Gigerheimat: Worte
Notizen zur Finanzkrise
Notizen zur Finanzkrise:

Kosmisches Gelächter

oder

Warum

Bewusstseins-Evolution

Not tut

Mir träumte, ich sei auf einem Planeten irgendwo im All gelandet, auf dem Lebewesen wohnten, die uns an Intelligenz, oder besser Bewusstsein, weit voraus sind. So weit, dass das, was die Klügsten unter uns Menschen gerade noch begreifen können, dort Lehrinhalt der ersten Klasse ist.

In meinem Traum hatte ich Gelegenheit, als Gast an einem Grundkurs über „Bewusstseins-Evolution“ teilzunehmen und dabei auch Fragen zur aktuellen irdischen Finanzkrise zu stellen, über die bereits die Kleinen erstaunlich gut informiert waren. Man zapfte nämlich auf jenem Planeten alle Daten der Erde an, um in einer Art kosmischer Reality-Soap die Evolution von Bewusstsein in einem frühen Stadium zum eigenen Amüsement mitverfolgen zu können...

Natürlich wollte ich als erstes wissen, wer oder was denn nun wirklich schuld an der Finanzkrise sei. Die Antwort eines Dreikäsehochs kam postwendend und unmissverständlich: »Das unterentwickelte kollektive Bewusstsein!«

Ich muss wohl ziemlich unterentwickelt drein geschaut haben, denn jetzt griff die Lehrerin ein: »Du hast natürlich Recht, und wir alle wissen, wovon Du sprichst, aber unserem Gast sollten wir doch noch etwas genauer erklären, was unterentwickeltes Bewusstsein meint. Wer mag anfangen?«

Eines dieser kleinen klugen Geschöpfe, vermutlich weiblichen Geschlechts, trat vor und hub an: »Ihr hattet doch auf der Erde dieses weise Gedicht eines weisen Mannes namens Goethe über den Zauberlehrling, der seinem Meister den Zauberspruch für den Wasser schleppenden Besen abluchste und ihn prompt ausprobieren musste. Dummerweise kannte er nur den Knopf für AN, nicht aber jenen für AUS, was ihn in echte Schwulitäten brachte. Und genau das ist bei der Finanzkrise passiert. Da dachten ein paar Schlaumeier, sie hätten die Zauberformel für unerschöpflich sprudelnde Finanzquellen gefunden, doch sie vergaßen darob ganz, eine Tür für den Ausstieg offen zu halten, weshalb sie jetzt den Bach runter gespült worden sind.«

Eine andere Stimme verschaffte sich Gehör: »Völlig kurzfristig zu denken, nie vorausschauend die Konsequenzen des eigenen Tuns zu bedenken, maßlos zu sein in seinen Ansprüchen, keine Grenzen zu akzeptieren - all das nennen wir Pubertät. Man muss sich den Zauberlehrling als pubertierenden Jüngling vorstellen. Und so hat sich das irdische kollektive Bewusstsein vor und während der Finanzkrise gezeigt: pubertierend. Und damit unterentwickelt.«

Auf einen mahnenden Blick der Lehrerein hin wandte sich die Sprecherin direkt an mich: »Das mag für Dich jetzt hart klingen, aber wir sind uns hier offene Worte gewohnt. Und ich nehme an, dass Du sehr wohl unterscheiden kannst. Wir reden hier vom kollektiven Bewusstsein, nicht vom individuellen, und wissen dabei sehr wohl um die Unterschiede zwischen beidem. Hier aber geht es um eine Diagnose des Ganzen, und das kollektive Bewusstsein hat sich wirklich pubertär verhalten.«

Ich konnte nur nicken und weiter zuhören.

Obwohl es jetzt einen Moment lang still war, ehe die Lehrerin einen Anstoß gab: »War da nicht noch die Sache mit den Werten?« Jetzt sprudelten die Beiträge nur so:

»Ach ja, in Eurem kollektiven Bewusstsein gibt es einen ziemlichen Knuddelmudel über die Bedeutung von Werten.  Ihr wisst zwar theoretisch, dass es zweierlei Werte gibt, materielle und immaterielle, und ihr verwendet sogar dasselbe Wort dafür, im Allgemeinen wohl wissend, wovon gerade die Rede ist: Ein Wertpapier ist keine philosophische Abhandlung, und Werte-Wandel ist kein Währungs-Umtausch. So weit, so gut. Nur habt Ihr Euch bei der Frage, welche Art von Werten den nun die wichtigere sei, heillos verrannt.«

»Ja«, mischte sich eine andere Stimme ein, »Ihr glaubt doch tatsächlich, im Zweifelsfall seien die materiellen Werte entscheidend, denn sie seien „the real thing“. Ihr sprecht zwar in Euren Unternehmen verstärkt wieder von „soft factors“, doch das klingt verdächtig nach „Softies“, und wer will das schon sein? Statt mit wolkigen immateriellen Werten beschäftigt sich ein echter Mann lieber mit harten Fakten, mit dem, worum es im Leben eben wirklich geht, also mit Geld. Und kaum weht ein raueres Lüftchen, wird nicht mehr in Werte investiert, es zählt nur noch der möglichst schnelle Return of Investment.«

Ich wandte schüchtern ein, im übertriebenen Materialismus eine Hauptursache für die Finanzkrise zu sehen, sei eine Idee, auf die man auch schon auf Erden gekommen sei. Nur wüsste niemand ein Rezept dagegen. Ob sie denn eines hätten?

Einsicht, lautete die übereinstimmende Antwort. Einsicht in die wahre Natur von Geld und Geist. Denn, nicht wahr, es müsste doch spätestens mit der Finanzkrise die Einsicht wachsen, dass Geld eben gerade nicht „the real thing“ sei, sondern ein reines Symbol und damit eindeutig zur geistigen Sphäre gehörig. Was sich nicht nur darin äußere, dass Geld größtenteils nur noch in Form von abstrakten Computerdaten existiert. Geldkreisläufe funktionierten zudem ja nur auf der Basis von Vertrauen, dass etwas so abstraktes und damit wertloses wie Geld dereinst wieder in reale Werte umgetauscht werden könne. Die Finanzkrise sei ja genau dann richtig in Fahrt gekommen, als sich die Banken gegenseitig nicht mehr vertrauten. Knapp sei nicht Geld gewesen, sondern Vertrauen, womit doch nun wirklich dem Letzten klar geworden sei, dass die Finanzwirtschaft – wie der ganze Rest von Wirtschaft und Gesellschaft – nur dank der Leitwährung Vertrauen funktionieren könne, wofür Geld bestenfalls ein Symbol sei. Und da Vertrauen ein rein geistiger Wert sei, wäre der Wettbewerb zwischen Geld und Geist um die Rolle des bedeutsameren Werts doch nun wirklich ein für allemal entschieden.

Die Kids hatten auf mich eingeredet wie auf einen kranken Gaul, und allmählich dämmerte einigen von ihnen die Komik der Situation, in der sie als kleine Kinder einem älteren Herrn mühsam etwas einzutrichtern versuchten, was sie längst begriffen hatten. Und so erhub sich ein zunächst noch verhaltenes Kichern.

Die Lehrerin versuchte, die Diskussion wieder in geordnete Bahnen zu lenken: »Könnte jemand unserem Gast noch etwas über die Finanzkrise als Ausdruck eines suboptimalen Umgangs mit komplexen Systemen erzählen?«

Auch jetzt waren die kleinen Stöpsel um substanzielle Beiträge nicht verlegen: »Da haben wir noch einmal den Zauberlehrling. Mit dem globalen Finanzsystem hat die Menschheit etwas von so hoher Komplexität geschaffen, dass sie damit nicht mehr umgehen kann. Niemand hat mehr wirklich den Durch- und Überblick, geschweige denn, dass jemand noch die Kontrolle hätte. Das Monster hat sich verselbständigt.«

»Das lernt die Menschheit gerade am Beispiel des Finanzsystems: Komplexe Systeme lassen sich kaum verstehen. Und schon gar nicht steuern. Was Ihr braucht, ist ein neuer Umgang mit Komplexität. Mit Eurem jetzigen vorherrschenden Betriebssystem und mit Euren jetzigen Denkwerkzeugen geht das nicht, auch wenn Ihr Euch verzweifelt bemüht, der neuen Komplexität mit traditionellen Instrumenten beizukommen, etwa mit „Komplexitäts-Management“. Wenn ich nur schon das Wort höre! Man kann Komplexität so wenig managen wie Beziehungen...«

Auf meine Frage hin, worin denn die Alternative bestünde, meinte die Klasse achselzuckend, das ließe sich mir so schnell schlicht nicht beibringen. Es hätte aber etwas mit einer Mischung aus rationalem Denken in Wahrscheinlichkeiten und aus einem intensiveren Gebrauch der intuitiven Fähigkeiten zu tun. Vor allem aber seien im Umgang mit Komplexität Tugenden gefragt, die bei den Finanzhaien nur Verachtung genossen hätten: Bescheidenheit und Demut.

Als ich nachfragte, ob die Lösung der Finanzkrise also nur in einem neuen Denken zu finden sein könne, antwortete diesmal die Lehrerin selbst: »Sicher braucht es ein neues Denken. Nur: Man kann nicht einfach ein neues Denken an die Stelle des alten setzen, es gibt keine geeigneten Entsorgungsplätze für altes Denken, und so gibt es auch keine Revolution des Denkens, „nur“ eine Evolution. Doch das allein genügt nicht, denn Denken ist nur ein Teil unseres Bewusstseins. Dazu gehören auch Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Werte, Fragen nach Identität, Orientierung und Sinn. Bewusstsein umfasst in unserem Sinne alles, worüber wir mit uns selbst und mit anderen reden können. Es geht um ein unteilbares Ganzes, und es geht um Evolution.«

Sie sah, dass mir der Kopf schwirrte, und beendete deshalb zunächst ihre Ausführungen. Die heitere Stimmung in der Klasse war mittlerweile angeschwollen, dieweil meine Begriffsstutzigkeit, von der sie ja wussten, dass ich sie mit der ganzen Menschheit teilte,  auch einfach zu komisch war. Ich fragte trotzdem schüchtern nach, wie denn wohl ein kollektives Bewusstsein wie das irdische diese enorme Herausforderung an die eigene Lern- und Evolutionsfähigkeit meistern könne. Das kleine Mädchen, das sich offenbar am intensivsten mit dem Stoff beschäftigt hatte, antwortete mir:

»Auch das kollektive Bewusstsein ist ein zu komplexes System, als dass es irgendwo einen Hebel gäbe, mit dem man es aus den Angeln heben könnte. Und moralische Appelle dazu, was die Medien oder die Schule tun müssten, mögen richtig sein, bewirken werden sie wenig. Die Evolution des „kollektiven Gehirns“ kann nur von unten kommen, von den einzelnen Zellen also. Aus Leberzellen entsteht kein Gehirn, doch wenn es genügend Gehirnzellen gibt, und wenn sich diese ausreichend vernetzen, wird eins draus.«

Es ginge, so erläuterte mir die Lehrerin noch einmal den Sachverhalt, also darum, dass es genügend eigensinnige Menschen gäbe, welche die Evolution ihres eigenen Bewusstseins nicht nur zuließen, sondern aktiv förderten, und dass diese Menschen ihr dabei gewonnenes Wissen, das sie selbstverständlich immer nur als vorläufig betrachteten, in das allgemeine Geplauder darüber, worum es im Leben wirklich ginge, einbrächten. Selbstbewusst und bescheiden zugleich. Und immer mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, das sich bei Bedarf auch mal zu einem ausgewachsenen Lachen steigern könne.

Ob es denn eine Sicherheit gäbe, dass dieser Weg der irdischen Bewusstseins-Evolution auch wirklich funktionieren würde, fragte ich in das immer lauter aufkommende Gelächter der Klasse hinein. Das war selbst für die Lehrerein zuviel: »Sicherheit in der Evolution des Bewusstseins? Ein wahrhaft komischer Gedanke!«, prustete sie los und stimmte ein in das kosmische Gelächter jener fernen Wesen, die das alles, was uns an Bewusstseins-Evolution noch bevorsteht, schon hinter sich haben.

Es muss dieses kosmische Gelächter gewesen sein, das mich schließlich weckte.

© by Andreas Giger

27.10.2008

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