagement. Und sind
trotzdem bei jeder Entlassungswelle als Erste dran.
Die Opfer dieser ziemlich verblendet anmutenden Praxis mag es ein wenig
trösten, dass damit in absehbarer Zeit Schluss sein wird. Die ihren
Bauch nach oben verschiebende Alterspyramide führt unweigerlich
dazu, dass bald nicht mehr genug junge Nachwuchskräfte zur Verfügung
stehen. Der Schluss daraus ist klar: ªSchluss mit dem Jugendwahn !´
("Süddeutsche"). Bald geht es nicht mehr um die mehr
oder weniger gelungene Organisation eines Gnadenbrots für ältere
Menschen, sondern darum, wie ihre Reife als Ressource in den Arbeitsprozess
eingebracht werden kann.
Daraus die Forderung nach einer generellen Erhöhung des Rentenalters
abzuleiten, wäre unreif. Bauarbeiter und Pfarrer haben nun mal
extrem unterschiedliche Lebenserwartungen - warum soll sich das nicht
auch in ihrer Lebensarbeitszeit widerspiegeln ? Ebenso unreif wäre
das Ziel, die Menschen einfach ein paar Jährchen länger im
selben Job-Trott weiter wursteln zu lassen. Reife Menschen sind ausgeprägtere
Individualisten als junge. Uniforme Leistungs-Biotope hemmen sie. Zur
vollen Entfaltung ihrer Potenziale brauchen sie massgeschneiderte Job-Designs.
Und Weiterbildungsangebote, die zu dieser Lebensphase passen. Hier liegt
ein weites Feld weitgehend brach.
Gefordert wird von allen etwas, wenn die Ressource Reife im Arbeitsprozess
optimal genutzt werden soll: Von den Unternehmen werden anspruchsvolle
Lösungen für anspruchsvolle Mitarbeiter erwartet. Von der
Politik ist die Schaffung von Rahmenbedingungen zu erwarten, die endlich
berücksichtigen, dass der Trend zur Individualisierung von Arbeitsverhältnissen
gerade auch im reiferen Alter unaufhaltsam ist. Und von den älteren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann die Einsicht erwartet werden,
dass der eigenen Reifungsprozess auch jenseits der Fünfzig weitergeht
und sehr wohl auch der eigenen Investitionen bedarf.
Senioren-Marketing ist unreif
Um Mitternacht, pünktlich zu Beginn seines fünfzigsten Geburtstags,
hört in unseren Breitengraden jeder Mensch schlagartig auf zu existieren.
Jedenfalls auf dem Markt, auf dem Werbeplätze gegen Fernsehzuschauer
getauscht werden. Dort wird nur um die 15 bis 49-Jährigen gefeilscht,
wer über dieser magischen Grenze liegt, wird zum langweiligen Zugemüse.
Das ist so absurd, dass die Gegenreaktion kommen musste: Senioren-Marketing
! Super Markt ! Wächst fast so schnell wie die chinesische Bevölkerung,
hat Zeit und Geld. Da müsste doch ein Geschäft zu machen sein
!
Wäre es auch. Denn natürlich sind die Generationen jenseits
der Fünfzig eine hoch interessante Konsumentengruppe. Sie konsumieren
genauso gut und gerne wie die jüngeren - wenn denn die Leistung
stimmt. Selbstverständlich können sich reife Menschen für
ein neues Angebot begeistern - wenn es denn ausgereift ist. Das berühmte
Videogerät, das auch von Achtzigjährigen problemlos programmierbar
ist, fände bei ihnen sicher reissenden Absatz.
Das hat nur herzlich wenig mit ihrem Alter zu tun. Dieses offenbar utopische
Gerät würde von Dreissigjährigen genauso begeistert gekauft.
Weder für die Bedürfnisse noch für die Wünsche der
Menschen gibt es eine Alters-Schallmauer, jenseits derer alles ganz
anders aussieht. Wünsche und Bedürfnisse mögen mit zunehmender
Reifung subtiler und verfeinerter werden, grundsätzlich ändern
werden sie sich in der zunehmend länger werdenden Phase des aktiven
Dritten Alters nicht.
Die Vorstellung, die Menschen jenseits der Fünfzig bildeten allein
wegen der Tatsache ihres gemeinsamen kalendarischen Alters eine gemeinsame
Zielgruppe, die spezieller kommunikativer Ansprache bedürfe, ist
und bleibt deshalb ein Denkfehler. Es geht nicht nur darum, Begriffe
wie "Senioren" oder "Neue Alte" zu vermeiden, wozu
mittlerweile alle Experten raten. So lange im nächsten Satz für
den internen Gebrauch doch wieder von Senioren-Marketing gesprochen
wird, helfen auch hübsch beschönigende Begriffe wie "Best
Agers", "50plus" oder neuerdings "fifty-up"
wenig. Die reifen Konsumenten erkennen die Absicht und sind verstimmt.
Sie wollen reife Leistungen, genauso wie alle anderen. Eines aber wollen
sie mit Gewissheit nicht: Auf und über ihr Alter angesprochen werden.
Dazu besteht auch keine Notwendigkeit, von Ausnahmen abgesehen: Haut
etwa verändert sich mit dem älter Werden. Spezielle Produkte
für die reife Haut decken also ein reales Bedürfnis ab und
werden dadurch zum Erfolg. Für die meisten Anbieter von Produkten
oder Dienstleistungen aber gilt: Es gibt keinen Senioren-Markt. Und
damit auch kein Senioren-Marketing. Es gibt nur reifes Marketing für
reife Märkte.
Metapräferenzen lösen Wünsche ab
Laut dem Kultur-Philosophen Norbert Bolz werden sogenannte Metapräferenzen
die bisherigen Bedürfnisse und Wünsche als treibende Kräfte
des Konsums ablösen. Übersetzt: Die Bedürfnisse sind
weitgehend gestillt. Immer mehr Menschen steigen aus dem Hamsterrad
des Wunschkarussells ("mehr ist besser !") aus. Von dieser
Seite her ist nicht viel zunehmende Nachfrage-Energie zu erwarten.
Ganz anders sieht es beim Projekt der Selbst-Optimierung aus. Das hat
gerade erst begonnen. Der Mensch formt sich nach seinen Metapräfenenzen,
das heisst nach den Bildern, die er davon im Kopf hat, wie er gerne
sein möchte, ein schlanker Mensch vielleicht oder ein guter. Alles,
was ihm dabei hilft, ist willkommen. Der Aufruf der Metapräferenzen
an den Markt heisst nicht mehr "befriedige mich "´ wie
bei den Bedürfnissen, oder "verführe mich !" wie
bei den Wünschen, sondern "verändere mich !".
Der Antrieb, sich zu verändern, hört mit Fünfzig nicht
plötzlich auf. Im Gegenteil. Gerade reife Menschen wollen weiter
reifen. Sie wissen, dass Reife als Idealzustand letztlich unerreichbar
bleibt, geniessen aber umso mehr die subtilen Freuden der Reifung. Der
Tag ist deshalb abzusehen, an dem der Slogan "Wir helfen Ihnen
beim Reifen" selbstverständlicher Bestandteil der Kommunikation
von Trainern, Coaches und Beratern aller Art geworden ist. Denn auch
Unternehmen und andere Organisationen können reifen, und auch sie
tun es selten ganz von allein.
An den Fakten können wir nichts ändern, wohl aber an deren
Interpretation. So gesehen könnte es sich als ebenso kluger wie
sinnvoller Schachzug erweisen, Alter auch als Reife zu sehen und diese
wiederum als noch weitgehend ungenutzte Ressource.