Gigers
Zukunfts-Essays (Beispiel von 1998)
Randerscheinungen
mit Zukunft
Die Zukunft ist stinklangweilig.
Na ja, das gilt nicht generell - was für einen professionell mit
Zukunft befaßten Denker und Schreiber auch eine eher seltsame
Aussage wäre - aber doch für einen Großteil des Angebots
unter diesem Titel:
Da hätten wir zunächst
das weite Feld der Prophezeiungen konkreter Ereignisse - vom Börsenkrach
über den Nachwuchs bei Hofe bis zum Meteroiteneinschlag. Die hohe
Zahl der Gläubigen, welche solche "Vorhersagen" für bare Münze
nehmen, zeugt von einem erschreckenden Mangel an mathematischer Bildung.
Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung läßt sich zwar
ziemlich genau vorhersagen, wieviel Menschen in diesem Jahr einen Haupttreffer
im Lotto landen oder vom Blitz erschlagen werden, aber wen es wann trifft,
liegt außerhalb des Vorhersehbaren. Die Wahrscheinlichkeit, daß
es Sie oder mich trifft, ist zwar in beiden Fällen äußerst
gering, ganz ausgeschlossen ist es nicht, doch niemand kann es voraussagen.
Wahrscheinlichkeiten sind das Gesetz der großen Zahl, über
das Einzelereignis sagen sie gar nichts. Zukunfts-"Prognosen" bar jeder
seriösen Grundlage sind jedoch schlicht langweilig.
Einzelereignisse haben auf dem
Marktplatz der Zukunftsbilder einen enormen Wettbewerbsvorteil: Sie
entsprechen den Bedürfnissen einer Gesellschaft, die süchtig
ist nach dem Spektakulären. Aufmerksamkeit erweckt, was neu daherkommt,
sensationell, nie dagewesen - auf jeden Fall ganz anders als das Gewohnte.
Dieser Nachfrage kann oder will sich auch die Zunft der Trendforscher
und Szenarienentwicklerinnen nicht verschließen, zumal das Erfolgsrezept
bewährt scheint: Nur wer die Zukunft in den spektakulärsten
Farben ausmalt, wird beachtet. Und weil die allgemeinen Entwicklungen
und Trends, um die es dabei geht, anders als Einzelereignisse weder
konkret faßbar noch spektakulär sind, muß wenigstens
deren Beschreibung spektakulär wirken, was zu einer Hyperinflation
von bunt schillernden Begriffen geführt hat, die bei näherer
Betrachtung so spektakulär sind wie von heißer Luft aufgeblasene
Seifenblasen: hübsch fürs Auge, aber substanzlos.
Spektakuläre Substanz hätte
eine zukünftige Entwicklung sicher dann, wenn sie das Leben einer
großen Anzahl von Menschen wesentlich und nachhaltig beeinflussen
würde. Dabei spielt der Zeithorizont natürlich eine wichtige
Rolle: Eine Entwicklung, die in den nächsten zwei Jahren kaum sichtbare
Auswirkungen hat, kann sich in zwanzig Jahren breitflächig durchgesetzt
haben.
Zwanzig Jahre aber übersteigt
für die meisten Menschen den Horizont jener Zukunft, mit der sie
sich häufig und intensiv beschäftigen: Zwei Jahre voraus gucken
die meisten noch häufiger, fünf Jahre nur noch manchmal -
und danach geht es rapide bergab. Dasselbe gilt selbst für große
Unternehmen: Für fünf Jahre voraus gibt es eine intensive
Planung, danach überläßt man das Feld den Visionären
und Spinnern.
Für diesen Zeitraum aber
kann kein seriöser Zukunftsforscher mit spektakulären neuen
und substanziellen Trends dienen. Das Leben der meisten Menschen wird
sich in den nächsten fünf Jahren durch neue Trends und Entwicklungen
nicht wesentlich verändern. Und das, was an "Neuem" einen gewissen
Einfluß haben wird, ist nicht neu, denn es gibt das alles bereits
und seine Auswirkungen lassen sich schon absehen, weil man auf die Erfahrungen
etlicher Jahre zurückblicken kann: Das Internet etwa ist seit 1991
ein öffentlich zugängliches Medium, und spätestens zwei
Jahre später konnte der aufmerksame Beobachter ein Gefühl
für die darin steckenden Potentiale entwickeln.
Auch bei einem anderen Topthema
des letzten Jahres, den Lifestyle-Pillen gegen Impotenz, Fettleibigkeit
oder Glatze, gibt es keinen spektakulären Neuigkeitswert: Immerhin
gibt es Proczac, das Antidepressivum, das zur Glückspille mutierte,
schon über zehn Jahre, und auch hier war es unschwer vorauszusehen,
daß das nur ein Anfang sein konnte.
Aus beiden Beispielen lernt sich
auch leicht, daß selbst die überzeugendsten Neuentwicklungen,
denen alle aufmerksamen Beobachter eine große Zukunft prophezeien,
ihre Zeit brauchen, um sich durchzusetzen. In beiden Fällen erfolgte
der Start ja mit völlig unausgereiften Produkten, und selbst in
Zeiten der Echtzeitkommunikation braucht eine Neuigkeit immer noch eine
ordentliche Verbreitungszeit. Selbst wenn sich hier und jetzt eine wirklich
überzeugende neue Entwicklung erstmals zeigen würde, hätte
sie sich in fünf Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht
so weit verbreitet, daß von einer substanziellen Wirkung im beschrieben
Sinne die Rede sein könnte.
Der langen Rede kurzer Sinn:
Die nächsten fünf Jahre lassen sich jetzt schon ziemlich genau
absehen (vom legendären Erdbeben in Tokyo, das immer dazwischen
funken kann, mal abgesehen), und sie werden wenig spektakulär Neues
bringen. Langeweile also auch hier.
Bevor Sie sich nun allerdings
enttäuscht von der Beschäftigung mit der Zukunft abwenden,
weil da nichts los ist, und sich ganz der lustvollen Ausgestaltung der
Gegenwart widmen, können Sie frohe Kunde vernehmen: Am 21. Dezember
2012 wird die Menschheit, die Erde, unser Sonnensystem oder das ganze
Universum (darüber sind sich die Gelehrten noch nicht ganz einig)
in einen höheren, mehrdimensionalen Zustand übergehen, den
niemand zu schildern vermag, von dem aber feststeht, daß er spektakulär
anders sein wird als alles, was wir kennen.
Für manche gar nicht dumme
Köpfe ist das bittersüßer Ernst. Für uns andere
möge es immerhin ein Hinweis darauf sein, daß die Zukunft
nicht in fünf Jahren aufhört. Und dann wird es durchaus richtig
spannend. Um diese Seiten der Zukunft zu entdecken und daraus nützliche
Konsequenzen zu ziehen, braucht es "nur" einen weiten Blick und einen
langen Atem.
Beides ist nicht automatisch
da. Die Reaktion der veröffentlichten Meinung auf zukunftsträchtige
Entwicklungen folgt vielmehr meistens einem ziemlich irrationalen Muster,
wie etwa am Beispiel des Internets schön zu sehen war und ist:
Erst wird einmal lange Zeit gar nichts wahrgenommen. Dann folgt die
Phase der Euphorie: Potentiale werden mit Realitäten verwechselt,
der Zeitfaktor wird völlig außer acht gelassen, das neue
Paradies scheint unmittelbar bevor zu stehen. Diese irrationalen Erwartungen
müssen enttäuscht werden, und jetzt schlägt das Pendel
zum Gegenpol aus: Plötzlich sieht man nur noch Probleme und Schwierigkeiten,
echte Potentiale werden übersehen, alles wird mies gemacht.
Extreme Pole sind für einen
anspruchsvollen Geist ein ungemütlicher Aufenthaltsort. Er wird
sich vielmehr immer fragen: Welche der heute erst als kleiner Bach sichtbaren
Entwicklungsströme haben eine realistische Chance, dereinst in
den Mainstream einzufließen ? Er weiß dabei, daß nicht
jeder Modefurz längerfristiges Entwicklungspotential hat, sondern
daß neue Entwicklungen einer Art evolutionärer Logik folgen
müssen, wenn sie sich durchsetzen wollen. Und er weiß nach
alter Väter Sitte, daß gut Ding Weile braucht.
Nun kann man sich natürlich
fragen, wozu es gut es sein soll, sich auf die Sache nach heutigen Randphänomenen
zu machen, die erst in zwanzig Jahren eine größere Bedeutung
haben werden. Einem Waldbauer, der heute die Schößlinge pflanzt,
die in hundert Jahren seinen Nachkommen der dritten oder vierten Generation
als Bäume dienen werden, käme die Frage unsinnig vor, für
ihn ist Denken in Kategorien eines wirklich langfristigen Investments
selbstverständlich.
Davon hätten sich auch die
Verantwortlichen bei IBM eine Scheibe abschneiden können, als Anfang
der Achtziger (vor knapp zwanzig Jahren also erst) die ersten PCs auf
den Markt kamen. Daß diese lächerlichen Holzkistchen massivste
Auswirkungen auf ihr Geschäft haben könnten, sah damals allerdings
niemand voraus. Als es dann unübersehbar wurde, glaubte man bei
IBM noch immer nicht richtig daran. Man produzierte zwar selber die
Kästchen, doch dafür ein eigenes Betriebssystem zu entwickeln,
schien sich nicht zu lohnen, ja nicht einmal, ein solches zu kaufen.
Die Übernahme eines zufällig vorhandenen ziemlich stümperhaften
Produkts in Lizenz von einer gewissen Microsoft, einer unbedeutenden
Softwareklitsche, genügte...
Zehn Jahre später wurde
das Internet öffentlich zugänglich. Die mittlerweile groß
gewordene Firma Microsoft belächelte das Ding und gab ihm keine
große Zukunft. Als man endlich sah, wohin das Ganze lief, mußte
die gesammelte brutale Marktmacht mobilisiert werden, um den abfahrenden
Zug nicht zu verpassen.
Vielen von uns ergeht als Einzelne
längst nicht anders als diesen großen Unternehmen: Um künftige
Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen, müssen wir längerfristig
voraussehen können, wo es in Zukunft Schnittstellen zwischen unseren
Fähigkeiten und der Marktnachfrage geben wird. Davon hängt
es auf jeder Ebene ab, ob wir aufs richtige Pferd setzen, das heißt,
ob unsere Investitionen richtig liegen oder in den Sand gesetzt werden.
Und wie bei jeder erfolgreichen Investitionskette ist der Anfang entscheidend,
der Moment, in dem wir das erste geforderte Gut einsetzen: unsere Aufmerksamkeit.
Wer langfristig erfolgreich in sein Leben oder sonstwohin investieren
will, braucht ein waches Gespür für "the shape oft things
to come", wie der Engländer unvergleichlich sagt...
Wer danach sucht, folgt am besten
der Strategie eines Botanikers auf der Suche nach möglichst vielfältigen
und vielversprechenden Biotopen: Sie blickt auf die Ränder. Das
mag schon wieder nach flauem Kompromiss klingen. Wer vor lauter Bäumen
den Wald nicht sieht, wird auch kein Auge für den Waldrand haben,
und wen es aus der Enge des Waldes hinaus zieht ins spektakuläre
Draußen, wird kaum am Waldrand Halt machen wollen. Doch nur, was
sich am Rande schon festgesetzt hat, kann in absehbarer Zeit ins Zentrum
vordringen. Was sich also an den Rändern ansiedelt, hat ein interessantes
Stadium im evolutionären Prozeß seiner Ausbreitung erreicht
und lohnt damit oft unser Augenmerk.
Die Randerscheinungen von heute
sind die Selbstverständlichkeiten von übermorgen - oder sie
könnten es wenigstens sein. Viele der Themen, die heute auf der
allgemeinen Agenda stehen, begannen vor einem für uns heutige durchaus
noch überblickbaren Zeitraum als Randerscheinungen: Die Ökobewegung
und das Internet, aber auch Selbsterfahrung und neue Kommunikationsformen.
Natürlich konnte niemand am Anfang im Detail voraussehen, was jeweils
daraus werden würde, doch gab es immer schon phantasiebegabte Köpfe,
die sich die daraus resultierenden Entwicklungen ausmalen konnten und
wollten. Weshalb sollte das heute anders sein ?
Auch Randerscheinungen der kulturell-gesellschaftlichen
Evolution habe verschiedene Entwicklungsstadien. Manche sitzen schon
in vielen Köpfen, doch es fehlt noch die öffentliche Aufmerksamkeit,
es mangelt an prägnanten Begriffen. Wenn beides da ist, zeigt sich
oft plötzlich, daß sich da im Verborgenen bereits etwas im
größeren Maßstab entwickelt hat. Heiße Kandidaten,
deren Entdeckung des schon Existierenden kurz bevorstehen dürfte,
sind beispielsweise eine intensivere Betonung des Wertes "Intelligenz"
in allen möglichen Feldern, oder die (Wieder-)Entdeckung des Prinzips
der Partnerschaft in allen denkbaren Beziehungsformen, zum Beispiel
im Verhältnis zwischen Anbieter und Verbraucher: Wer das als Anbieter
wirklich ernst nimmt, wird ungeahnte Potentiale wecken.
Andere Phänomene, die langfristig
beträchtliche Einflußpotentiale haben, sind heute selbst
bei der evolutionären Vorhut unserer Gesellschaft noch Randerscheinungen.
So gibt es beispielsweise erste Ansätze eines Gegentrends zur eingangs
erwähnten und sich immer noch ausbreitenden Sucht nach dem Spektakulären.
Sie äußern sich etwa in einer Sehnsucht nach Abkehr vom Mobilitätswahn,
in ersten Szenarien eines Tourismus, der statt auf Spektakuläres
auf die Differenzierung im Nahbereich setzt. "Nahlust statt Fernweh
!" wird noch auf absehbare Zeit hinaus keine Maxime sein, die mit dem
Donnergrollen einer Massenbewegung daher rauscht, aber langfristig steckt
Musik drin.
Den strategischen Planern bei
Microsoft sei derweil erhöhte Aufmerksamkeit für eine Randerscheinung
ans Herz gelegt, die mit der gerade erwähnten durchaus einen Zusammenhang
hat: Linux. Linux ist - erschrecken Sie nicht, ich verstehe auch nichts
davon - ein Betriebssystem für Computer. Und ?, werden Sie einwenden,
was ist daran spannend, wenn wieder mal eine Firma so verrückt
sein sollte, gegen Windows anzutreten ? Das Neue an Linux ist seine
Entstehungsgeschichte. 1991 begann ein junger Finne von damals 21 Jahren
in einer "Mischung aus Genialität und Größenwahn", wie
der SPIEGEL schrieb, eine eigene Version des zwar guten, aber teuren
Betriebssystems Unix zu schreiben. Da er schnell einsah, daß er
dieses Vorhaben nicht alleine zu einem guten Ende treiben konnte, erklärte
er seine Vorleistung zur "Open Source Software", machte also im Gegensatz
zur sonst üblichen, weil gewinnträchtigen Geheimhaltung der
Urcodes alles vollkommen transparent.
Verbunden war das mit der Bitte
an gleichgesinnte Programmbastler, sich doch da und dort ein Stückchen
des Betriebssystems herauszugreifen und es zu verbessern. Und das funktionierte
bis heute. Tausende von Enthusiasten basteln so völlig unorganisiert
an der Optimierung, meist gratis, weil es ihnen ein Herzensanliegen
ist. Und wie ihr großer Guru träumen sie dabei oft davon,
ihrer Leidenschaft mitten in der Landschaft, wenn auch mit ISDN-Anschluß,
frönen zu können - jenseits des Mobilitäts-Wahns.
Was als reine Randerscheinung
begann, beginnt zum ernsthaften Player zu werden. Und das alles mit
einer Form von chaotischer Selbstorganisation, die jedem ordentlichen
Unternehmen wie Microsoft, das ja bei aller Lockerung der Sitten immer
noch einer militärischen Truppe mit dem großen Strategen
ganz oben gleicht, den Schweiß auf die Stirne treiben muß,
einfach, weil etwas, das nach allen gängigen Regeln gar nicht funktionieren
kann, prächtig gedeiht.
Bei näherer Betrachtung
muß diese Form von vernetzter Intelligenz jedoch im Gegenteil
prächtig funktionieren: Sie zapft höchst effizient die besten
Ressourcen an, bleibt flexibel und lebendig und das alles bei geringem
Einsatz von Mitteln. Die evolutionäre Logik gebietet deshalb, daß
sich solche und ähnliche Formen der Organisation vernetzter Intelligenz
weiter verbreiten und auch die klassischen Organisationsformen tiefgreifend
beeinflussen werden - nicht sofort, aber mit Sicherheit. Warum etwa
sollten sich unsere bislang doch ziemlich primitiven Formen demokratischer
Willensbildung nicht nach ähnlichen Prinzipien weiter entwickeln
lassen ?
Was an den Rändern unseres
Gesichtsfeldes liegt, hat oft Mühe, zur bewußten Wahrnehmung
zu gelangen. Wir werden lernen müssen, unsere Sehschärfe auch
in den Randbereichen zu verbessern, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen,
daß die spannendsten Dinge unerkannt an uns vorbei rauschen.