Die 
          Schweiz als reifender Steppenwolf
        Ein Beitrag zur Identitäts-Diskussion 
          von Andreas Giger / Kurzversion 10.6.97, erschienen im "TagesAnzeiger", 
          Zürich 
         
        Oh Freunde, 
          nicht diese Töne ! , mahnte Hermann 
          Hesse im Vorfeld des ersten Weltkriegs die Intellektuellen Deutschlands. 
          Oh Freunde, bitte überhaupt Töne ! , fleht Christoph 
          Kuhn die Dichterinnen und Denker der Schweiz an. Voilà !
        Ein Grund für den mangelnden 
          Saft in der Ideenproduktion könnte im Inzucht-Verhalten der Intellektuellen 
          zu suchen sein: Wer zu uns gehört, entscheiden wir selber ! Hermann 
          Hesse zum Beispiel hatte das (nicht nur ihm durchaus zweifelhaft erscheinende) 
          Vergnügen nie, von der intellektuellen Literaturkritik mit den 
          höheren Weihen versehen zu werden, trotz des Nobelpreises und nie 
          versiegender Nachfrage nach seinen Büchern. Was anzieht, ist sein 
          Leitthema, die Individuation, ist sein Leitmotiv, das da lautet "Eigensinn 
          macht Spass !"
        Obwohl das ja nun wahrhaftig 
          ein urschweizerisches Motto ist, und obwohl Hesse als eingebürgerter 
          Schweizer den grösseren Teil seines Lebens in der Heimat seiner 
          überzeugten Wahl lebte, wurde er bisher kaum als Inspirationsquelle 
          für die Identität der Schweiz betrachtet. Dabei gäbe 
          es dazu einiges zu entdecken - die Vision von der "pädagogischen 
          Provinz" aus dem "Glasperlenspiel" etwa, die zu einem starken Attraktor 
          für die Schweiz werden könnte. Doch bevor sich die Schweiz 
          ernsthaft dem nächsten Jahrhundert zuwenden kann, muss sie sich 
          dem zu Ende gehenden stellen. Und dabei kann die wohl berühmteste 
          literarische Figur Hesses, der Steppenwolf, hilfreiche geistige Dienste 
          leisten.
        Voraussetzung dafür ist 
          ein kleines geistiges Spiel: für einen Moment die Schweiz gleichzusetzen 
          mit einer Persönlichkeit. Aus gutem Grund spricht die Wirtschaft 
          von der Marken- oder der Unternehmens-Persönlichkeit: Menschen 
          nehmen auch Institutionen oder Marken wahr wie Menschen, weil sie es 
          sich so gewohnt sind. Die Schweiz als Persönlichkeit "Steppenwolf" 
          wird so zum anregenden Gedanken-Experiment.
        Zur Erinnerung: Der Steppenwolf 
          ist ein Mann von knapp fünfzig, der in einer ernsthaften Midlife-Crisis 
          steckt. Er denkt oft an Selbstmord (naheliegende Analogie: die Schweiz 
          hat weltweit eine der höchsten Suizid-Raten...) und fühlt 
          sich als gespaltene Persönlichkeit: hier der wilde, ungezähmte 
          Steppenwolf, da der zivilisierte, von hohen Idealen getränkte Mensch. 
          Beide Seiten liegen miteinander in unversöhnlichem Clinch, an ein 
          glückliches Leben ist nicht zu denken.
        Mensch und Tier, höchste 
          Geistigkeit und blinde Mordlust - die Spaltung geht nicht nur mitten 
          durch den Steppenwolf, sie ging mitten durch eine ganze Epoche. Und 
          sie geht heute mitten durch ein ganzes Land: Blocher und Ziegler. "Wir 
          haben nichts falsch gemacht !" und "wir haben alles falsch gemacht !".
        Es gibt im Steppenwolf eine Instanz, 
          die die lähmende Wirkung der Konfrontation erkennt. Und so gibt 
          es auch in der Schweiz eine unterschätzte Anzahl von Menschen, 
          die wissen, dass es nicht um ein starres "entweder-oder" gehen kann. 
          Sondern nur um ein ebenso entschiedenes wie flexibles "sowohl-als auch": 
          Ja, es war eine reife Leistung, sich aus den Schrecknissen des Krieges 
          herauszuhalten, und dieser nicht hoch genug einzuschätzende Zweck 
          heiligte tatsächlich viele Mittel. Und ebenso: Ja, der Zweck hat 
          nicht alle eingesetzten Mittel geheiligt. Und ja, nachdem der Druck 
          weg war, hat sich die Schweiz leider als engherzig und engstirnig erwiesen, 
          statt souverän und selbstbewusst auch zu ihren eigenen Fehlern 
          zu stehen. Beides ist wahr, und beides wird kein Fitzelchen weniger 
          wahr, weil auch das andere wahr ist.
        Und doch erscheint der unfruchtbare 
          Streit zwischen den Anhängern der beiden Wahrheiten ebenso schicksalhaft 
          wie die Spaltung in Wolf und Mensch beim Steppenwolf: die beiden Streithähne 
          lassen sich in ihrem Konflikt um die ganze Wahrheit durch die Erkenntnis, 
          es gäbe diese gar nicht, nicht im geringsten aus dem Konzept bringen.
        Nun ist dies gewiss keine spezifisch 
          schweizerische Schwäche. Doch die Spaltung wirkt derzeit besonders 
          lähmend auf die Identität der Schweiz, weil sie nicht nur 
          rückwärtsgewandt funktioniert, sondern auch nach vorn, in 
          der Frage der Integration der Schweiz in Europa und in der Welt. Auch 
          da wird entweder alles Gute oder alles Schlechte erwartet, auch da ringen 
          zwei Wahrheiten um die totale Herrschaft.
        Gekämpft wird um Territorien 
          im Raum der Werte und Ideen, so als ob der Platz dort knapp würde. 
          Und das ist nun das beste Beispiel für eine irreführende Analogie. 
          Geistiger Raum steht in beinahe unbegrenzten Massen zur Verfügung. 
          Es gibt keinerlei Grund zu geistiger Platzangst, es gibt im Bewusstsein 
          vielmehr ausreichend Platz für Mensch und Steppenwolf, für 
          negative und für positive Elemente in der Schweizer Geschichte, 
          für den Wunsch nach grösstmöglicher Selbständigkeit 
          und für jenen nach möglichst viel Integration, für Ziegler 
          und für Blocher.
        Womit auch klar wäre: La 
          Suisse n existe tatsächlich pas. Die Schweiz gibt 
          es nicht. Und so effizient auch die Versuche organisiert sein mögen, 
          der Schweiz die eine, einheitliche Definition überzustülpen, 
          egal ob die der braven, selbstgenügsamen Schweiz mit der weissen 
          Weste oder jene der schuldbeladenen und deshalb auf Aufnahme in den 
          europäischen Armen angewiesenen, so ineffektiv müssen sie 
          bleiben, weil sie einem fiktiven Ziel nachjagen, jenem der einheitlichen 
          Persönlichkeit Schweiz.
        Das ist die erste Lektion, die 
          der Steppenwolf zu lernen hat: die Fiktion von der einheitlichen Persönlichkeit 
          aufzugeben, die Gespaltenheit in Wolf und Mensch zu akzeptieren. Doch 
          das reicht nicht, meint Hesse, denn das Bild von "zwei Seelen wohnen, 
          ach !, in meiner Brust" sei von einer geradezu lächerlichen Primitivheit, 
          kindisch, pubertär bestenfalls, aber eines reifen Menschen unwürdig. 
          Schliesslich sei es doch offenkundig, dass jede Persönlichkeiten 
          aus Hunderten, ja Tausenden von Teilpersönlichkeiten bestünde, 
          weshalb es einer geistigen Vergewaltigung der Wirklichkeit gleichkäme, 
          all diese vielfach schillernden Facetten auf eine einzige Dimension 
          zu reduzieren.
        Dank seiner ebenso schönen 
          wie lebensklugen Lehrmeisterin lernt der Steppenwolf die Wahrheit dieser 
          Erkenntnis in der Praxis von Tanzsaal und Bett. Zur finalen Lernstunde 
          tritt er schliesslich im "Magischen Theater" an, über dessen Pforte 
          warnend steht "Nicht für jedermann. Nur für Verrückte. 
          Eintritt kostet den Verstand."
        In Wirklichkeit kostet der Eintritt 
          nur die Fiktion der einen einheitlichen oder allenfalls in zwei Teile 
          gespaltenen Persönlichkeit. Dafür erhält der Steppenwolf 
          Unterricht im Aufbau der Persönlichkeit: Nachdem diese einmal in 
          tausend Teilpersönlichkeiten zerfallen ist, kann man die Einzelteile 
          jederzeit beliebig wieder zusammenstellen und so eine unendliche Mannigfaltigkeit 
          des Lebensspiels erzielen. Nach dem Motto: Die Mischung machts.
        Was damals in den Zwanziger Jahren 
          tatsächlich ziemlich verrückt klang, ist heute das Standardmodell 
          der fortgeschrittenen Bewusstseins-Forschung.
        Der Steppenwolf ist allerdings 
          reichlich verwirrt und benimmt sich ziemlich daneben. Willig akzeptiert 
          er ein Gericht, wünscht sich nichts sehnlicher als die Hinrichtung. 
          Doch die weisen Richter verurteilen ihn zum Weiterleben und zu einem 
          einmaligen Ausgelachtwerden, Symbol dafür, dass nur die Distanz, 
          die sich in Humor und Lachen ausdrückt, weiterhilft. Begriffen 
          hat der Steppenwolf in dem Moment, in dem er über sich selber lachen 
          kann.
        Womit die Geschichte vom Steppenwolf 
          eben nicht nur eine Diagnose enthält, sondern auch eine attraktive 
          Vision dessen, was aus der gegenwärtigen Krise wachsen könnte: 
          Reife.
        Individuation, das Werden des 
          eigenen Seins, ist ein Prozess und bedeutet unablässigen Wandel. 
          Doch dieser Prozess verläuft im Welt- und Menschenbild von Hesse 
          nicht chaotisch und ohne Sinn und Verstand. Jede unterschiedliche Lebensphase, 
          die durchlebt, durchlitten und durchlustet wird, bringt vielmehr ein 
          Stück Reifung.
        Zu diesem Reifungsprozess gehört 
          es, mehr und mehr seiner Teilpersönlichkeiten nicht nur zu erkennen, 
          sondern auch, sie zu akzeptieren, weil jede Verdrängung zwangsläufig 
          dazu führt, dass sich die nicht ausreichend wahrgenommene Einzelstimme 
          im Gesamtchor unangenehm bemerkbar macht. Für die helleren wie 
          die dunkleren Teilpersönlichkeiten gilt es, der Doppelfalle zu 
          entkommen: sie zu ignorieren oder sich mit ihnen zu identifizieren. 
          Eine reife Persönlichkeit weiss, dass es Unsinn ist zu sagen "So 
          bin ich, und nicht anders !", sondern dass es heissen muss "So bin ich. 
          Und auch anders."
        Die tägliche Erfahrung lehrt, 
          dass Menschen, die nicht mehr glauben, sie müssten sich entscheiden, 
          ob die Welt oder sie selber schwarz oder weiss sei, sondern die sich 
          in ihrer ganzen bunten Vielfalt und tristen Grauheit wahr- und annehmen, 
          dadurch keineswegs an Persönlichkeit verlieren. Im Gegenteil.
        Weiterleben trotz in der Vergangenheit 
          angehäufter Schuld, weiterleben trotz des immer unbequemen Zwangs 
          zum stetigen Wandel, das ist Reife. Und reife Werte sind schwer im Kommen. 
          Falten werden sexy und ebenso die damit verbundenen reifen Werte wie 
          innere Ruhe und Ausgeglichenheit, Weisheit, Gelassenheit, klar zu wissen, 
          was man will und was einem gut tut, Souveränität, Klugheit 
          und Zufriedenheit.
        Und obwohl Alter keineswegs automatisch 
          Reife bedeutet, erhöht es doch deutlich die Chancen. Wie Hesse 
          selber formuliert: "Auch der mässig Begabte, wenn er ein paar Jahrhunderte 
          durchrannt hat, wird reif."
        Die Aussichten dafür stehen 
          im Falle der Schweiz gar nicht mal schlecht. Wohl war es nicht das Verhalten 
          einer reifen Persönlichkeit, in den letzten fünfzig Jahren 
          die sanfteren Einladungen zum Lernen schlicht zu ignorieren. Deshalb 
          treiben wir Vergangenheitsbewältigung jetzt auf die etwas härtere 
          Tour. Doch die Richtung stimmt, nämlich nach den Wahrheiten zu 
          suchen, die in dicken Bänden und widersprüchlichen Einzelinformationen 
          stecken, statt nach solchen, die man sich um die Ohren hauen kann. Und 
          mit dem Solidaritätsfonds zu zeigen, dass wir es deutlich noch 
          besser können, als wir es bisher vorgeführt haben.
        Oder schlicht mal wieder befreiend 
          über uns selber und unsere kleinen Sorgen zu lachen. Und zu erkennen: 
          Die reife(nde) Schweiz hat Zukunft.