Die Erforschung der öffentlichen Meinung, auch Demoskopie genannt,
hat sich erfolgreich etabliert. So erfolgreich, dass sie darob vergessen
hat, gelegentlich mal die eigenen Grundlagen in Frage zu stellen. Im
Interesse ihrer eigenen gedeihlichen Weiterentwicklung sollte sie sich
dringend fragen, worum es eigentlich geht, meint
Andreas Giger
Man nehme eine möglichst repräsentative Stichprobe, stelle
den Ausgewählten einige standardisierte Fragen, und schon kennt
man die öffentliche Meinung. So einfach ist das, und so habe ich
es einst gelernt und praktiziert. Als ich mich dann nach längerer
Abwesenheit wieder diesem Feld zuwandte, schlichen sich erste Zweifel
an dieser Geschäftsgrundlage ein. Und weil Zweifel bekanntlich
den Erkenntnisfortschritt befördern, habe ich mich auf sie eingelassen.
Da war zunächst eine Irritation über das in der Meinungsforschung
so selbstverständlich gebrauchte Bild der "Stichprobe". Das Bild
stammt aus der Medizin, wo der Arzt mit einer Spritze eine Stichprobe
von Blut entnimmt, um es zu analysieren, in der stillschweigenden Annahme,
diese zufällige Auswahl zeige auch den Zustand des ganzen Bluts
verlässlich an. Müssen wir dieses eher blutige und mit Schmerzen
verbundene Bild wirklich zum Vorbild für die Demoskopie nehmen
?
Immerhin beruht das Modell der repräsentativen Stichprobe auf
einer mathematischen Grundlage, der Wahrscheinlichkeitstheorie. Umgesetzt
in ein wirksames Bild lautet sie: Wenn in einem undurchsichtigen Sack
viele schwarze und weiße Kugeln sind, kann man das Verhältnis
zwischen schwarz und weiß herausfinden, indem man genügend
oft in den Sack hinein greift und blind und zufällig eine Kugel
wählt und herausnimmt. Das Verhältnis zwischen herausgenommenen
schwarzen und weißen Kugeln entspricht dann - mit gewissen kleinen
Abweichungen - jenem der viel größeren Anzahl Kugeln im Sack.
Bei der öffentlichen Meinung entspricht der Sackinhalt der Gesamtbevölkerung,
die herausgenommenen Kugeln sind die ausgewählte Stichprobe, und
die Farben der Kugeln entsprechen bestimmten Meinungen.
Demokratisches Vor-Bild
Damit die ausgewählte Stichprobe repräsentativ ist, muss
im Prinzip jede und jeder Angehörige der Gesamtheit die gleiche
Chance haben, ausgewählt zu werden. Und dann zählt jede Meinung
gleich, um das gesamte Meinungsbild zu berechnen, genügt simple
Addition der Einzelstimmen.
Das klingt zu Recht vertraut: Es ist dasselbe Modell wie in der politischen
Demokratie. Dort gilt: ein Mensch - eine Stimme, und alle haben grundsätzlich
das Recht, ihre Stimme abzugeben. Wenn auch meistens nur, um die Frage
zu klären, wer in nächster Zeit die Regierungsgeschäfte
übernehmen darf. Anderswo geht es auch Sachfragen, und besonders
gepflegt wird diese Kultur der direkten Demokratie nach wie vor in der
Schweiz. Dort wird, um im Bild zu bleiben, regelmäßig der
ganze Sack ausgeleert, um das Verhältnis zwischen schwarzen und
weißen Kugeln zu ermitteln, was hier wörtlich mit Nein und
Ja übersetzt werden kann.
Das ist, wenn es um politische Entscheidungen geht, ein faires Verfahren,
ein besseres ist bisher nicht erfunden worden. Das mag der Grund sein,
warum es die Demoskopie unbesehen übernommen hat. Ihre - weitgehend
erfolgreichen - Anstrengungen gingen und gehen dahin, eine möglichst
direkte Simulation einer Volksabstimmung zu schaffen, weil es - angeblich
- nicht möglich ist, in größeren gesellschaftlichen
Gebilden jedesmal den ganzen Sack auszuleeren.
Eines wurde dabei übersehen: Bei der Erfassung der öffentlichen
Meinung kommt eine gute Umfrage einer Volksabstimmung gleich. Die Konsequenzen
sind jedoch höchst ungleich: Bei letzterer geht es um eine politische
Entscheidung, bei der Umfrage "nur" um ein möglichst exaktes Abbild
der öffentlichen Meinung. Umfrageergebnisse mögen in parlamentarischen
Demokratien politische Entscheidungen mehr oder weniger beeinflussen,
verbindlich sind sie nie.
Ein Mensch - eine Stimme ?
Dessen eingedenk öffnet sich der Blick auf eine zunächst
ketzerisch erscheinende Frage: Ist das Gesamtbild dessen, was wir öffentliche
Meinung nennen, wirklich jede Einzelmeinung gleich aussagekräftig,
gleich bedeutsam, gleich wichtig ? Zweifel sind bereits beim demokratischen
Vorbild dieses Modells angebracht: Bei den meisten Volksabstimmungen
in der Schweiz nutzt die Mehrheit ihr Stimmrecht nicht, aus welchen
Gründen auch immer. Es entscheidet also eine Minderheit, woran
aber niemand ernsthaft Anstoß nimmt.
In der Meinungsforschung dagegen wäre man - jedenfalls theoretisch
- mit einer solchen Beteiligung nie und nimmer zufrieden. Wie die Praxis
aussieht, ist wieder eine andere Geschichte, aber allein schon die Tatsache,
dass Probleme bei der Ausschöpfung von Stichproben schamhaft verschwiegen
werden müssen, weil sie dem hehren Ideal von Repräsentativität
widersprechen, spricht Bände.
Nichts gegen möglichst repräsentative Stichproben, wenn es
um Forschungsinhalte wie Zuschauerquoten, Marktanteile oder Mikrozensus
geht. Dort muss das Spiel mit den Kugeln aus dem Sack funktionieren.
Und dort funktioniert auch das Gleichheitsprinzip: Ein Zuschauer ist
ein Zuschauer.
Gilt auch: Meinung ist gleich Meinung ? Jede Diskussionsrunde belehrt
uns eines Besseren: Für das Gesamtbild der Meinungen einer solchen
Runde, wie es sich einem außenstehenden Beobachter präsentiert,
zählt kaum jede Meinung gleich, was nicht nur daran liegt, dass
es schweigsamere und redseligere Menschen gibt, sondern auch an unterschiedlichem
Interesse und Engagement, sowie an mehr oder weniger guten Möglichkeiten,
sich auszudrücken. In der Realität ist öffentliche Meinung
weit mehr als die Addition von lauter gleich gewichteten Einzelmeinungen.
Bewusstsein ist mehr als Meinung
Produziert unsere imaginierte Gesprächsrunde zusätzlich mehr
als Stammtischgewäsch, wird noch etwas klar: Meinungen sind längst
nicht alles, worum es dabei geht. Da kommen auch Werte und Überzeugungen
ins Spiel, da geht es um Interesse und Wissen, um Gefühle und Stimmungen,
um Lernen und Erfahrungen, um Sprache und Bilder. Kurzum: Da geht es
um alles, was menschliches Bewusstsein ausmacht.
Niemandem käme es im Falle eines Individuums in den Sinn, dessen
Bewusstsein auf seine Meinungen zu reduzieren. Wir wissen, dass zu menschlichem
Bewusstsein sehr viel mehr gehört als ein paar mehr der weniger
oberflächliche Meinungen. Manches davon ist vielmehr in der Tiefe
verborgen, lässt sich nur durch sanftes Locken an die Oberfläche
bringen.
Allgemeine Sichtbarkeit aber ist es, was im Begriff der öffentlichen
Meinung steckt. Wird auf dieser Sicht beharrt, übersieht man zwangsläufig
alle Aspekte des menschlichen Bewusstseins, die mehr sind als Meinung,
und die erst sichtbar werden, wenn man sie mit mehr Feingefühl
behandelt, als in einer simplen Ja-Nein-Frage steckt.
Diesen engen Tunnelblick auszuweiten, ist allerdings eine anspruchsvolle
Herausforderung. Schon das individuelle menschliche Bewusstsein steckt
voller Rätsel, wir sind weit davon entfernt, es zu verstehen. Wieviel
komplexer muss da ein Phänomen wie kollektives Bewusstsein sein
?
Kollektives Bewusstsein
Gibt es das überhaupt, kollektives Bewusstsein ? Nun, sein Gegenstück,
das kollektive Unbewusste, hat sich eingebürgert und ist weitgehend
akzeptiert. Da liegt es nahe, mit dem Gedanken zu spielen, es gäbe
auch so etwas wie ein kollektives Bewusstsein. Wie wir uns das vorzustellen
hätten ? Wir sind in der verzwickten Lage einer einzelnen Gehirnzelle,
die sich vorzustellen versucht, wie wohl das Gehirn als Ganzes funktioniere.
Sie kann sich darüber ihre eigenen Gedanken machen und sich mit
einigen anderen Zellen in der Nachbarschaft austauschen, sie kann sich
und ihre Umgebung beobachten - mehr als eine blässliche Ahnung
wird sie nie gewinnen.
Viel besser sind wir auch nicht dran, auch wenn wir einige ganz wirksame
Methoden für Erwerb, Speicherung und Austausch von Wissen entwickelt
haben. So bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns zum Modell
von kollektivem Bewusstsein jenes zu wählen, das wir wenigstens
ein bisschen kennen: das individuelle menschliche Bewusstsein, das wir
durch Selbstbeobachtung und im Austausch mit anderen kennen lernen können.
Dabei fällt rasch auf, wie unterschiedlich menschliches Bewusstsein
sein kann. Nehmen wir ein bescheidenes Beispiel aus dem Radsport: Dort
gibt es offensichtlich Rennfahrer, die sich im Hauptfeld wohl fühlen,
und solche, die lieber den Ausreißer spielen. Es braucht beide,
keine Rolle ist besser, doch wenn man herausfinden will, wie ein Ausreißer
tickt, fragt man besser ihn als einen aus dem Hauptfeld.
Spezialisierung
Das ist ein erster Hinweis für jene, die sich dem Phänomen
kollektives Bewusstsein differenzierter nähern möchten als
mit klassischer Meinungsforschung: Es gibt für jeden Aspekt des
kollektiven Bewusstseins Spezialisten, und die sind die besten Auskunftspersonen
dafür. Kluge Marktforscher haben sich das längst zu nutzen
gemacht und interessieren sich mehr für das, was die Kernkunden
einer Marke zu sagen haben, als für eine diffuse öffentliche
Meinung, in der auch Leute mitreden, die eigentlich gar nichts dazu
zu sagen haben.
Dass jemand etwas zu sagen hat, bedeutet zweierlei: Sie oder er kann
inhaltlich etwas beisteuern und ist in der Lage, das auch zu formulieren.
Für das Erste braucht es Interesse, für das zweite bestimmte
geistige Fähigkeiten. Wer etwas über einen bestimmten Aspekt
von kollektivem Bewusstsein wissen will, fragt also am besten solche
Leute und vergisst zunächst den Rest.
Auf unser Bild übertragen: Wer wissen will, wohin sich unsere
Gesellschaft entwickelt, zum Beispiel, welche Werte sie entwickelt,
fragt am besten die Ausreißer, jene, die sich für das Thema
interessieren und einschlägige Fragen beantworten wollen und können.
Das Hauptfeld folgt dann in gebührendem Abstand schon nach. Die
Ausreißer sind immer in der Minderheit, aber anders als in der
klassischen Meinungsforschung, wo sie als statistische Ausreißer
als Störfaktor gelten, stehen sie hier im Zentrum des Interesses.
Höhere Ebene
Indem wir eine klügere Auswahl unserer Gewährsleute treffen,
haben wir das Rätsel des kollektiven Bewusstseins allerdings noch
nicht gelöst. Wir müssen nämlich tatsächlich annehmen,
dass die Ansammlung vieler Einzelelemente, in unserem Fall von individuellen
"Bewusstseinen", und der intensive Austausch zwischen ihnen, zu einem
System höherer Ordnung führt, das sich so wenig aus den Eigenschaften
seiner Einzelelemente erklären lässt, wie sich das menschliche
Gehirn allein auf Grund der Eigenschaften einer Gehirnzelle begreifen
lässt. Das Ganze ist in einem solchen Fall tatsächlich mehr
als die Summe seiner Einzelteile.
Und es nimmt auf geheimnisvolle Weise Einfluss auf die einzelnen Elemente:
Haben Sie sich schon mal gefragt, woher ein einzelner Fisch oder Vogel
weiß, wie er sich in seinem Schwarm genau so einzuordnen hat,
dass die beste Formation des gesamten Schwarms entsteht ? Könnte
kollektives Bewusstsein nicht auch ein solcher Schwarm sein ? Und würde
das bedeuten, dass wir uns als Individuen, gleichsam unsichtbaren Kraftfeldern
folgend und nicht eigenem Willen oder blindem Zufall, in diesem Schwarm
einordnen, alle an ihrem Platz, manche vorn an der Spitze, viele im
Hauptfeld ? (was nicht heißen müsste, dass immer dieselben
vorne oder hinten wären...)
Holographische Fragen
Das sind vorderhand nur Fragen, aber sie könnten zu einem besseren
Verständnis von kollektivem Bewusstsein beitragen. Das gilt vielleicht
auch für ein Bild, das mir schon lange im Kopf herum spukt: Herkömmliche
Meinungsforschung arbeitet nach dem Prinzip von bedrucktem Papier: Das
Gesamtbild ist wertvoller als ein Ausschnitt, und je feiner der Raster,
desto besser das Bild. Was wäre aber, wenn kollektives Bewusstsein
sich viel besser mit dem Bild eines Hologramms erfassen ließe
?
Das Hologramm ist ein Bildträger, der mit einem bestimmten Licht
beleuchtet werden muss, um dann ein dreidimensionales Bild im Raum zu
erzeugen. Das Spannende daran: Wenn man den Bildträger in einzelne
Stücke zerbricht, wird trotzdem immer noch aus jedem Einzelstück
das Gesamtbild erzeugt, verschwommener zwar, aber deutlich sichtbar.
Wäre kollektives Bewusstsein so etwas wie ein Hologramm, dann
würde die Repräsentativiät der Stichprobe (d.h. die vollständige
Abdeckung der Gesamtheit) und die Anzahl der Befragten keine wesentliche
Rolle mehr spielen, entscheidender wäre dann die Qualität
des das Hologramms zum Leuchten bringenden Lichts - das entspricht der
Qualität der Fragen. Wenn dann noch eine Minimalzahl von Antwortenden
ein ausreichend großes Stück "Trägermaterial" bildet,
sind erhellende Abbilder des kollektiven Bewusstseins denkbar.
Das ist mehr als blasse Theorie. Es funktioniert in der Praxis - gerade
wenn es darum geht, jene Bilder zu erfassen, die sich das kollektive
Bewusstsein von der Zukunft macht (siehe SensoNet).
Ist das nicht Grund genug, sich eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs
dieses Ansatzes zu überlegen ? Was in der Praxis funktioniert,
obwohl es den gängigen Theorien widerspricht, und auch wenn die
neue Theorie noch in den Kinderschuhen steckt, müsste eigentlich
unser aller Interesse wecken.
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Text, © by Andreas Giger
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