Weltwoche-Special "
: Games, erschienen 4.11.99
Die
Welt als Spiel und Vorstellung
Ein Glasperlenspiel zur Zukunft
des Spielens
Von Andreas Giger
Die Biographie von Josef Knecht
hat man sich "etwa um das Jahr 2400 geschrieben zu denken". Sie erschien
tatsächlich im Jahr 1943 unter dem Titel "Das Glasperlenspiel".
Dessen Autor Hermann Hesse, immerhin Nobelpreisträger für
Literatur, war bereits über fünfzig, als er 1931 mit seinem
Spätwerk begann, und bis dato eher durch grüblerische und
tiefschürfende Werke aufgefallen. Was also mag Hesse, der auch
persönlich nicht gerade als Ausbund spielerischer Leichtigkeit
bekannt war, dazu bewogen haben, in den Mittelpunkt seiner grandiosen
Zukunftsschau aus der abgeklärten Weisheit der reiferen Jahre
in einem wunderschönen Tessiner Bergnest ausgerechnet ein Spiel
zu stellen ? Ist das Spiel das zentrale Thema der Zukunft ?
Prophetische Gaben jedenfalls
scheinen im "Glasperlenspiel" zu schlummern, worauf ein anderer Querkopf
in einem bereits Mitte der Achtziger Jahre geschriebenen brillanten
Essay verweist: Timothy Leary, berühmt-berüchtigt geworden
als LSD-Apostel beweist darin, dass die vielen Trips seinem Geist
nicht nachhaltig geschadet haben können, interpretiert er doch
das "Glasperlenspiel" als Vorwegnahme der digitalen Revolution. Und
es ist zusätzlich, was nun wiederum Leary damals noch nicht wissen
konnte, auch ein Modell des Internets.
Was ist denn nun dieses "mathematisch-musikalische
Geistspiel" ? In Learys Worten:
>Solve et coagule. Arrangiere
die Elemente, und du wirst ein Meister des Glasperlenspiels. Ich lasse
den Zufallsgenerator mein Gedankenspiel mischen und gebe die Karten
neu aus ! So wie es Hesse schilderte, lernten die Spieler des Glasperlenspiels
Dezimalzahlen, Musiknoten, Worte, Gedanken oder Bilder in Elemente
umzuwandeln, welche in endlosen Abakus-Kombinationen und rhythmischen
Fugen-Sequenzen zusammengefasst werden konnten. So war man in der
Lage, eine Meta-Sprache voller Klarheit, Reinheit und von höchster
Komplexität zu schöpfen. Es entstand so eine globale Sprache,
die sich auf Digitaleinheiten aufbaut. Das Spiel wird auch beschrieben
als "...ein Aneinanderreihen, Ordnen, Gruppieren und Gegeneinanderstellen
von konzentrierten Vorstellungen aus vielen Gebieten des Denkens und
der Künste. "Mit der Zeit, so schrieb Hesse, "... entwickelte
sich das Spiel zu einer Art universeller Sprache, mit welcher die
Spieler verschiedene Werte ausdrücken und miteinander verbinden
konnten."<
Die universelle Meta-Sprache ist
laut Leary die digitale, die es ja tatsächlich erlaubt, Zahlen,
Bilder, Klänge und Texte in dieselbe Sprache aus Nullen und Einsen
zu übersetzen und sie daraus wieder entstehen zu lassen. Und
mit dem Internet gibt es ein auch ein universelles Transport- und
Speichermittel für all diese Inhalte. Der riesige virtuelle Informationsraum
des Internet entspräche dann dem universellen Spielraum des Glasperlenspiels,
der sämtliche relevanten Wissensgebiete umfasst. Der Surfer wird
zum Glasperlenspieler.
Nun ja. Der normale Surfer bewegt
sich wohl kaum in jenen hohen geistigen Sphären, die Hesse dabei
vorschwebten: "Ein Spiel konnte zum Beispiel ausgehen von einer
gegebenen astronomischen Konfiguration, oder vom Thema einer Bachfuge
oder von einem Satz des Leibniz oder der Upanischaden und der Spieler
konnte von diesem Thema aus, je nach seiner Absicht und Begabung die
wach gerufene Leitidee entweder weiterführen und ausbauen oder
auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen in ihrem Ausdruck
bereichern. War der Anfänger etwa fähig, durch die Spielzeichen
Parallelen zwischen einer klassischen Musik und der Formel eines Naturgesetzes
her zustellen, so führte beim Könner und Meister das Spiel
vom Anfangsthema frei bis in unbegrenzte Kombinationen."
Mein Sohn jedenfalls, sechzehn
und begeisterter Surfer, könnte mit dieser Spielkonstellation
wohl wenig anfangen. Ersetzt man jedoch die astronomische Konfiguration
durch die Startaufstellung des letzten Formel-Eins-Rennens, die Bachfuge
durch den aktuellen lokalen Hip-Hop-Track, den Satz des Leibniz durch
die Spielregeln der Betaversion des neuen interaktiven Rollenspiels
und die Upanischaden durch das jüngste Werk von Stephen King,
sähe die Sache schon anders aus. Und mit derselben spielerischen
Leichtigkeit sucht er sich im Netz auch seine Informationen zur Berufswahl
zusammen.
Dieses Spiel ist allerdings ein
alter Hut: Jedes Säugetierkind lernt spielend, was es später
im Leben braucht. Im spielerischen Herumtollen werden Muskeln und
Gehirnbahnen trainiert. Das Spiel als Vorbereitung des Ernstfalls.
Und schon meine Katzen wissen zwischen beidem zu unterscheiden und
setzen ihre Krallen an meinen Händen oder Füssen beim Spielen
anders ein als im Ernstfall bei einer Maus. Kulturpessimisten, die
befürchten, die Video-Kids würden später im realen
Verkehr ebenso gesengt herum brettern wie in ihren virtuellen Autorennen
oder gar im wirklichen Leben ebenso schnell auf alles Verdächtigte
ballern wie auf ihren Bildschirmen, mögen in einigen pathologischen
Fällen recht haben -aber die gab es auch schon immer. Für
die grosse Mehrheit gilt, dass die lange evolutionäre Erfahrung
ein ziemlich robustes Unterscheidungsvermögen zwischen Spiel
und Wirklichkeit hervorgebracht hat.
Wobei sich immerhin hochgemute
spirituelle und religiöse Geister auch immer wieder ernsthaft
gefragt haben, ob es denn überhaupt eine Wirklichkeit jenseits
des Spiels gäbe, oder ob nicht die sogenannte Realität in
Wirklichkeit nichts anderes sei als das unschuldige Spiel einer in
sich versunkenen Gottheit.
Hienieden auf Erden dagegen wird
sehr wohl zwischen dem Ernst des Lebens und der Heiterkeit des Spiels
geschieden. Die gestrengen Herren auf den Topetagen etwa spielen wohl
pausenlos ihre Machtspiele, doch käme einer der ihren ernsthaft
auf die Idee, das Geschäftsleben spielerisch anzugehen, wäre
er schnell weg vom Fenster.
Wiewohl: Ausgehend von einigen
Inseln, in denen man sich ernstlich mit dem Wesen von Kreativität
und Innovation beschäftigt, beginnt sich langsam, aber stetig
die Einsicht durchzusetzen, man nähme so manches Thema dann am
meisten erst, wenn man sich spielerisch mit ihm auseinander setze.
Geistesgrössen wie Einstein stehen dafür als Kronzeugen:
So manche bahnbrechende Einsicht hat sich im Gedankenspiel entwickelt.
Das Gedankenspiel zählt zweifellos
zu den wichtigsten Errungenschaften des spezifisch menschlichen Geistes:
Erst die Fähigkeit, mit Gedanken wie "was wäre, wenn ...
?" herum zu spielen und sich schönere Zukünfte auszumalen,
hat den Menschen dazu befähigt, seine Zivilisation zu entwickeln.
Der Clou am Gedankenspiel ist
gerade seine Distanz zur Realität: In einer simulierten Wirklichkeit
kann man herum spielen, so viel man lustig ist, ohne die eigentliche
Wirklichkeit damit zu tangieren. Kein Wunder, entwickelt sich die
Simulation in vielen Wissenschaften neben der Messung und dem Experiment
immer mehr zum Königspfad zur Erkenntnis. Simulieren lassen sich
nämlich Phänomene und Entwicklungen, an deren experimentelle
Beobachtung in Wirklichkeit wegen faktischer oder ethischer Hindernisse
nicht zu denken wäre.
Die Simulation als wirksamste
Form des Lernens könnte sich auch ausserhalb der Wissenschaften
ausbreiten. Ich würde etwa jedem angehenden Kommunalpolitiker
- und ich war selber mal ein solcher - empfehlen, zu Beginn seiner
Karriere ein paar Tage lang intensiv eines meiner liebsten Computerspiele
zu spielen, nämlich SimCity. Danach hätten er oder sie begriffen,
wie eine Stadt funktioniert und wie man ihre Entwicklung subtil stimuliert.
Simulation ist auch das Wesen
des Rollenspiels. Meine Liebste engagiert sich stark für die
"Streitschule®", in der mit Hilfe von Rollenspielen gelernt wird,
Konflikte konstruktiver zu lösen. Und während dabei, wie
sie mir ernsthaft versichert, oft herzhaft gelacht wird, ist nicht
auszudenken, wie viele Tränen flössen, würden all diese
Spielchen draussen im Felde der Beziehungen geprobt statt drinnen
im geschützten Raum einer Gruppe. Das Spiel als Auffangbecken
für die Wirklichkeit.
Glücklicherweise nur phasenweise
spielt mein Sohn leidenschaftlich gerne interaktive Rollenspiele über
das Internet. Dabei schlüpft jeder Spieler in eine Rolle und
steuert diese Figur im virtuellen Spielraum, woraus sich eine gemeinsam
erlebte Spielhandlung ergibt, oft fast wie im richtigen Leben. Experten
sagen Spiele voraus, in denen hunderttausend Spielerinnen und Spieler
sich via ihre Avatare (virtuelle, nach Belieben gestaltbare Spielfiguren)
in einer virtuellen Stadt bewegen, die einer realen gleicht - nur
besser und schöner.
Droht, weil das Spiel attraktiver
wird als der Ernst, die endgültige Abwanderung in die immer perfekter
simulierten künstlichen Spielwelten ? Spiele hatten für
die Gefährdeten schon immer ein enormes Suchtpotential, doch
auch hier darf nicht von einer Minderheit auf den Normalfall geschlossen
werden: Wenn es an der Tür klingelt und ihn Freunde zur realen
Freizeitgestaltung abholen, schaltet mein Sohn seinen PC sehr schnell
aus.
Was mir bei der gelegentlichen
Beobachtung des Spielverhaltens meines Sohnes vor dem Bildschirm auffällt,
ist die Vorliebe für Rollenwechsel: heute der good guy, und morgen
das Gegenteil. Wenn das keine Einübung auf den Ernstfall der
Zukunft ist, in der die Fähigkeit, jederzeit rasch und problemlos
in eine neue Rolle zu schlüpfen, zum elementaren Überlebensgepäck
gehören wird. Und natürlich erlernt diese Generation im
Spiel auch die Struktur der dazu gehörigen Persönlichkeit,
die Einheitlichkeit, Gradlinigkeit und Konsequenz nicht mehr als oberste
Tugenden betrachtet, sondern sich bewusst ist, dass sie aus vielen
Teilpersönlichkeiten besteht, die je nach Situation unterschiedlich
zusammen wirken.
Auch dafür hat übrigens
Hermann Hesse schon das Spiel empfohlen. Im "Steppenwolf" trifft der
Held im "Magischen Theater" ("Nicht für jedermann. Nur für
Verrückte. Eintritt kostet den Verstand.") auf einen Meister,
der im mit Hilfe von Figuren, welche die Einzelpersönlichkeiten
darstellen und klein und handlich sind wie Schachfiguren, Unterricht
im Aufbau der Persönlichkeit erteilt: Nachdem diese einmal in
tausend Teilpersönlichkeiten zerfallen ist, kann man die Einzelteile
jederzeit beliebig wieder zusammenstellen und so eine unendliche Mannigfaltigkeit
des Lebensspiels erzielen.
Das Spiel, soviel hat unser kleines
Glasperlenspiel deutlich gemacht, hat seine wirkliche Zukunft vermutlich
noch vor sich. Das gilt auch für mich. Ich brauche jetzt eine
Runde von "Tetris", diesem Uraltveteranen der Computerspiele. Das
trainiert spielerisch meine Assoziationsfähigkeit und Reaktionsschnelligkeit.
Sage ich mir jedenfalls. Aber vielleicht gilt auch nur, was Oscar
Wilde einst anmerkte: "Je komplexer der Verstand, desto grösser
ist der Bedarf an einfachem Spiel."
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