Gigerheimat: Werte

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8. Von den Antworten zurück zum Fragen

Unsere Leitfrage hinter den über 30 Einzelfragen, die Sie samt Antworten kennenlernen konnten, lautete: Taugt der Begriff "Lebensgestalter" wirklich als Identitäts-Leitbild für das 21. Jahrhundert ? Die Antwort darauf lautet nach allem, was wir gesehen haben: nur bedingt.

Das ist ein einigermaßen überraschender Befund. Verschiedene Indizien ließen vermuten, der Begriff Lebensgestalter und alles, was damit verbunden ist, sei rundum tauglich als Leitbild.

Im erwähnte Buch "Psychotrends" von Heiko Ernst ist ein Kapitel so überschrieben:

Die neuen Tugenden: Flexibilität. Intuition. Lernbereitschaft.

Wir können diesen Katalog mit zusätzlichen Tugenden anreichern: Selbständigkeit. Eigenverantwortung. Risikobereitschaft. Mobilität. Und kommen damit zu einer exakten Beschreibung einer guten Lebensgestalterin, eines guten Lebensgestalters.

Diesem ganzen Werte-Kanon ist eines gemeinsam: Er singt das Hohelied des Individuums. Der einzelne Mensch ist letzte und oberste Instanz.

Diese Basis-Idee, mit der unsere Gesellschaft tief getränkt ist, war und ist nicht überall selbstverständlich. Sie hat jedoch mindestens im Westen in den letzten paar hundert Jahren eine derartige Dynamik entwickelt, daß derzeit kaum etwas in Sicht ist, was sie stoppen könnte, von ein paar fundamentalistischen Inseln mal abgesehen. Das Individuum als Maß aller Dinge ist offensichtlich ein starker Attraktor. Dieser hat unsere kulturelle Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit geprägt, und er wird sie noch verstärkt und beschleunigt weiter prägen.

Eine zentrale Ursache dafür ist der Strukturwandel in der Wirtschaft. Solange diese organisiert war wie eine Armee, waren individuelle Werte wenig gefragt: Ein gutes Rädchen im Getriebe soll nicht individuell sein, sondern funktionieren. Nachdem dieses Modell aber immer weniger funktioniert und die erfolgreichen Unternehmen von morgen und übermorgen tatsächlich hervorragend organisierte Netze von kleinen und kleinsten teilautonomen Einheiten sein werden, verstärkt sich die Nachfrage nach den individuellen Werten und Tugenden von Lebensgestaltern enorm.

Somit gibt es keinen Widerspruch mehr zwischen den kulturellen Erwartungen nach individuellen Werten und deren Ablehnung durch die wirtschaftlichen Erwartungen. Das gibt dem Leitbild der Lebensgestalter einen zusätzlichen "Drive": Wenn das, was wir seit Jahrhunderten wollen, nämlich frei und eigenverantwortlich unser Leben zu gestalten, sich plötzlich deckt mit dem, wofür die Wirtschaft gutes Geld zahlt, müßten Lebensgestalter eigentlich paradiesische Zustände vorfinden.

So gesehen erstaunt es wenig, daß wir ursprünglich davon ausgehen konnten, Lebensgestalter seien ein beinahe ideales Leitbild. Und solange wir den Begriff nur kurz umrissen und nicht weiter hinterfragten, hat SensoNet diesen Befund ja auch gestützt. Sie erinnern sich vielleicht: Auf der Skala von eins bis zehn (=totale Identifikation) ergab sich für die heutige Identifikation ein Durchschnittswert von 6.6, für jene in zehn Jahren eine solche von 7.6. Fragten wir nach den Soll-Werten, also den Wünschen bezüglich Identifikation mit dem Begriff Lebensgestalter für die ganze (deutschsprachige) Gesellschaft, ergeben sich gar Werte von 7.1 (heute) bzw. 8.0 (in zehn Jahren).

Wohlverstanden: Es handelt sich hier um Durchschnittswerte. Darin versteckt sich eines von zehn SensoNet-Mitgliedern, das sich so gut wie gar nicht mit dem Begriff Lebensgestalter identifizieren kann, aber umgekehrt eines von zwei Mitgliedern, das dies fast vollständig tut.

Woher kommt diese Diskrepanz ? Wir haben innerhalb unserer SensoNet-Studie leider zu wenig Informationen, um diese Frage abschließend beantworten zu können, was uns andererseits die Freiheit gibt, einigen Hypothesen nachzugehen. Dabei hilft paradoxerweise ein eigentlich fehlgeschlagenes Experiment:

Als nämlich meine Liebste von meiner SensoNet-Studie über Lebensgestalter erfuhr, zog sie ihr hübsches Näschen kraus, womit sie ihre Skepsis darob ausdrückte, ob ich denn da wirklich die geeigneten Auskunftspersonen beisammen hätte. Sie hingegen kenne mindestens drei Dutzend Leute, die erwiesenermaßen Lebensgestalter seien. Diese wolle sie nun bitten, die SensoNet-Fragen ebenfalls zu beantworten. Damit hätten wir eine geprüfte und geeichte Vergleichsgruppe.

Leider kamen nur sehr wenige Fragebogen ausgefüllt zurück. Das lag zum einen daran, daß es sich meistens um überzeugte Individualisten handelt, und die Vorstellung, daß in der Wolle gefärbte Individualisten einen Fragebogen mit strukturierten Antwortvorgaben ausfüllen, ist ebenso unrealistisch wie jene einer Individualisten-Partei. (Daß man auch als Individualist Fragebogen ausfüllen kann, haben andererseits 360 SensoNet-Mitglieder gezeigt...).

Viel wichtiger aber war ein inhaltlicher Einwand: Wozu soll ich Fragen beantworten - so ein sinngemäß häufig gehörter Vorwurf - wenn eh alles klar ist ? Lebensgestalter, so war zu hören, ist ein so eindeutig positiv besetzter Begriff, daß sich weiteres Nachdenken darüber schlicht nicht lohnt. Und als dieselben Leute dann erfuhren, der SensoNet-Test hätte durchaus auch gewichtige Schattenseiten im Bild der Lebensgestalter ergeben, waren sie logischerweise baff erstaunt. Das Prüfergebnis "bedingt tauglich" kommt also für manche Menschen durchaus überraschend.

Es sind übrigens vermutlich nicht nur manche, sondern viele, die dasselbe empfinden, was eine Stimme aus der Testgruppe so ausdrückte: "Lebensgestalter - das ist ein Idealbild, das ich noch nicht in allen Teilen erreiche, dem ich aber sicher weiterhin nacheifern werde".

Wenn wir mal davon ausgehen, daß SensoNet tatsächlich einfach jene Minderheit vertritt, die bewußt ausdrücken kann, was der Rest so ähnlich auch empfindet, dann müssen es viele sein, die Lebensgestalter als ideales Ideal erleben.

Auch bei SensoNet sind nämlich jene, die am Lack des Idealbilds kratzen, in der Minderheit. Allerdings ist diese Minderheit zu groß, um sie einfach zu übersehen. Was wiederum nichts daran ändert, daß "Lebensgestalter" für die Mehrheit ein fast rundum taugliches Leitbild darstellt.

Für diese Vielen deckt sich das Leitbild "Lebensgestalter" weitgehend mit dem eigenen Selbstbild. Gut, man wäre gerne hie und da noch ein Stück unabhängiger, kreativer, abgeklärter, cooler, als man sich selber empfindet, aber im großen und ganzen fühlt man sich wohl in der Rolle des Lebensgestalters und genießt dessen Vorzüge.

Deren größter ist es zweifellos, frei über sein eigenes Leben verfügen zu können, selber zu entscheiden, was einem wichtig ist und wie man es erreichen möchte. Nun hat das Maß an Freiheit allgemein zugenommen, darüber ist man sich einig, doch die Lebensgestalter bilden gleichsam die Speerspitze dieser Entwicklung und nehmen sich nicht nur mehr Freiheit als andere, sondern genießen sie auch stärker.

Für Lebensgestalter, auch das hat sich in unserer kleinen Studie bestätigt, sind die Begriffe "Freiheit" und "Eigenverantwortung" untrennbar aneinander gekoppelt. Und so lange dem so ist, bildet das Welt- und Menschenbild der Lebensgestalter einen wohltuenden Kontrast zu einer anderen Entwicklung, die auch um sich greift: jener zur "Jammergesellschaft", in der alle Opfer sind und niemand verantwortlich - auf gar keinen Fall man selber.

Nun kann man natürlich auch den Gedanken der Eigenverantwortung übertreiben: Wer den eigenen Willen als einzigen Regisseur des großen Welttheaters betrachtet, kann leicht auf die Schnauze fallen. Wenn so jemand krank wird, bedeutet dies ja zwangsläufig, er hätte keinen ausreichenden Willen zum Gesundsein besessen und damit versagt - und solche Gedanken sind dem Heilungsprozeß nicht sehr zuträglich. Nicht ohne Grund ist die Grundstimmung gegenüber dem Wert Freiheit im Selbstbild von SensoNet etwas skeptischer als im Idealbild "Lebensgestalter": Man sieht Freiheit weniger absolut, sieht deutlicher die Grenzen, die ihr von verschiedensten Ebenen, von den Genen bis zu Naturkatastrophen, gesetzt sind.

Gegen die Verabsolutierung des Wertes Freiheit spricht auch der simple Umstand, daß Freiheit kein reines Vergnügen ist: Für die durchaus freiheitsliebenden Menschen von SensoNet beläuft sich das Verhältnis zwischen Lust und Last in Sachen Freiheit im Schnitt auf 63:37, und selbst die idealen Lebensgestalter haben kein völlig ungetrübtes Verhältnis zur Freiheit, der Anteil Last daran liegt im Ideal mit 29% nur unwesentlich tiefer als bei den realen Menschen.

Hannah Arendt hat prophetisch schon in den vierziger Jahren von der "Tyrannei der Möglichkeiten" gesprochen. Wenn wir vor dem Regal mit Zahnpasta stehen, sind wir nicht nur zu einer Entscheidung zwischen zwei Dutzend Möglichkeiten gezwungen, wir erleben zwangsläufig auch den Frust darüber, daß wir, wenn wir uns für eine Marke entschieden haben, für die nächsten paar Wochen auf die anderen 23 Marken verzichten müssen. Es geht bei der Tyrannei der Möglichkeiten also nicht nur um den Zwang zur Wahl, die bekanntlich eine Qual sein kann, sondern um auch den stetig bohrenden Zweifel an der Richtigkeit unserer Entscheidung (wäre die andere Wahl nicht doch besser gewesen ?).

Das alles wäre ja noch zu verkraften, solange wir uns nur zwischen verschiedenen Zahnpasta-Tuben zu entscheiden hätten. Doch das Leben des modernen Menschen ist zu einer ununterbrochenen Kette von freien Entscheidungen geworden, die jeden Bereich der Existenz betreffen. Und dabei wirkt ein ehernes Gesetz: Jeder Zuwachs an Freiheit ist zwangsläufig mit einem Abbau an Orientierung, an Halt und Sicherheit verbunden.

Freiheit ist nicht ohne Nebenwirkungen zu haben. Insgesamt fällt die Bilanz der Menschen von SensoNet ja dennoch positiv aus, und in der Projektion auf das Idealbild der Lebensgestalter zeigt sich die Hoffnung darauf, mit den Schattenseiten von Freiheit, also vor allem mit dem damit einhergehenden Verlust von Sicherheit, noch cooler umzugehen.

Im Abstand zwischen Ideal- und Selbstbild zeigt sich andererseits die realistische Einsicht, daß es dafür Zeit braucht. Solange wir mitten in einem so rasanten Veränderungsprozeß stecken (Sie erinnern sich an die enorme Zunahme des Freiheits-Indexes über nur zwei Generationen), verursacht die Zunahme von Freiheit auch Streß.

Und genau dieser Streß äußert sich nicht nur in diversen gehäuft auftretenden physischen und psychischen Krankheitsbildern, er ist auch der Grund für die Kratzer am Idealbild der Lebensgestalter, an dessen grundsätzlicher Attraktivität ja kein Zweifel besteht.

 m Gespräch mit meiner Liebsten kam sie auf einen überzeugenden Vergleich: die "Ostalgie", die sich im bösen Vorwurf verdichtet "kaum haben sie die Freiheit, sehnen sie sich nach ihrem alten Mief zurück". Wenn sich der ideologische Pulverdampf des kalten Krieges, der nach wie vor unsere Wahrnehmung vernebelt, einmal endgültig gelichtet haben wird, wird es uns nicht mehr schwer fallen, die Spiegelbildlichkeit einer Epoche wahrzunehmen: Es gab auch in der sozialdemokratisch-kapitalistischen Spielart der Nachkriegsjahrzehnte ein starkes Element von für selbstverständlich gehaltenen Sicherheiten: Als Staatsbeamter hat man ausgesorgt. Wenn man immer fleißig ist, kommt man vorwärts. Die eigenen Kinder werden es sicher besser haben.

Die Sicherheiten beiderseits des eisernen Vorhanges haben sich als trügerisch erwiesen, doch das Lebensgefühl von damals ist noch stark präsent. Ist es da sehr erstaunlich, wenn man sich in den rauhen Winden einer global liberalisierten Ökonomie nach den kuscheligen Verhältnissen jener Phase der Geschichte zurücksehnt, die sich im nachhinein leider als zu schön erwies, um auf Dauer wahr zu sein ?

Lebensgestalter, und das heißt in diesem Fall alle mit einer halbwegs ausreichenden Portion an gesundem Menschenverstand ausgerüsteten Zeitgenossen, wissen natürlich, daß diese nostalgisch verklärte Rückwärts-Sehnsucht allenfalls eine läßliche Sünde ist, auf keinen Fall aber ein taugliches Modell für die Zukunft. Die Sicherheit vergangener Tage ist nicht nur ein zweifelhaftes Ziel (wer wünschte sich schon ernsthaft die Zwänge der fünfziger Jahre zurück ?), sie ist vor allem ein unrealistisches Ziel. Vielleicht gerät ja in irgendeiner fernen Zukunft das globale Wirtschaftssystem wieder einmal in etwas ruhigeres Fahrwasser, doch für die nächste Zeit sind weitere massive Turbulenzen mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

In diesen Turbulenzen werden sich, daran besteht kein Zweifel, die idealen freien und eigenverantwortlichen Lebensgestalter am besten behaupten. Und sie werden am meisten von den erweiterten Freiheitsräumen profitieren. Es ist also ein ausgesprochener Akt von Klugheit, sich den Prototypen der Lebensgestalter als Identitäts-Leitbild zu erwählen.

Am leichtesten möglich ist das natürlich dann, wenn man es sich leisten kann. Als ich zusammen mit meiner Liebsten daran rätselte, was denn ihren Bekanntenkreis von jenen SensoNet-Mitgliedern unterscheide, der die Sache mit den Lebensgestaltern skeptischer sieht, kamen wir auf eine plausible Hypothese: Ihre Freundinnen und Freunde sind alles Menschen, die es sich leisten können, Lebensgestalter nicht nur zu sein, sondern das auch voll und ganz zu genießen.

Leisten können sie sich das nicht einfach aus finanziellen Gründen, obwohl diese natürlich nicht unerheblich sind, sondern weil sie "arriviert" sind. Dieses Wort bedeutet nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Karriere im landläufigen Sinne oder den Besitz eines kleineren oder größeren Vermögens. Es bedeutet vielmehr im ursprünglichen Wortsinne ganz einfach "angekommen". Diese mit sich im reinen Lebensgestalterinnen und Lebensgestalter sind im unbegrenzten Meer der Möglichkeiten nicht schiffbrüchig geworden, sie sind vielmehr an ihrem Platz angekommen.

Dieser Platz bedeutet für jede(n) etwas anderes, und "angekommen" ist nicht mit Stillstand gleichzusetzen. Angekommen sein heißt vielmehr einfach, seinen Platz im Leben gefunden zu haben, materiell, beruflich, privat. Natürlich steigt die Wahrscheinlichkeit, in diesem Sinne arriviert zu sein, mit zunehmendem Alter, auch wenn es keinen zwingenden Zusammenhang gibt. Weil der Freundeskreis meiner Liebsten in der Regel schon etwas älter ist, erstaunt es deshalb weniger, dort fast ausschließlich "Arrivierte" zu finden, denen es leicht fällt, sich voll und ganz mit dem Konzept der Lebensgestalter zu identifizieren.

Der beschriebene "Freiheits-Streß" existiert mehr oder weniger ausgeprägt auch bei diesen arrivierten Lebensgestaltern, aber er ist logischerweise wesentlich schwächer als bei jenen, die noch nicht angekommen sind, sondern noch in der stürmischen See der Möglichkeiten manövrieren müssen.

Das ist nicht nur deswegen eine eher ungemütliche Lage, weil sie hohe Anforderungen stellt, sondern weil sie - bewußt oder nicht - immer auch die Möglichkeit des Scheiterns enthält. Natürlich wissen auch die arrivierten Lebensgestalter um die zunehmende Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern - und um die zunehmende Brüchigkeit der Grenzen dazwischen - aber sie sind weniger direkt davon betroffen als die weniger Arrivierten.

Verglichen mit den Zeiten trügerischer Sicherheit ist das Risiko heutiger Lebens- und Arbeits-Situationen gewaltig gestiegen - und es wird weiter steigen: Den Gewinnern winkt immer höherer Lohn, den Verlierern aber auch ein umso tieferer Fall. Und weil die Anforderungen immer höher geschraubt werden, schmilzt im selben Umfang die Gewißheit, auf jeden Fall zu den Gewinnern zu gehören.

Das macht Angst, und zwar umso mehr, als auch die Gewißheit weg ist, im Falle des Scheiterns würde einem eine wohlwollende Gesellschaft mit einem warmen sozialen Polster schon auffangen. Selbst wenn es die Möglichkeiten dazu noch gäbe, woran ernsthafte Zweifel erlaubt sind, so fehlte es doch am dazu nötigen Willen.

Solche Ängste, die in simplen Zahlen stecken, erhielten für mich während der Arbeit an dieser Studie ein Gesicht, als mir eine Bekannte von Gesprächen erzählte, die ihr Sohn im Kreise solcher junger Menschen führt, die sich selber auf der Seite der künftigen Gewinner sehen - oft genug mit gutem Grund - und sich bereits sicher sind, sie würden keinen Finger dafür rühren, irgendwelche "Sozialschmarotzer" mit durchzufüttern...

Kein Wunder also, daß in einem solchen Klima auch Ängste vor zunehmender sozialer Kälte gedeihen. Und genau solche Ängste sind es, die sich im gespaltenen Bild der Lebensgestalter äußern: Einerseits cooler Superman, andererseits kalter Einzelkämpfer, dem das Schicksal seiner Mitmenschen wurst ist. Wohlverstanden: Die Mehrheit von SensoNet sieht diese Gespaltenheit im Bild der Lebensgestalter nicht, für sie haben soziale Werte auch bei den Lebensgestaltern so viel Platz wie bei ihnen selbst.

Dennoch bleibt ein massiver Schatten, die Angst vor sozialer Kälte. Dabei brauchen wir jenen, die diese Ängste äußern, noch nicht einmal zu unterstellen, sie hielten die Lebensgestalter einfach für kaltschnäuzige Egoisten, denen es an jeglichem Willen fehle, etwas zu wärmenden sozialen Beziehungen beizutragen. Es muß keine Frage des Willens sein, es kann eine solche des Könnens sein.

Lebengestalter, die sich im zunehmend als brutal empfundenen Konkurrenzkampf behaupten wollen und müssen, so könnte dieses Bild aussehen, werden derart gefordert, daß ihnen für die Pflege menschlicher Beziehungen schlicht und einfach die nötige Zeit und Energie fehlt. Wer ständig mobil sein muß und flexibel, wer ständig dazulernen muß, der ist damit nicht nur ausgelastet, sondern vermutlich überlastet. Aus dieser Optik betrachtet führt das Konzept "Lebensgestalter" also fast zwangsläufig zu zunehmender sozialer Kälte, zu einer ungemütlicheren Welt.

Wenn man Lebensgestalter so sieht, können sie nicht zum Identitäts-Leitbild taugen: Sie sind zwar partiell durchaus ein Vorbild, nämlich überall dort, wo es darum geht, das Leben in Freiheit und Eigenverantwortung zu bestehen, aber man möchte nicht werden wie sie, wenn es darum geht, den befürchteten Preis dafür zu zahlen, der in einer Tendenz zum Isolationismus besteht. Man hätte also zwar gerne die guten Eigenschaften von Lebensgestaltern, aber nicht auf Kosten der menschlichen Werte, die einem ebenso wichtig sind wie jene eines selbstbestimmten Lebens.

Diese dunkleren Flecken in einem ansonsten makellosen Leitbild sind gewichtig genug, um ernst genommen zu werden. Sie widerspiegeln verbreitete Ängste und ein zunehmendes Unbehagen an einer als zu einseitig empfundenen Betonung individualistischer Werte. Die Augen nicht nur vor diesen Ängsten zu verschließen, sondern auch vor ihren realen Ursachen, könnte zu einem bösen und jähen Erwachen führen. Die Figur des Narren aus dem Tarot, der ein fröhlich Liedchen pfeifend seinen Weg sucht und findet, ohne nach links und rechts zu schauen, kann kein tragfähiges Leitbild sein.

Wenn auch nur wenige Menschen ein Leitbild wie jenes der Lebensgestalter nicht als für sie rundum taugliches Identitäts-Leitbild akzeptieren können - und das ist der Fall - taugt es nicht zum universell gültigen Leitbild. Das war, unter uns, auch nicht zu erwarten, denn wo soll es in einer zersplitterten Gesellschaft überhaupt etwas universell Gültiges und Taugliches geben ? Insofern können wir das Ausrufezeichen im Titel dieses Büchleins getrost entsorgen.

Damit bleibt das Fragezeichen und mit ihm die Aufforderung, noch etwas damit zu warten, nach dem Verzicht auf den Status eines universellen Identitäts-Leitbildes für das 21. Jahrhundert gleich den ganzen Begriff "Lebensgestalter" wegzuschmeißen. Dazu besteht definitiv kein Anlaß, zu zukunftsträchtig sind die mit ihm verbundenen Werte rund um Freiheit und Eigenverantwortung, die ja die mitmenschlichen und sozialen Werte mitnichten zwangsläufig ausschließen, sondern im Gegenteil in sehr vielen Fällen miteinschließen.

Es bleibt eine letzte, aber entscheidende Frage: Brauchen wir überhaupt Leitbilder ? Mein Eindruck aus der Fülle des Materials dieser kleinen Studie lautet: Ja, aber nur partiell, wenn es um einzelne Lebensbereiche geht. Dort, wo wir unsere ureigene und unverwechselbare Identität aus den verschiedensten Bruchstücken immer wieder neu zusammenbasteln müssen, machen Leitbilder nicht nur keinen Sinn, es gibt sie schlicht auch gar nicht. Leitbilder ja, Identitäts-Leitbilder nein - das gilt auch für das Leitbild Lebensgestalter.

So haben wir denn zu guter Letzt wieder kein umfassendes Leitbild gefunden, sondern werden zurückgeworfen (oder müßte es heißen "vorwärtsgeworfen" ?) auf jene Fragen des alten Pico della Mirandola, die niemand außer uns selbst je wird beantworten können:

 Was soll ich mit mir tun ? Wie soll ich mein Leben gestalten ?

 

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