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2. Zwischenspiel:

Wesen und Sinn von Identitäts-Leitbildern

Meine "Karriere" als Visionär, Vor- und Querdenker sowie schließlich Zukunfts-Philosoph begann vor ziemlich genau 10 Jahren mit einem Essay namens "Wesen und Sinn von Visionen im Wirtschaftsleben". Seitdem hat sich mein Verständnis davon, was Leitbilder (deren intensivste Ausformung Visionen sind) für Individuen wie für Gesellschaften bedeuten, durch praktische Erfahrung und denkerische Reflexion sowohl vertieft als auch gewandelt:

Leitbilder sind wählbare Attraktoren

Was bestimmt eigentlich unseren Entwicklungsweg, als einzelne Menschen wie als Gemeinschaften ? Werden wir, wie es das klassisch wissenschaftlich-technische Weltbild sieht, tatsächlich unerbittlich von der Vergangenheit in Richtung Zukunft geschoben ?

Dieses Weltbild ist mechanistisch und deterministisch. Das heißt ganz einfach: Jedes Ereignis hat Ursachen, die davor, also in der Vergangenheit liegen. Wenn man einen Fußball tritt, fliegt er weg. Und wenn man alle Details dieses Tritts, von Richtung und Stärke der Beinbewegung bis hin zur exakten Beschaffenheit des Rasens, kennen würde, könnte man theoretisch die Flugbahn des Balles präzise berechnen.

Das Leben ist bekanntlich noch etwas komplexer als Fußball, doch auch da neigen wir gerne zu diesem Weltbild: An allem eigenem Ungemach ist irgend etwas in der Vergangenheit schuld: die bösen Eltern, die unfähigen Lehrer, die undankbaren Chefs.

Nun wäre es natürlich ein Witz, den Einfluß der Vergangenheit zu leugnen. Natürlich werden wir von der Vergangenheit geschubst. Weder können wir über die Grenzen unseres genetischen Gerüsts hinausgehen noch all die Prägungen, die hinter uns liegen, einfach abschütteln und vergessen. Gerade Lebensgestalter machen sich solche Phänomene bewußt und wiederholen die Einsicht gelegentlich: Unsere Vergangenheit eröffnet ein Feld von Möglichkeiten und setzt ihm gleichzeitig Grenzen.

Im deutschen Wort "Bildung" steckt übrigens genau diese Idee. Das Wort meint ursprünglich: "eine Gestalt aus einem Stück Holz herausschnitzen." Wer immer sich schon einmal an dieser Tätigkeit versucht hat, weiß, daß das real existierende Stück Holz der schnitzenden Hand immer nur das erlaubt, an Form herauszuholen, was in ihm steckt, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Beschäftigung mit den vergangenen Faktoren, die unser Leben beeinflussen, ist also keineswegs sinnlos, im Gegenteil. Erst wenn jemand darin stecken bleibt und sich nur noch in der Vergangenheit suhlt, wird es stinklangweilig. Denn die Vergangenheit hat einen entscheidenden Nachteil: Man kann sie nicht mehr verändern.

Ein Begriff wie Lebensgestaltung verlöre aber jeden Sinn, wenn es nichts zu gestalten gäbe, wenn alles unverrückbar fest stünde. Deshalb muß für Lebensgestalter jeder Couleur die Idee elektrisierend wirken, daß wir nicht nur von der Vergangenheit geschoben, sondern auch von der Zukunft angezogen werden.

Diese Idee stammt aus der Chaos-Forschung. Diese - übrigens nicht etwa ein Kind ausgeflippter Geisteswissenschaftler, sondern bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern beheimatet - hat herausgefunden, daß keineswegs alle Prozesse in der Natur schön mechanistisch-deterministisch ablaufen wie der Fußball-Kick, sondern eben chaotisch.

Chaos wiederum bedeutet in diesem Zusammenhang etwas anderes als in der Alltagssprache. Chaotische Prozesse verlaufen keineswegs völlig wild und beliebig, man kennt im Gegenteil die Spielelemente und die Spielregeln - und kann trotzdem nicht vorhersagen, was dabei herauskommt.

Das Prinzip kennen Sie sicher von etwas komplexeren Spielen wie Schach: Mit einer Handvoll Figuren und ein paar einfachen Regeln entwickelt sich jedes Spiel anders, wobei es trotz allem keine unendliche Zahl von Möglichkeiten gibt; das Spektrum von Spielen bewegt sich vielmehr innerhalb eines Korridors von Möglichkeiten.

Wie nun die Chaos-Forscher herausgefunden haben, gibt es für solche chaotischen Prozesse so etwas wie Anziehungspunkte in der Zukunft, hübscher formuliert sogenannte Attraktoren. Das Bild braucht eine gewisse Gewöhnungszeit, um zu wirken. Am einfachsten ist es vielleicht, sich die Extremform von Attraktoren vorzustellen: Für einen Wassertropfen etwa, der eine Felswand hinabrollt, ist der wirksamste Attraktor immer unten, und der wirkt auch, wenn das Wasser wegen ablenkender Felswülste schräg nach unten fließt.

Einen ähnlich unerbittlichen Attraktor, wie ihn die Schwerkraft für den Wassertropfen bildet, kennt unser menschliches Leben übrigens auch: den Tod.

Doch solange wir leben, sind unsere Entwicklungsprozesse glücklicherweise weniger eindimensional und viel vielschichtiger, und das bedeutet auch, daß eine wesentlich größere Anzahl unterschiedlicher Attraktoren unserer harrt, und zwar sowohl solche, die von selber auf uns wirken und uns anziehen, als auch solche, die ihre anziehende Wirkung erst entfalten, wenn wir sie als Attraktoren wählen.

Leitbilder sind genau solche wählbaren Attraktoren, die erst dann wirken, wenn wir es wollen, wenn sie gleichsam in unserem Kopf drin sind. Dann allerdings können sie eine starke Anziehungskraft ausstrahlen und unseren Entwicklungsweg in ihre Richtung lenken. Das wird selten zu einer gradlinigen Bahn führen, denn auch auf unseren Pfaden gibt es allerhand ablenkende Wülste, doch immer dann, wenn wir uns einen Überblick über die zurückgelegte Wegstrecke verschaffen können, erkennen wir, daß die Richtung stimmt: sie führt hin zum Attraktor.

Wenige haben diesen fast magisch zu nennenden Prozeß, den bis heute niemand wirklich erklären kann, so schön beschrieben wie der französische Dichter und Pilot Antoine de Saint-Exupéry:

 Wenn Du ein gutes Schiff bauen willst,

dann trommle nicht Männer zusammen

und lasse sie Holz schlagen,

sondern wecke in ihnen

die Sehnsucht nach dem unendlichen Meer.

Die "Sehnsucht nach dem unendlichen Meer" ist ein Leitbild voll Saft und Kraft, ist ein starker Attraktor. Und hinter der Aufforderung "wecke in ihnen !" steckt die Überzeugung, es gäbe ein Stück Freiheit, neue Leitbilder in sich wecken zu lassen. Leitbilder sind also tatsächlich wählbare Attraktoren.

>Menschen sind an Menschen anknüpfende Lebewesen<

Dieser Satz stammt vom Göttinger Philosophen Odo Marquard und drückt unnachahmlich elegant das aus, was ich in den letzten Jahren in Sachen "Wesen und Sinn von Leitbildern" dazu gelernt habe. Während sich meine Überzeugung davon, wie wichtig und wirksam Leitbilder für die aktive Gestaltung der Zukunft von Individuen und Gesellschaften sind, kurz vom Sinn von Leitbildern, an- und ausdauernd vertieft hat, gab es deutliche Wandlungen bei der Frage nach den sinnvollsten Inhalten von attraktiven Leitbildern.

Und das kam so: Unbescheiden, wie ich nun mal bin, habe ich mich von Anfang an mit der stärksten und intensivsten Form von Leitbildern beschäftigt, den Visionen. Dabei habe ich eine Menge gelernt, unter anderem auch dieses: Visionen sind für den täglichen Gebrauch nur bedingt tauglich. Der Mensch lebt nicht von Visionen allein - und dennoch braucht er Leitbilder. Visionen sind zwar stark, aber eben auch weit weg und meistens doch eher abstrakt.

Abstrakte Ideen können natürlich hochgradig wirksame Attraktoren sein: Hochgradig abstrakte Ideen wie Vaterland, Religion, Rasse, Fahne, Klasse haben immer wieder enorme Kräfte entfesselt, manchmal konstruktive, viel öfter destruktive. Unser zu Ende gehendes Jahrhundert hat diese Entfesselung von destruktiven Energien durch abstrakte Attraktoren so weit auf die Spitze getrieben, daß wir hoffentlich gelernt haben: Abstrakte Attraktoren können hochgradig gefährlich sein.

Lebenstauglichere und lebensfreundlichere Leitbilder müssen also konkreter und näher sein, müssen da anknüpfen, wo Menschen normalerweise anknüpfen: bei Menschen.

Konkrete Menschen als Leitbilder: das erinnert an den etwas außer Mode gekommenen Begriff der "Vorbilder". Das Wort "Vorbild" ist allerdings eng verknüpft mit einem moralischen Modell der Welt, in der allen der Unterschied zwischen Gut und Böse klar ist, und in der Vorbilder die guten Werte einfach mehr leben als ihre Nacheiferer. Diese Welt mit klaren moralischen Wertungen gibt es hierzulande so nicht mehr, weshalb auch die klassischen Vorbilder ausgedient haben.

Das heißt nicht, daß Leitbilder per se keinen Sinn mehr machen würden. Es ist nur klarer geworden, daß auch ein Leitbild ein Bild bleibt, und zwar eben keines, zu dessen Kopie ich werden möchte, sondern ein Modell in meinem Kopf, das mich ein Stück weit leitet.

Wenn wir im folgenden nun der Frage nachgehen wollen, wie weit sich "Lebensgestalter" als Leitbilder für das 21. Jahrhundert eignen, dann ist die Einsicht bereits vorweggenommen, daß nur konkrete Menschen als Leitbilder der Zukunft dienen können, denn wenn wir den Begriff Lebensgestalter hören, denken wir unweigerlich an bestimmte Menschen, an uns selber und/oder an Freunde und Bekannte oder auch an bestimmte Menschen, die wir nur indirekt, etwa über die Medien, "kennen". Lebensgestalter als Leitbilder sind konkrete Menschen.

Gleichzeitig denken wir aber auch an eine "Gattung" von Menschen, denen ein bestimmtes Bild der Welt und des Lebens gemeinsam ist. Das bedeutet keineswegs ein identisches Weltbild, geteilt werden "nur" ein paar grundsätzliche Vorstellungen, während aus diesem gemeinsamen Werte-Grund hochgradig individuell verschiedene Pflänzchen sprießen.

Dennoch bleibt ein Kern von gemeinsamen Vorstellungen und Werten, die wir mit dem Begriff "Lebensgestalter" verbinden (und auf die wir im folgenden vertieft eingehen werden). Und weil geistige Phänomene wie etwa Leitbilder ihre volle Wirkung immer erst dann entfalten können, wenn ein einzelner einprägsamer Begriff die vorher etwas diffusen Vorstellungen bündelt, könnten die Lebensgestalter - als Individuen wie als "Gattungsbegriff" - tatsächlich zu einem attraktiven Leitbild des 21. Jahrhunderts werden.

Warum aber zu einem Identitäts-Leitbild ? Die Antwortet lautet - marktwirtschaftlich gesprochen - ganz einfach: Weil danach die größte Nachfrage besteht. Identität ist zu einem kostbaren Gut geworden: heiß begehrt, wenig im Angebot.

Das war natürlich nicht immer so. In Identitäten wuchs man in früheren Zeiten selbstverständlich hinein, das heißt, man wurde und blieb katholischer Zahnarzt mit Neigung zur Kammermusik oder Hausfrau und Handwerkersgattin mit karitativer Ader. Was ein guter Mensch ist, war klar, was ein erfolgreicher Mensch ist, war klar, und was ein gebildeter Mensch ist ebenso. Nichts von diesen selbstverständlichen Gewißheiten ist geblieben. Identität ist nichts Selbstverständliches mehr, und so wie wir unsere Zähne erst registrieren, wenn wir Zahnschmerzen haben, während sie uns sonst so selbstverständlich sind, daß wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, so wurde Identität erst zum Thema, als sie ihre Selbstverständlichkeit verlor.

An dieser Stelle würde ich Ihnen gerne eine exakte Definition von "Identität" liefern, aber die haben leider weder ich noch andere zu bieten. Im Gegenteil: Je mehr die blühende Bewußtseinsforschung über die Zusammenhänge von Gehirn und Bewußtsein herausfindet, desto rätselhafter wird das Phänomen Identität: Wie kommt es, daß wir uns über Jahre und Jahrzehnte als identisches Ich erleben, obwohl dieses Bewußtsein sich doch im Laufe der Zeit massiv gewandelt hat ? Wozu brauchen wir dieses Gefühl von Identität überhaupt ? Wo steckt der "evolutionäre Vorteil" darin ?

Der Fragen sind viele, der Antworten weniger. Fest steht nur, daß wir ohne Identität nicht auskommen, daß diese aber auch kein vorgegebenes Phänomen ist, sondern (mindestens ein großes Stück weit) ein Konstrukt: Wir basteln uns unsere Identität selber.

Das bedeutet keineswegs, daß wir das immer und überall in absoluter Freiheit tun können. Wie wir gesehen haben, kamen die meisten Identitäts-Elemente im Laufe der Geschichte vielmehr von außen. Und selbst noch im Bild von der Schiffbau-Vision wird die Sehnsucht nach dem unendlichen Meer nicht etwa von den Männern in sich selbst geweckt, sondern von außen. Der Hinweis ist sicher richtig: Auch heute noch werden wir in bestimmte identitätsstiftende Bereiche des Lebens hineingeboren.

Nichtsdestotrotz ist unübersehbar, daß die Bedeutung der Identitäts-Attraktoren, die von außen kommen, schwindet. Die logische Konsequenz daraus heißt: Wir haben mehr Freiheit denn je, uns unsere eigene Identität zu bilden und zu entwickeln.

Ob diese Entwicklung hin zu mehr individueller Identitäts-Freiheit auf Dauer unumkehrbar ist, bleibt abzuwarten - derzeit sieht es so aus, als ob die Versuche, das Rad zurückzudrehen, wenigstens hierzulande illusorisch bleiben müssen. Ich persönlich wäre der Letzte, der dies beklagen würde: Die Freiheit, sich selber zu werden, gehört für mich zu den höchsten Gütern unserer Zivilisation. Und ich fühle mich da eins mit jenen Menschen, die sich selber als Lebensgestalter sehen und erleben, denn Lebensgestalter sind nun mal Kinder der Freiheit.

Das bedeutet keineswegs, daß Lebensgestalter sich nicht des ambivalenten Charakters der heutigen Identitäts-Freiheit bewußt wären (es wird darauf zurückzukommen sein): Die Freiheit, seine eigene Identität zu entwickeln, bedeutet gleichzeitig den Zwang zu wählen. Natürlich kann ich mich auch heute noch entscheiden, eine von außen bestimmte Identität anzunehmen, im Extremfall etwa, indem ich ins Kloster gehe, aber das ist mir nicht mehr vorbestimmt wie früher vielen Nonnen und Mönchen, sondern wenigstens für die Phase meiner Entscheidung bin ich zur Freiheit gezwungen.

Wo keine selbstverständlichen Identitäten mehr existieren, gibt es sowohl die Wahl-Freiheit als auch den Wahl-Zwang. Was in der persönlichen Empfindung dabei überwiegt, ist eine Frage der Persönlichkeit - Lebensgestalter gewichten im Zweifelsfall die Lust der Freiheit höher als ihre Last. Sie fühlen sich dabei im Einklang mit der Evolution: Wo sollte in einer Welt, in der keine zwei Fingerabdrücke, ja nicht einmal zwei Schneeflocken absolut identisch sind, der Sinn von identischen Identitäten liegen ?

Ist es, anders gefragt, der menschlichen Bestimmung zur Individuation nicht viel angemessener, aus vielen Speisen à la carte sein eigenes Menü zusammenzustellen, als daß einem der Wirt einfach auf den Tisch knallt, was ihm paßt ?

Nun gibt es Speisekarten, die wegen ihrer Fülle und Komplexität mehr verwirren als lustvolle Freiheit genießen lassen. In einer solchen Situation sind Leitbilder nützlich und sinnvoll, jemand, der aus eigener Erfahrung einen besseren Überblick über die Karte hat. Das braucht nicht einmal direkte Empfehlungen zu bedeuten: Wenn Ihr Leitbild mit Verve Schnecken auswählt, müssen Sie deswegen noch lange keine Schnecken mögen. Ein Leitbild ist sie oder er vielmehr durch die Power der Überzeugung, zu seinem eigenen Geschmack zu stehen.

Lebensgestalter als Identitäts-Leitbilder sind also keineswegs Idole, die es zu kopieren gilt. Sie laden uns stattdessen ganz einfach dazu ein, für einen Moment die Welt und das Leben mit ihren Augen zu sehen. Und sie lassen uns dabei die Freiheit, das, was wir gesehen haben, schön oder häßlich, gut oder schlecht zu finden (oder eine Mischung davon), es in unsere Identität zu integrieren oder nicht. Und wenn wir etwas von dem, was wir bei diesem Perspektivenwechsel erfahren haben, attraktiv finden und als Attraktor in unsere eigene Identität aufnehmen, enthüllt sich der Sinn von Identitäts-Leitbildern von selbst.

Ob Lebensgestalter und die Art, wie sie Leben und Welt sehen, in Ihrer Identität zu einem frei gewählten Attraktor werden könnten, werden Sie auf den folgenden Seiten sehen, wenn Sie mehr über Lebensgestalter erfahren.

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