Das Ende der Karriere
?
Weltwoche-Special
/ Essay zum Thema Karriere
Erschienen am 24. Februar
2000 unter dem Titel: "Wenn der Karren stecken bleibt"
>Sie wissen doch, dass die
Leute dazu neigen, die Dinge komplex zu beschreiben. Üblicherweise
verwirren sie sich damit selbst. Die Tatsachen sind aber furchtbar einfach.
Gute Führer geben einfache Botschaften und machen sie den Leuten
klar. Man braucht eine Menge Selbstvertrauen, um einfach zu sein. Selbstvertrauen
ist eine sehr wichtige Eigenschaft aller, die entscheiden. Und einfach
denkende Leute besitzen mehr Selbstvertrauen, mehr Führungskraft,
und sie sind schneller.<
Also sprach Jack Welsh, seines
Zeichens nicht nur oberster Boss von General Electric, sondern zusätzlich
meist genannter Kandidat, wenn es um den besten Manager der Welt geht
- und damit ein absolutes Vorbild für alle, die sich einen Top
Job auf oberster Führungsebene, verbunden mit viel Geld, Macht
und Prestige, als Karriereziel gesteckt haben. Falls Sie zufällig
dazu gehören sollten, verlassen Sie in Ihrem eigenen Interesse
bitte sofort diesen Essay: Das gegenüber Herrn Welsh möglicherweise
eine Spur komplexere Denken des Essayisten und Philosophen könnte
Ihre Karrierechancen schmälern, und als praktisches Vorbild dafür,
wie man reich und berühmt wird, taugt diese Berufsgattung auch
nur bedingt.
Stattdessen pflegen ihre Vertreter
lästigerweise an uralte, in vielen Kulturen angesammelte Lebensweisheiten
zu erinnern, wie etwa jene, man solle achtsam mit seinen Wünschen
sein, weil sie in Erfüllung gehen könnten: "... et respice
finem !" - und bedenke das Ende.
Wenn jemand am Anfang einer Karriere
steht, an dessen Ende er sich nichts anderes vorstellen kann als einen
Top Job ganz oben, im Geld zu schwimmen und bis ans Ende seiner Tage
glücklich zu sein, hört er oder sie solche Hinweise darauf,
das Ende könnte auch anders aussehen, natürlich ungern. Nichtsdestotrotz
gehört zu einer selbstkritischen Überprüfung der eigenen
Tauglichkeit für eine Top-Karriere auch die Frage, wie man wohl
damit umgehen würde, wenn die eigene Karriere früher endete
als geplant, ob man dann akzeptieren könne, wohl den Aufwand für
einen Spitzenrang getrieben zu haben, aber nur im Mittelfeld gelandet
zu sein, oder ob man den Rest seines Lebens verbittert und enttäuscht
bleiben müsse, weil man am eigenen Leib die Wahrheit des Bibelwortes
erfahren hat: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt."
Ein Auslaufmodell
?
Während es auf die Frage
nach dem möglichen Ende einer Karriere nur individuelle
Antworten geben kann, stellt sich die allgemein gültige Frage,
ob die Karriere als Modell und Lebenskonzept nicht bereits heute
oder jedenfalls in absehbarer Zukunft am Ende sei. Eine Antwort darauf
können wir nur erwarten, wenn wir eine weitere philosophische Tätigkeit
pflegen und uns fragen, was der Begriff der Karriere überhaupt
bedeutet und ob er in gewandelten Berufs- und Lebenszusammenhängen
noch Sinn macht.
Laut Wörterbuch ist die
Karriere nichts anderes als die berufliche Laufbahn; im allgemeinen
Gebrauch wird diese Bedeutung oft eingeengt auf Laufbahnen im Spitzenbereich.
Entscheidend ist dabei die Wahl des sprachlichen Bildes von der Lauf-Bahn.
Bahn, das erinnert an Geleise, und tatsächlich gibt es im einheimischen
Sprachgebrauch ein Wort, das nicht nur vom Klang her mit der Karriere
verbunden ist: das Karrengeleise.
Ein Karrengeleise entsteht -
dies als Hinweis für weniger Land-kundige StädterInnen - wenn
sich die Räder eines Karrens in den Boden eines nicht geteerten
und nicht befestigten Feldwegs eingraben und dabei bei häufigem
Gebrauch immer tiefere Rillen entstehen lassen. Das hat den Effekt,
dass ein Karren, dessen Räder in diesen Rillen laufen, kaum noch
daraus zu entfernen ist: Steckt man erst mal in einem Karrengeleise,
gibt es keine andere Möglichkeit, als ihm zu folgen - bis zum Ende,
bis zum Stillstand irgendwo unterwegs, oder, wenn es aufwärts geht,
bis die Kräfte nicht mehr reichen und der Wagen rückwärts
bergab rollt.
Ein solches Karrengeleise hat
Vor- und Nachteile: Es engt natürlich die eigene Bewegungsfreiheit
ein, entbindet aber andererseits von der Notwendigkeit, sich über
das Ziel oder den Weg dahin Gedanken zu machen. Es genügt, hat
man einmal "seine Laufbahn eingeschlagen", den Karren mit Anstrengung,
Fleiss, Ausdauer und Selbstdisziplin in den vorgegebenen Geleisen vorwärts
zu ziehen - eine Aufgabe, für die sich sture Tiere wie die Ochsen
hervorragend eignen.
Daraus ergibt sich dann eine
Karriere auf die Ochsentour. Und genau dieses Modell hatte der amerikanische
Journalist Walter Lippmann im Sinn, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts
die Karriere als einzig sinnvolles Lebensmodell pries, dem er höchste
moralische Qualitäten zu sprach. Statt sich von den Stürmen
des Lebens treiben zu lassen, so predigte er, gelte es, ein Ziel ins
Auge zu fassen und dieses dann konsequent, gradlinig und zielstrebig
auf einem klar vorgezeichneten Weg zu verfolgen, ohne nach links und
rechts zu schauen.
Das ging so lange gut, wie die
Rahmenbedingungen für das Modell funktionierten, das heisst, so
lange diese stabil blieben und damit eine verlässliche Planung
ermöglichten. Eine Karriere im Karrengeleise ist dann möglich,
wenn man fest damit rechnen kann, in seiner Firma so lange Stufe um
Stufe aufsteigen zu können, bis der Plafond der eigenen Potentiale
erreicht ist.
Das galt während einiger
Jahrzehnte, die wir im nachhinein als die glücklichen, wenn auch
naiven bezeichnen werden, für weite Teile der Wirtschaft, und noch
viel mehr für den Staat. Wenn mir in meinen Jugendjahren, als ich
mein Taschengeld mit dem Austragen von Zeitschriften verdiente, für
die noch persönlich kassiert werden musste, eine alte Frau, die
in ziemlich primitiven Verhältnissen lebte, deren Sohn jedoch Chefarzt
geworden war, riet, doch unbedingt in den Staatsdienst zu gehen, dann
hatte sie zweifellos recht: War man dort, oder auch in einem grösseren
Unternehmen, erst einmal im Karrengeleise drin, dann konnte man mit
Sicherheit davon ausgehen, dass es auf sicherem Pfad vorangehen würde,
so lange die Kräfte reichten.
Diesem Modell wird jedoch mehr
und mehr die Geschäftsgrundlage entzogen. Die alten Gewissheiten
und Sicherheiten schwinden, die Karrengeleise werden zu Sümpfen,
in denen man leicht stecken bleiben oder unter gehen kann. Was früher
nur einigen wenigen hoch talentierten "Überfliegern" vorbehalten
war, nämlich tatsächlich über den ausgekarrten Geleisen
zu fliegen und sich so frei vorwärts zu bewegen, wird für
die meisten Karrierewilligen zur herausfordernden Pflicht. Die Karriere
klassischen Zuschnitts wird nicht so schnell ganz verschwinden, aber
sie ist ein Auslaufmodell.
Ungültige
Gleichungen
Sollen sich jene, die gerne und
leidenschaftlich eine Karriere auf Top-Level machen wollen, deswegen
grämen ? Sollen sie sich angesichts der Tatsache, dass in einer
totalfusionierten Wirtschaft nur noch wenige Jobs ganz oben zu haben
sind, auf ein stilles Leben in Bescheidenheit und Demut einrichten ?
Gemach, gemach. Es sind auch morgen noch Karrieren möglich, nur
werden viele anders aussehen als die klassischen.
Wobei man an manch einer klassischen
Karriere sehen kann, wie die wirklich Erfolg versprechende von morgen
aussehen könnte. Die Bilderbuch-Karrieren unserer Tage, von Bill
Gates bis zu Bodyshop-Gründerin Anita Roddrick, sind gerade nicht
von Leuten gemacht worden, die brav den vorgegebenen Karrengeleisen
folgten und Erfolg durch Anpassung erzielten. Vielmehr hatten diese
Menschen Erfolg, weil sie sich ausserhalb der gewohnten Lauf- (und Denk-)
bahnen bewegten und Dinge taten, von denen jedes Karrengeleise behauptet
hätte, die könne man nicht tun.
Sich möglichst gut an vorgegebene
Erfolgsregeln zu halten, mag in vielen Fällen auch weiterhin zum
Ziel führen, doch die Spielwiesen für jene, die eine gegenteilige
Strategie pflegen, werden immer grösser. Und ertragreicher. Denn
auch das grosse Geld ist längst nicht mehr nur auf der klassischen
geraden Karriereleiter zu machen. Die alte Gleichung, je grösser
die Führungsaufgaben, das heisst, je stärker die Bataillone,
über die man gebietet, desto höher das Einkommen, hat keinen
Anspruch auf Allgemeingültigkeit mehr: Wer verdient denn im Fussball
mehr - der Einzelkönner mit Teamqualität auf dem Platz oder
der Trainer am Spielfeldrand ? Eben, das Modell macht auch in der Wirtschaft
Schule.
Die Helden der modernen Internet-Ökonomie
haben vorgemacht, wie man heut zu Tage an die Millionen (oder gar Milliarden)
kommt: eine gute Idee haben, sie so weit realisieren, dass damit die
Phantasie auch von etwas begriffsstutzigeren Investoren angeregt wird,
und sie dann versilbern - eine Karriere, die bei unseren industriellen
Gründervätern wohl kaum als solche durch gegangen wäre...
Neue Karrieren
Die Idee von der Karriere als
Weg zum Erfolg ist nicht am Ende, aber ihr Inhalt wandelt sich gerade
von eindimensional zu mehrdimensional. Im Klartext: Wer heute (und noch
mehr morgen) Karriere machen will, ist nicht mehr auf ein einziges Karrieremodell
festgelegt, sie oder er kann und muss zwischen unterschiedlichen Strategien
wählen: Soll und will ich mich möglichst perfekt in eine vorgegebene
erstrebenswerte Rolle einfügen und so Erfolg haben, oder will ich
mir meine eigene Rolle in einem eigenen Stück schaffen ?
So klar ist die Alternative natürlich
nur auf dem Papier. Im richtigen Leben wird es der perfekte Anpasser
nie bis ganz nach oben bringen, und sture Eigensinnigkeit ohne Rücksicht
auf die Realitäten führt schnurstracks zur wenig attraktiven
Rolle des gescheiterten Genies - auch hier ist alles eine Frage des
Masses und der richtigen Mischung. Das gilt für das Individuum
wie für das Ganze: Eine blühende Wirtschaft und Gesellschaft
braucht sowohl Karrierewillige, die vorhandene Top-Jobs übernehmen
wollen, als auch solche, die sich ihre eigenen Top Jobs selber schaffen.
Mehrdimensionaler werden aber
nicht nur die Karrierewege, sondern auch die dazu gehörigen Antriebskräfte
und Motive. Zum Wunsch nach Geld, Macht oder Prestige gesellt sich immer
stärker die Lust daran, etwas Eigenes zu schaffen und dabei nicht
nur die gerade geforderten Fähigkeiten einbringen zu können,
sondern alle vorhandenen samt der daraus resultierenden unverwechselbaren
eigenen Kombination daraus.
In einer geschichtlichen Phase
des raschen und tief greifenden Wandels, in der sich alte Gewissheiten
und Sicherheiten auflösen, ist diese Orientierung an den eigenen
Stärken und Fähigkeiten vermutlich der sicherste Weg zum Erfolg.
Sie erlaubt es, nicht ein Ziel verfolgen zu müssen, das vielleicht
verschwunden ist, ehe man es erreicht hat, sondern bereits den Weg als
Ziel zu betrachten. Das macht geistig beweglicher und lockerer, beides
Eigenschaften, ohne die eine moderne Karriere kaum denkbar wäre.
Vordenken in
eigener Sache
Eine Leistungsgesellschaft braucht
ehrgeizige Menschen, die Karriere machen wollen. Nicht brauchen kann
sie dagegen Menschen, die eine Karriere machen, welche weder ihrem Können
noch ihrem Wollen entspricht. Das ist volkswirtschaftlich gesehen eine
Verschleuderung von Ressourcen und persönlich oft genug eine Tragödie.
Die Gefahr von beidem liesse sich deutlich reduzieren, wenn Karrrierewillige
aller Arten immer mal wieder eine Auszeit nähmen und bedächten,
was sie tun oder zu tun im Begriff sind.
Gelegentliches Vordenken in Sachen
eigener Karriere, Bedenken von möglichen Enden und Kurskorrekturen
nach Massgabe des inneren Massstabs: Das ist nicht "furchtbar einfach",
ist jedoch "schrötig, aber nötig" und sorgt insgesamt für
bessere Karrieren.
Ist das jetzt einfach genug,
Mister Welsh ?
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Internet
im Kopf
Weltwoche-Special: Internet
(18.05.2000)
Essay:
Das Netz der Netze ist ein Spiegel
unseres Gehirns
Was bloss macht Internet-Aktien
so sexy ? Warum erstrahlen Dollarzeichen in den Augen der Investoren,
wenn eine Firma auch nur entfernt mit dem Internet zu tun hat ? Eine
schlüssige Antwort auf diese Fragen hätte ernsthafte Chancen
auf den Nobelpreis für Ökonomie. Hier ist ein Vorschlag: Die
Gehirne der Investoren erkennen sich im Internet wieder, sind ob dieser
Ähnlichkeit entzückt und verlieben sich deshalb regelrecht.
Und Verliebte kennen bekanntlich kein Mass mehr...
Diese These ist nicht etwa das Ergebnis
eines leichten Frühlingsrausches. Obwohl viel Frühlingsrauschen
dabei war, als ich vor vierzehn Jahren einen englischen Dichter und
Denker von einer obskuren Konferenz in Konstanz zum Flughafen Kloten
chauffierte. Der Mann hiess Peter Russell, arbeitete als Berater unter
anderem von IBM und hatte ein Buch publiziert: "The Global Brain".
Dessen Kernaussage behauptete, die
Menschheit sei gerade daran, zu etwas qualitativ Neuem zusammen zu wachsen,
nämlich eben zu einer Art Welt umspannendem Gehirn. Diese Prognose
untermauerte Russell mit einer aus der Vergangenheit der Evolution abgeleiteten
Formel: Zehn Milliarden Atome ergeben ein reproduktionsfähiges
Eiweissmolekül. Wieder zehn Milliarden dieser Moleküle ergeben
eine lebende Zelle. Zehn Milliarden Gehirnzellen bilden ein Gehirn.
Also werden zehn Milliarden Menschen das Global Brain bilden.
Hinter dieser Formel steckt eine
mittlerweile kaum mehr bestrittene Tatsache: Bringt man eine ausreichend
hohe Zahl von Einzelelementen zusammen und vernetzt diese Elemente in
ausreichendem Mass, entsteht etwas qualitativ Neues, dessen Eigenschaften
sich nicht mehr ausschliesslich aus den Eigenschaften der Einzelteile
her leiten lassen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Das klang mitten in den Achtziger
Jahren, die sonst vorwiegend den Kult der Yuppies hervorgebracht hatten,
aufregend genug, zumal damals auch die "Gaia-Hypothese" heftig diskutiert
wurde, gemäss der die Erde ein einziges Lebewesen sei, höchst
komplex und vielfach vernetzt. Da erschien der Blick voraus in eine
Welt, in der es immer mehr Möglichkeiten zu Kommunikation und Vernetzung
zwischen den Menschen geben würde, woraus sich tatsächlich
ein grösseres Ganzes entwickeln könnte, nicht nur plausibel,
sondern auch hoffnungsfroh.
Wohlgemerkt: Die Erfindung des World
Wide Web lag damals noch Jahre voraus in der Zukunft. Es gab zwar erste
Online-Verbindungen zwischen den Computern, doch diese zu nutzen blieb
einigen wenigen Freaks vorbehalten, die den enormen Aufwand nicht scheuten,
sich in den ersten bescheidenen Anfängen eines elektronischen Netzes
zu bewegen. Es war schon eine Menge Phantasie nötig, sich auf dieser
Grundlage das blühende und rasant wachsende Internet unserer Tage
auszumalen.
Nun: Ein wirkliches globales Gehirn
ist aus dem Internet (noch) nicht geworden. Das mag auch daran liegen,
dass die Wissenschaften die durchschnittliche Anzahl Gehirnzellen in
einem menschlichen Kopf von den damals gehandelten zehn Milliarden in
der Zwischenzeit um den Faktor zehn nach oben korrigiert haben. Zehn
Milliarden Menschen war eine Zahl, die annähernd erreicht ist,
von hundert sind wir gottseidank noch weit entfernt. Dazu kommt, dass
auch die Sache mit der Vernetzung dieser Menschen noch längst nicht
so weit gediehen ist, wie es die Euphorie rund ums Internet gelegentlich
vor gaukelt: Die Hälfte der Menschheit hat noch nie in ihrem Leben
auch nur ein Telefongespräch geführt...
Schon gar nicht erreicht hat das
"Global Brain" die von Russell vorhergesagte spirituelle Dimension,
das Bewusstsein, vernetztes kleines Teil eines grossen Ganzen zu sein.
Auch im Internet kommt offenbar, frei nach Brecht, erst das Fressen
und dann der Geist, und so wird sich das Internet wohl erst einmal ökonomisch
austoben müssen, ehe seine durchaus darüber hinaus gehenden
Vernetzungspotentiale genutzt werden können.
In der Zwischenzeit kann der beobachtende
Blick wieder zurück schweifen zu jenem Organ, das der Vision vom
Global Brain als Vorbild diente: dem Gehirn. Wenn nämlich aus dem
Internet, also aus der massenhaften und effizienten Vernetzung vieler
einzelner Menschen, Gruppen und Institutionen sich eines Tages so etwas
wie ein umfassendes Gehirn bildet, dann, so lautet der logische Umkehrschluss,
funktioniert das Gehirn wie das Internet.
Nichts, was das menschliche Gehirn
sich jemals ausgedacht und mit der tatkräftigen Unterstützung
der eigenen Hände hat Wirklichkeit werden lassen, kann völlig
anders sein als das Gehirn selbst. Alles Geschaffene lässt Rückschlüsse
auf die Schöpferin oder den Schöpfer zu. Das gilt für
die Keule wie für die Kathedrale, beide spiegeln Muster, die im
menschlichen Gehirn angelegt sind.
Die längste Zeit seiner Geschichte
musste sich das menschliche Gehirn jedoch damit begnügen, eng limitierte
Teilbereiche seiner selbst in Form von technischen Erfindungen in der
Aussenwelt zu reproduzieren. Erst mit der Entdeckung und Nutzung der
Elektrizität wurde erstmals ein bedeutender Gesamtaspekt der Strukturen
und Funktionsweisen des Gehirns "draussen" abgebildet: Das Netz aus
Stromleitungen hatte Ähnlichkeit mit dem Geflecht der Nervenleitungen
im Gehirn.
Mit der Erfindung des Computers
brachte die Suche des menschlichen Gehirns nach ähnlichen Mustern
in der Welt der Technik noch wärmere Ergebnisse. Schliesslich konnte
eine Maschine hier das erste Mal das, worum es beim menschlichen Gehirn
geht: Informationen verarbeiten. Kein Wunder also, dass manches Forschergehirn
davon träumte, bald einmal einen Computer zu bauen, der sein menschliches
Vorbild nicht nur ein-, sondern auch überholen können würde.
Das Schlagwort von der künstlichen Intelligenz war geboren.
Ziemlich bald erwies es sich aber
auch als reine Anmassung. Auf der hektischen Suche nach künstlicher
Intelligenz hatte man eine elementare Voraussetzung vergessen: Bevor
man sich an künstliche Intelligenz wagen kann, muss man erst einmal
die natürliche verstehen. Und das ist bis heute nicht der Fall.
Die Wissenschaften rund ums Gehirn mögen zwar heute besser Gehirnzellen
zählen können als vor zehn Jahren, wirklich verstehen, wie
aus diesen als Einzelwesen ziemlich dummen Zellen Intelligenz, ja Bewusstsein
wird, tun sie noch immer nicht.
Immerhin gibt es durchaus Erkenntnisfortschritte,
und wenn sie "nur" aus einem besseren Verständnis davon bestehen,
wie das Gehirn sicher nicht funktioniert. Fest steht etwa, dass
das Gehirn nicht aufgebaut ist wie eine Armee oder ein traditionelles
Unternehmen, mit klaren Hierarchien und einem Big Boss an der Spitze,
der dem Rest sagt, wo es lang geht. Vielmehr arbeiten die einzelnen
Zellen und Zellverbände relativ autonom, schliessen sich aber bei
Bedarf zu höchst leistungsfähigen temporären Netzwerken
zusammen, um die Leitungen auch gleich wieder still zu legen, wenn sie
nicht mehr gebraucht werden.
Dieses hoch komplexe Netz wird nicht
zentral gesteuert, sondern funktioniert eher nach den Prinzipien der
Selbstorganisation - ohne dass wir diese Prinzipien bisher wirklich
verstünden. Selbstorganisierende Systeme erscheinen uns deshalb
reichlich chaotisch, ein Gräuel für jeden ordnungsliebenden
Chef, der davon überzeugt ist, ohne eine starke Hand würde
der Laden sofort auseinander fallen. Die Vorstellung, unser Gehirn sei
ein derart chaotisch organisiertes System, hat so für viele etwas
Erschreckendes: Wie kann das nur anständig funktionieren ?
Es kann, wie jeder Blick auf einen
Ameisenhaufen zeigt. Das einzelne Ameisengehirn ist winzig, ein paar
Milligramm Gehirnmasse können nicht sehr leistungsfähig sein.
Eine zentrale Steuerung der Aktivitäten gibt es nicht, die sogenannte
"Königin" ist in Wirklichkeit eine reine Gebärmaschine ohne
jede Befehlsgewalt. Und dennoch produziert so ein Ameisenvolk erstaunliche
Werke. Des Rätsels Lösung: Die einzelnen Ameisen sind untereinander
durch ein hochwirksames Kommunikationsnetz - in der Regel aus Duftmolekülen
bestehend - vernetzt. So erzeugen dumme Einzelteile kollektive Intelligenz.
Warum sollte dieses bewährte
Prinzip der Evolution also nicht auch im menschlichen Gehirn funktionieren
? Das Beeindruckendste an diesem vielleicht komplexesten Gebilde im
Universum ist ja nicht seine Grösse oder die schiere Zahl seiner
Einzelteile, also der Gehirnzellen, sonder die schier unvorstellbare
Zahl der Verbindungen zwischen diesen Zellen. Wie auch immer das im
Einzelnen gehen mag, fest steht, dass unsere Gehirne so Erstaunliches
leisten, weil sie hoch wirksame Kommunikationsnetze sind.
Wenn wir uns vorzustellen versuchen,
wie viel Information auf wie vielen Kanälen und verschlungenen
Pfaden dabei in welcher Geschwindigkeit ständig ausgetauscht wird,
erfasst uns rasch einmal ein leichtes Schwindelgefühl: Solche Dimensionen
vermögen wir mit unserem beschränkten Verstand schlicht nicht
zu fassen.
Dasselbe Gefühl kann einem
leicht ereilen, wenn man vor dem Bildschirm sitzt, einen Moment wartet,
bis die nächste Seite aus dem Internet herunter geladen ist, und
die Zeit nutzt, sich mal konkret vorzustellen, was dabei geschieht,
welche Datenpakete in den unendlichen Weiten des World Wide Web gerade
welchen Weg um den Globus nehmen und wie sie dann wieder zu einem Gesamtbild
zusammen gefügt werden. Das Ergebnis dieses Versuchs kann leicht
ein metaphysisches Gruseln sein.
Das sollte aber niemanden daran
hindern, weiter den Ähnlichkeiten zwischen dem Internet und dem
menschlichen Gehirn nach zu spüren. Die Lernpotentiale sind enorm:
Was sich draussen im Internet seit jetzt gerade mal ein paar Jährchen
abspielt, läuft in unseren Köpfen seit Jahrmillionen. Doch
weil es logisch paradox wäre, wenn etwas (das Gehirn) sich selber
vollständig erfassen und verstehen könnte, hatten wir bisher
Probleme damit zu verstehen, dass unser Gehirn ein Netzwerk ist und
als solches funktioniert. Erst jetzt, wo wir damit begonnen haben, dieses
innere Modell in Form des Internets in der Aussenwelt nach zu bilden,
können wir anfangen, das World Wide Web als Spiegelung des Internets
in unserem Kopf zu verstehen und damit sehr viel mehr als bisher über
unser Gehirn zu lernen.
Dabei ist, wie im Internet draussen,
die eigentliche Hardware nur von beschränktem Interesse. Ergiebiger
sind da schon die Software, vor allem aber die Contents, also die Inhalte.
Und genau hier zeichnet sich eine der spannendsten Entwicklungen rund
um das Internet an: Je mehr wir selbstverständlich in das Internet
eingebunden werden, desto stärker wird sich die Art unserer Gehirntätigkeit
in Richtung vernetztes Denken begeben.
Das gelernte Muster für unser
Denken ist alles andere als vernetzt. Da gibt es klare Kategorien und
Schubladen, wohlgeordnete Denkgebäude, Unterordnung unter eine
Leitidee. Diese Denkgebäude werden durch das Internet erodiert,
unterspült vom stetig anschwellenden Strom chaotischer Informationen,
die wir per Netz mit unseren Nachbarn ebenso wie mit Gleichgesinnten
am anderen Ende der Welt austauschen. Im Netz gibt es weder klare Kategorien
noch wohlgeordnete Strukturen: Als CompuServe, einer der ersten Online-Dienste,
die ersten Tore zum Internet öffnete, tat er dies nicht ohne eine
Warnung, die an die Zonengrenztafeln im geteilten Berlin erinnerte:
Achtung, Sie verlassen jetzt die geordnete und behütete Welt unseres
Dienstes und betreten die chaotische Wildnis des Internets !
In dieser Welt werden aus ordentlichen
Denkgebäuden wilde Gedankenflüsse mit einem weit verzweigten
Einzugsgebiet. Und eines Tages, wenn wir gelernt haben werden, souverän
auf diesen mäandernden Strömen zu navigieren, werden wir erkennen,
dass dies schon immer die Natur unseres Denkens war, der wir, vermutlich
nur aus mangelnder Einsicht, immer wieder ein einengendes Korsett aus
starren Regeln und Vorschriften über gestülpt haben. Denken
ist im Grunde gar nicht anders denkbar denn als vernetztes Denken -
und das lernen wir nirgendwo besser als im Internet. Wofür die
Faszination der Anleger für Internet-Aktien allerdings nur ein
erstes, fernes Wetterleuchten sein kann...
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