Ohne Zukunft hat die Marktforschung
keine
Ein (noch) nicht gehaltener Vortrag vor einem
Marktforschungskongress
Sehr geehrte Damen und Herren
Hat die Marktforschung eine Zukunft ? So lautet
die Frage. Und die Antwort heisst Nein, - nun werden Sie doch
nicht gleich unruhig, es folgt ja noch etwas nach dem Komma - wenn
sie stehen bleibt.
Wo steht sie denn heute, die Marktforschung ? Meine
Antwort basiert zunächst auf etwas, was in der Marktforschung verpönt
ist, nämlich auf der Schilderung eines Einzelfalles, meines eigenen
Einzelfalles.
Das Telefon klingelt. Mein ISDN-Display zeigt
"Nr. unterdrückt". Das habe ich schon gerne, wenn jemand sich so
einschleichen muss. Eine soweit freundliche junge Frauenstimme fragt
an, ob sie ein kurzes Interview machen dürfe. Nun bin ich, im Gegensatz
etwa zu meiner Liebsten, die solche Ansinnen grundsätzlich ablehnt,
dieser Bitte gegenüber mehr als offen. Ich habe etliche Jahre lang
mein Brot in der Marktforschung verdient, und zwar aus Überzeugung,
und ich bin heute wieder gleichsam in einem evolutionären Seitenast
der Marktforschung tätig, also stelle ich mich auch gerne als Befragter
zur Verfügung.
Die Fragen betrafen meine Rauchgewohnheiten und
meinen Weichspülerkonsum und waren stinklangweilig. Als gerade
ein etwas interessanteres Produkt zur Sprache kam, nämlich Champagner,
begann der Computer der Interviewerin verrückt zu spielen. Erst
rief sie eine Aufseherin herbei und begann mit ihr, den Casus zu diskutieren
- ich geduldig am Hörer dabei. Dann hiess es, das Problem sei wohl
doch gravierender, sie würde in spätestens 20 Minuten aber
wieder anrufen, um das Interview zu beenden.
Kein Anruf kam, dafür etwa eine Stunde später
derjenige vom selben Institut, diesmal aber von einem Mann, der unbedingt
ein Interview mit mir machen wollte und nicht glauben konnte, dass ich
vor einer Stunde schon mal hatte dran glauben müssen. Ich konnte
es auch nicht glauben, zumal es sich immerhin um mein Lieblingsinstitut
handelte, konnte aber nicht anders, als den enttäuschten jungen
Mann höflich, aber bestimmt abzuwimmeln. Auch der Dame eines anderen
Instituts, die eine Woche später anrief, erging es nicht besser.
Ich hatte, um Klartext zu reden, die Schnauze gestrichen
voll davon, als Datenmelkkuh missbraucht zu werden - und erst noch von
inkompetenten Melkern. Nachdem sich meine erste Empörung gelegt
hatte, stellte ich fest, dass mehr im Spiel war als der Ärger über
Fehler und Pannen, die überall mal passieren können. Enttäuschte
Liebe war es. Es war bitter, den Geist spüren zu müssen, den
die heutige Marktforschung ausstrahlt, wie ich ihr in diesem wie in
anderen Beispielen begegnet war. Stures Abspulen von Routinen war das,
geprägt von Lustlosigkeit, keine Spur von Begeisterung oder Experimentierlust.
Erloschene Begeisterung
Welch ein Kontrast zur Stimmung vor etwa sechs Jahrzehnten,
als mitten im zweiten Weltkrieg die erste Marktforschungsgesellschaft
gegründet wurde. Viel Begeisterung ist da bis heute in den Protokollen
zu spüren, Aufbruchstimmung, der Wille zum Experiment. Träger
dieser Begeisterung waren Top-Shots der damaligen Wirtschaft. Würde
sich heute ein CEO persönlich mit Marktforschung beschäftigen,
käme dies einer mittleren Sensation gleich. Wohl hat sich die Marktforschung
als unentbehrliches Pflicht-Instrument etabliert, aber genau das ist
sie auch: eine wenig attraktive Notwendigkeit, Pflicht und nicht Kür.
Diese äussere Abwertung spiegelt sich intern
darin, dass die ursprüngliche Begeisterung erloschen ist. Das innere
Feuer ist spürbar abgekühlt, und das führt zu einer wenig
attraktiven Ausstrahlung: Marktforschung ist nicht mehr sexy.
Natürlich übertreibe ich um der Provokation
willen ein bisschen, und Ausnahmen gibt es wie überall auch in
der Marktforschung. Das ändert nichts an meiner ersten These: Die
Marktforschung steckt in einer nicht ungefährlichen evolutionären
Phase: Fest etabliert und dadurch etwas träge geworden.
Datenmelkkühe
Lassen Sie mich auf einige Aspekte dieser Diagnose
etwas vertiefter eingehen, denn aus Einsichten können Aussichten
wachsen...
Da wäre zunächst die Sache mit den Datenmelkkühen.
Ich habe diesen Begriff zum ersten mal gebraucht anno 1989, als ich
schon mal das Vergnügen hatte, mich mit der Zukunft der Marktforschung
zu beschäftigen. Herausgekommen ist dannzumal ein ganzes Buch,
die "IHA-Vision 2001", die eine damals noch weit weg liegende Zukunft
beschrieb, aus der mittlerweile auch schon wieder Vergangenheit geworden
ist.
Fragen Sie mich nicht, welche Prognosen von damals
sich bewahrheitet hätten und welche nicht. Es ging nicht um Prognosen,
sondern um Sensibilisierung für bestimmte Themen und Entwicklungen.
Diese Sensibilisierungsprozesse verliefen mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Wie meine Erfahrungen zeigen, gehört das Thema Datenmelkkühe
zu jenen, denen bis heute nicht genügend Beachtung geschenkt wird.
Mein Vorteil als aussen stehender Beobachter ist
es, dass ich bei der Analyse der Evolution der Marktforschung grössere
Zeiträume ins Auge fassen kann als jene, die mitten im Tagesgeschäft
stecken. Noch viele grössere Zeiträume im Auge haben die Autoren
von Science-Fiction-Romanen. Das ist für einen Zukunfts-Forscher
und -Philosophen wie mich eine sehr ergiebige Quelle, wenn es um Zukunftsbilder
geht: Wie hat man in der Vergangenheit die Zukunft gesehen ?
Der einzige Science-Fiction-Roman, der sich meines
Wissens mit dem Thema Marktforschung beschäftigt, wurde 1964 geschrieben
und immerhin so bekannt, dass ihn der berühmte Rainer Werner Fassbinder
1973 zu einem zweiteiligen Fernsehfilm verarbeitete. Daniel F. Galouye
heisst der Autor, "Welt am Draht" der Roman, der im Jahr 2034 spielt.
In dieser Welt hängen - man höre und staune
- ein Viertel aller Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der
Markt- und Meinungsforschung ab. Denn, wie es der Held des Romans einer
Verehrerin erklärt:
»Nun, sehen Sie,
Miss Ford, wir leben in einer komplizierten Gesellschaft, die es vorzieht,
dem Wettbewerb alle Risiken zu entziehen. Deshalb gibt es auch mehr
Meinungsforschungsinstitute als ein normaler Sterblicher zu zählen
vermag. Bevor wir ein Produkt auf den Markt bringen, wollen wir erfahren,
wer es kaufen wird, wie oft und was man dafür anlegen will; welche
Gründe für Bekenntnisse massgebend sind; welche Chancen Gouverneur
Stone hat, wiedergewählt zu werden; welche Waren besonders viel
verlangt werden; ob Tante Bessie in der nächsten Modesaison Blau
oder Rosa vorzieht.«
Ich war ein blutjunger Meinungsforscher, als ich
das Buch entdeckte, und im ersten Moment schien mir das eine paradiesische
Vorstellung - Teil des dominanten Wirtschaftszweiges zu sein ! Die Kehrseite
dieser Verhältnisse schildert der Autor allerdings ebenso plastisch.
Weil bei einer derartigen Nachfrage der Rohstoff "Befragte" zwangsläufig
knapp wird, das heisst, weil bald niemand mehr freiwillig Auskunft gibt,
muss die Bevölkerung per "Demoskopie-Gesetz" dazu gezwungen werden,
jedem "amtlich zugelassenen Test-Interviewer (ATI)" für Befragungen
zur Verfügung zu stehen - bei offiziellen Umfragen von Regierungsstellen
sogar mitten in privaten Anlässen. Weigerungen werden mit hohen
Bussen bestraft.
Das macht die ATI´s zwar zur mächtigsten
Gewerkschaft, jedoch auch zur unbeliebtesten Berufsgruppe, die allgemein
nur als "Schnüffler" bezeichnet wird. Diese Abneigung ist so stark,
dass aus ihr ein alternatives System erwächst, das die klassische
Markt- und Meinungsforschung mit einem Schlag überflüssig
macht. Doch so weit sind wir noch nicht.
Noch bietet die Karikatur, die ein sehr phantasiebegabter
Autor in einem sehr frühen Entwicklungsstadium der Marktforschung
als Endstadium der Evolution derselbigen entwickelte, genügend
Stoff zum Nachdenken. Auf den Begriff der Datenmelkkuh kam Herr Galouye
zwar nicht, wahrscheinlich lebt er nicht wie ich mitten in einer Kultur
der Milchwirtschaft, aber er beschreibt den Inhalt dieses Begriffs haargenau,
wenn er auf einem Fussweg von einer halben Stunde ein halbes Dutzend
mal zu seiner Meinung über alle möglichen belanglosen Themen
befragt wird.
So weit entfernt wie es die Jahreszahl glauben machen
könnte, sind wir von diesem Zustand nicht entfernt. Ein Demoskopie-Gesetz,
das die Beantwortung von Marktforschungsfragen zur staatsbürgerlichen
Pflicht macht, ist hingegen in unseren freiheitlichen Breitengraden
nicht zu erwarten. Damit stellt sich gebieterisch die Frage, was wäre,
wenn mein Beispiel Schule machen würde, wenn sich also immer mehr
Menschen weigern würden, bei Umfragen mitzumachen.
Nur ein Gedankenspiel, wie gesagt, wenn auch kein
gänzlich unrealistisches. Zunehmende Befragungsmüdigkeit
ist heute schon ein Phänomen, auch wenn dessen Ausmass zu den gut
gehüteten Geheimnissen der Marktforschung gehört.
Knappheit macht kreativ
Gesetzt den Fall also, Befragungsverweigerung würde
zum Massensport, so hätte das, ob Sie es glauben oder nicht, insgesamt
positive Auswirkungen. Diese kühne Aussage beruht auf einer
einfachen ökonomischen Gesetzmässigkeit: Solange eine Ressource
unbeschränkt und kostenlos sprudelt, geht man mit ihr unsorgfältig
und wenig kreativ um. Erst wenn sie knapp und kostbar wird, werden Kreativität
und Innovation mobilisiert.
Die Bereitschaft der Menschen, Interviews zu geben,
ist eine solche Ressource, denn diese Menschen geben Zeit und Aufmerksamkeit,
in der Regel ohne materielle Gegenleistung. Warum eigentlich ? Freundlichkeit
und Gutmütigkeit sind ohne Zweifel wichtige Motive, doch wenn sie
überstrapaziert werden, können sie leicht ins Gegenteil kippen,
wie mein Beispiel zeigt.
Wie wäre es stattdessen, den Interview-Partnern
auf der geistigen Ebene eine Gegenleistung zu bieten, etwa in Form von
interessanten, spannenden und anregenden Fragen ? Sie alle haben schon
Fernsehinterviews gesehen, in denen der oder die Befragte buchstäblich
erstrahlte, wenn eine solche Frage gestellt wurde; und für einen
Interviewer ist die Bemerkung "das ist aber mal eine gute Frage" das
höchste Lob. Umgekehrt weiss der Volksmund, den die Marktforschung
angeblich so gut kennt, genau: Eine dumme Frage verdient eine dumme
Antwort.
Als ich vor vielen Jahren eine Zeit lang beim Institut
für Demoskopie in Allensbach unter Frau Noelle-Neumann arbeitete,
lernte ich eine in der damaligen wie heutigen Marktforschungslandschaft
einzigartige Institution kennen und schätzen: In der sogenannten
Fragebogenkonferenz tat eine Handvoll Experten nichts anderes, als dumme
Fragen zu verhindern, also belanglose, missverständliche, manipulative
oder schlicht schlecht formulierte Fragen.
Das ist zwar löblich, doch nur die eine Seite
des Notwendigen, denn derselbe Prozess sollte nicht nur beim Institut
geschehen, sondern bereits beim Auftraggeber. Auch dort wäre noch
viel stärker danach zu fragen, worum es eigentlich geht, welche
Wissenslücken tatsächlich noch offen sind, was man auf keine
andere Weise als mit einer Marktbefragung heraus finden kann und mit
welchen Antworten man eigentlich was anfangen kann. Kurzum: Was wollen
wir eigentlich wissen ?
Solange die Ressource Auskunftsbereitschaft reichlich
sprudelt, macht man im Zweifelsfall halt eine weitere Umfrage. Fliesst
sie spärlicher, wird der Zwang, diese Methode selektiver und damit
sinnvoller einzusetzen, grösser. Es wird mehr Zeit und Gehirnschmalz
in die Auswahl von wirklich sinnvollen Fragen gesteckt, und das ist
gut so. Denn bei einer ebenso kritischen wie liebevollen Bestandesaufnahme
der heutigen Marktforschung lässt sich die Diagnose nicht vermeiden,
es werde viel zu wenig in die wichtigste Phase jeder Marktforschung
investiert, nämlich in den Entscheid, welche Fragen es wert
sind, gestellt zu werden.
Datenfixierung und Vergangenheitslastigkeit
In direktem Zusammenhang damit stehen zwei weitere
kritische Anmerkungen. Zum einen erscheint mir die Marktforschung nach
wie vor viel zu datenfixiert. Dass es zwischen Daten, Informationen
und Wissen substanzielle Unterschiede gibt, wird viel zu wenig reflektiert.
Obwohl eigentlich klar wäre, dass nur Markt-Wissen als hilfreiches
Entscheidungskriterium für Marketing-Entscheide taugt, konzentriert
man sich in der Marktforschung nach wie vor weitgehend auf das Sammeln
von möglichst vielen Daten, in der vagen Hoffnung, aus vielen Daten
würde irgendwie eines Tages schon Wissen.
Diese Hoffnung ist trügerisch. Vor lauter Bäumen
den Wald nicht zu sehen, ist auch in der Marktforschung ein bekanntes
Phänomen. Und dass vor etlichen Jahren das berüchtigte Ozonloch
erst mit grosser Verspätung entdeckt wurde, weil aus Zeitmangel
niemand die an sich vorhandenen Datenmengen analysieren konnte, ist
eine Geschichte, die sich in der Marktforschung sozusagen täglich
wiederholt.
Um Marktwissen zu schaffen, braucht es den Umweg
über die Sammlung grosser Datenmengen oft gar nicht, vielmehr liesse
sich Marktwissen in vielen Fällen mit etwas Phantasie auch direkt
anzapfen. Das geschieht in der qualitativen Marktforschung durchaus,
doch hat diese nach wie vor einen geringeren Stellenwert, weil sie "weiches"
Wissen produziert statt harte Fakten.
So verhält sich denn die Marktforschung wie
jener Betrunkene, der seinen Schlüssel nicht dort sucht, wo er
ihn verloren hat, sondern da, wo das Licht der Strassenlaterne hinfällt:
Man sucht dort, wo das Licht der bewährten Methoden hinfällt,
und sammelt Fakten und Daten. Was zu einem zweiten kritischen Phänomen
der heutigen Marktforschung führt: zu ihrer Vergangenheitslastigkeit.
Marktforschung ist, mit Verlaub gesagt, primär
Geschichtsschreibung, sie erzählt darüber, wie sich der Markt
in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit verhalten hat,
und wenn es hoch kommt, auch noch, warum. Das ist ehrbar und nötig,
aber es trägt zur Lustlosigkeit der Branche bei: Was vorbei ist,
ist vorbei, daran ändert auch die beste Geschichtsschreibung nicht.
Wirklich spannend jedoch ist das noch nicht Gewesene, die Zukunft, denn
da kann man noch etwas beeinflussen. Um die richtigen Entscheide fällen
zu können, braucht es Marktwissen - doch wer garantiert denn, dass
sich allfällige Lehren aus der Vergangenheit wirklich eins zu eins
auf die Zukunft übertragen lassen ?
Mehr Zukunft wagen, müsste also die Devise
der Marktforschungsbranche heissen, und das würde vor allem auch
bedeuten, weniger vergangenes Verhalten abzufragen als vielmehr die
Einschätzung unterschiedlicher Marktzukünfte. ªHalt !´,
werden da die Experten einwenden, ªdas stösst sehr schnell
an Grenzen. Viele Menschen verfügen nicht über das nötige
Interesse und Wissen und die erforderlichen Artikulations-fähigkeiten,
um sich fundiert zur Zukunft zu äussern !´
Wege aus der Repräsentativitäts-Falle
Einspruch stattgegeben. Für repräsentative
Bevölkerungsumfragen, gar noch am Telefon, eignet sich das Thema
Zukunft nur bedingt, auch wenn ich das Gefühl habe, das Volk würde
auch von den Marktforschern manchmal gewaltig unterschätzt. Nur
spricht für mich das Argument weniger gegen eine verstärkte
Berücksichtigung der Zukunftsdimension in der Marktforschung, als
vielmehr für die Existenz eines Phänomens, das ich mal die
"Repräsentativitäts-Falle" nennen möchte.
In die Bildung einer sauberen repräsentativen
Stichprobe wird in der Marktforschung oft mehr investiert als in die
Formulierung einer intelligenten Fragestellung. Das ist bei manchen
Einsatzgebiet sicher auch richtig so, etwa, wenn es gilt, Zuschauerquoten
zu messen. Oder bei Wahlprognosen. Schliesslich ist es eine der höchsten
Errungenschaften der Demokratie, dass gilt "one man, one vote"; dass
also jede und jeder die gleiche Chance haben soll, an der Abstimmung
teilzunehmen und sie zu beeinflussen.
Nun wissen wir allerdings, dass das Theorie ist:
An einer normalen schweizerischen Volksabstimmung nimmt eine eindeutige
Mehrheit von etwa 60 Prozent nicht Teil, aus welchen Gründen
auch immer. Ob es fehlendes Interesse sei oder mangelndes Wissen, wir
respektieren die Nichtteilnahme als Wahrnehmung eines freiheitlichen
Rechts, akzeptieren aber auch, dass die Entscheidungen von jenen getroffen
werden, die daran Teil nehmen.
Anders in der Marktforschung: Hier wird viel Energie
darauf verwandt, auch noch den letzten Angehörigen der schweigenden
Mehrheit zum Reden zu bringen. Aus purer Angst, die Ergebnisse seien
sonst nicht repräsentativ und damit unglaubwürdig und unseriös.
Kurz nach meinem Studium der Sozialwissenschaften
tat ich zusammen mit einem Freund etwas, worauf in der Branche bis dato
niemand gekommen war. Wir betrieben Leserschaftsforschung mit Hilfe
von schriftlich-postalischen Umfragen. Diese Methode war deshalb verpönt,
weil die Ausschöpfung der Stichprobe deutlich niedriger liegt als
bei persönlichen oder telefonischen Interviews. Nichtsdestotrotz
hatten empirische Untersuchungen, die kaum beachtet irgendwo publiziert
worden waren, gezeigt, dass für viele Fragestellungen diese Methode
jene mit einem optimalen Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag
ist, nämlich immer dann, wenn es vor allem um die Meinung der besonders
interessierten und engagierten Kernkundengruppe geht. Gerade bei Zeitungen
und Zeitschriften ist es diese Gruppe, auf die es ankommt, und deren
Meinung lässt sich zuverlässig auch mit einer Methode erheben,
die nach klassischen Massstäben als wenig repräsentativ gilt.
Marktforschung beruht, so lernen wir es in den ersten
Lektionen, auf dem statistischen Gesetz der grossen Zahl. Wenn wir oft
genug ein Loch in den berühmten Sack mit den schwarzen und weissen
Kugeln stechen und blind eine Kugel herausnehmen, zeigt sich mit der
Zeit das richtige Verhältnis zwischen den beiden Kugelfarben. Wenn
wir herausfinden wollen, wie verbreitet ein bestimmter Krankheitserreger
ist, müssen wir bei einer grossen Zahl richtig ausgewählter
Menschen eine "Blutstichprobe" entnehmen.
Statt Blut zapft die Marktforschung Verhaltensweisen
oder Meinungen per Stichprobe an, und wenn diese einzelnen Meinungskügelchen
richtig ausgewählt und zusammengesetzt werden, ergeben sie zusammen
ein zuverlässiges Bild der öffentlichen Meinung. So selbstverständlich
ist dieses Bild, dass es kaum noch bewusst wahrgenommen wird.
Das wäre aber dringend nötig, denn es
ist mindestens einseitig. Öffentliche Meinung setzt sich nämlich
nicht einfach wie ein pointilistisches Bild aus lauter kleinen unabhängigen
Einzelpünktchen zusammen. Hilfreicher wäre wohl das Bild aus
den neueren Naturwissenschaften von der Doppelnatur des Lichts, das
sowohl Teilchen als auch Welle ist. Die einzelne Meinung entspräche
dem Teilchen, doch die Wellennatur der öffentlichen Meinung führt
dazu, dass sich diese einzelnen Teilchen zu bestimmten Mustern anordnen
- wie sich der einzelne Vogel oder Fisch in das grössere Muster
des Vogelzugs oder Fischschwarms einfügt. Öffentliche Meinung
wäre dann mehr als die Summe der Einzelteile individueller Meinungen,
hätte vielmehr ein Eigenleben, bildete ein Gesamtbild wie ein Hologramm,
das sichtbar bleibt, auch wenn man es in Stücke schneidet.
Noch zu meiner Zeit in Allensbach, wo Wahlprognosen
eine grosse Rolle spielten, wurde eine Studie publiziert, wonach die
Befragung einer Handvoll Taxifahrer, Friseusen und ähnlicher Leute
mit vielen Kundengesprächen ebenso präzise Wahlprognosen erlaubte
wie eine Repräsentativbefragung von Tausenden von Wählern.
Auch diese Studie wurde natürlich kaum beachtet.
Als ich den damaligen obersten Chef meines deutschen Lieblingsinstitutes
einmal auf dieses Phänomen ansprach, meinte er, selbst wenn das
alles wahr wäre, wären sie doch nicht so blöd, das publik
zu machen und sich so ihr eigenes Wasser abzugraben...
Die Frage ist allerdings, ob sich die Wahrheit auf
Dauer unterdrücken lässt, ob das also eine kluge und nachhaltige
Strategie ist - oder ob es für die Marktforschung nicht besser
wäre, sich unerschrocken und offensiv solchen evolutionären
Seitenästen zuzuwenden.
Sie könnte dabei unter anderem das Gesetz
der kleinen Zahl entdecken. Seit Jahren führe ich Umfragen
zu Zukunfts-Themen bei einem Netz von Zukunfts-Interessierten (SensoNet)
durch, das einige hundert Personen umfasst. Immer wieder habe ich festgestellt,
dass oft schon nach fünfzig, und praktisch immer nach hundert eingegangenen
Antworten das Gesamtbild feststand. Mehr Antworten brachten allenfalls
noch kleine, für das Gesamtbild unerhebliche Akzentverschiebungen.
Zurückkommend auf unser Ausgangsszenario zunehmender
Befragungsmüdigkeit bedeutet dies, dass die Marktforschung endlich
von ihrer Fixierung auf grosse Zahlen und repräsentative Stichproben
wegkommen könnte - es bräuchte dann deutlich weniger Interviews,
doch diese böten wesentlich mehr Möglichkeiten, in die Tiefe
zu gehen und damit zum Kern der Sache zu kommen.
Allerdings nur, wenn auch bei der Auswahl der Befragungspartner
ein radikales Umdenken stattfindet: Statt per Stichprobe die Befragten
auszuwählen und dann zu ihnen zu gehen, ist es in vielen Fällen
besser, man lässt sich auswählen: an der Befragung
nimmt dann Teil, wer will und kann, und repräsentiert so
jenen Teil des Marktes, der interessiert und engagiert ist -
und damit die wichtigste, weil am stärksten Meinung bildende Zielgruppe,
von der man nicht vergangenheitsbezogene Daten erfährt, sondern
zukunftsgerichtetes Marktwissen.
Moderierter Markt-Dialog
Solche freiwilligen Befragungspartner haben wesentlich
mehr zu bieten als die zufällig ausgewählten Elemente einer
Stichprobe, die sich lustlos abfragen lassen, aber sie verlangen
auch mehr: Sie wollen Fragen, die ihre eigenen Gedanken anregen,
sie möchten einen wirksamen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft
leisten, indem sie die Stimme des Marktes bei den Entscheidungsträgern
hörbar machen; sie wollen ernst genommen werden, und sie wollen
mehr Transparenz bei den Ergebnissen. Einfach nur ihre Stimme abzugeben
und dann nie mehr was zu hören, liegt bei ihnen nicht drin.
Die Befragten sind in einem solchen Modell keine
Datenmelkkühe mehr, also keine Forschungs-Objekte, sondern Subjekte,
also Dialogpartner. Aus Marktforschung wird so ein moderierter Dialog
zwischen Marktpartnern. Hier, in der Rolle des Dialogmoderators,
der beide Marktpartner kennt, ihre Sprache spricht und deshalb übersetzen
kann, liegt eine wesentliche Zukunft der professionellen Marktforschung.
Die technischen und methodischen Voraussetzungen
für diesen Wandel sind mittlerweile gegeben. Das Stichwort heisst
Internet. Die kleine Zahl von fünfzig bis hundert interessierten
und engagierten Markt-Dialog-Partnern, die Sie als Minimum für
ein fundiertes Zukunftsbild brauchen, lassen sich dort allemal finden.
Wenn mehr mitmachen wollen, umso besser, das macht die Meinungsbilder
noch glaubwürdiger und kostet praktisch nichts. Ein Feedback mit
ausgewählten Ergebnissen lässt sich ebenso leicht verbreiten
wie eine Einladung zu einer nächsten Umfrage.
Simulachron ist nicht nötig
Das bringt mich dazu, dass ich Ihnen noch die Auflösung
des Rätsels schuldig bin, was im eingangs zitierten Roman "Welt
am Draht" als Ersatzlösung für die überbordende Marktforschung
erfunden wurde. Des Rätsels Lösung steckt im Originaltitel,
der "Simulachron-2" heisst, worin unschwer das Wort "Simulation" zu
entdecken ist.
Kurz zusammen gefasst: In einem grossen Computer
wird ein Markt simuliert. Etwa zehntausend Simulationseinheiten", sprich
Konsumenten, werden voll programmiert, ebenso die Regeln, nach denen
sie sich untereinander verhalten. Jetzt muss man nur noch ein neues
Produkt oder eine Werbekampagne simulieren und kann dann beobachten,
was dabei heraus kommt.
Für Anfang der sechziger Jahre des letzten
Jahrhunderts war das ein äusserst kühner Gedanke - und ein
absolut zutreffender. Simulation im Computer ist in vielen Wissenschaftsbereichen
längst zur dem realen Experiment gleichwertigen Methode geworden.
Und simulierte Gemeinschaften gibt es seit vielen Jahren als Spiel zu
kaufen, das bekannteste heisst denn auch wörtlich "SimCity".
Es ist nun auch schon wieder etliche Jahre her,
als mir ein Studienkollege, der es zum Professor für Sozialpsychologie
geschafft hatte, voll stolz erzählte, sie arbeiteten an einem Simulationsmodell
für virtuelle Gemeinschaften, mit dessen Hilfe man etwa die Steuerung
des Verkehrsverhaltens simulieren könne. Die Vision, die er dabei
entwickelte, klang ziemlich genau so wie Simulachron...
Nur nebenbei: Wenn Sie genau aufgepasst haben, hiess
der Originaltitel "Simulachron zwei". Diese zwei verweist auf
den eigentlichen Plot des Romans: Die Simulationseinheiten sind nämlich
so perfekt simuliert, dass sie buchstäblich ticken wie Menschen,
das heisst, sie glauben auch, sie und ihre Welt seien real. Daraus
ergibt sich zwangsläufig die Frage, woher wir Simulierer eigentlich
wissen wollen, ob wir selber wirklich real seien - oder nicht doch auch
einfach nur die virtuelle Simulation einer noch höheren Ebene.
Mehr will ich nicht verraten, wenn es Sie interessiert, lesen Sie das
Buch - aber schauen Sie nicht den Film, denn dort kommt die Geschichte
mit den Meinungsforschern nicht einmal vor, was ich damals ziemlich
kränkend fand...
Übrigens: Einige Zeit nach meiner Begegnung
mit dem Professor konnte man lesen, das Simulationsmodell sei eingesetzt
worden, um den Stau während des Ausbaus des Baregg-Tunnels zu reduzieren.
Die Resultate fiele, um es höflich zu formulieren, ernüchternd
aus. Der Traum vom simulierten Markt im Computer als Ersatz für
Marktforschung draussen im Felde wird noch einige Zeit ein solcher bleiben,
denn auch die Realität heutiger Märkte ist zu komplex, um
sie so - mir nichts, dir nichts - in ein Computermodell sperren zu können.
Das sollte Sie nicht davon abhalten, die weitere
Entwicklung auf diesem Gebiet aufmerksam zu verfolgen - im Gegenteil.
Sie können von diesem Modell einiges lernen. So sind die kleineren
oder grösseren Netze von Markt-Dialog-Partnern, die, wie ich eben
kurz beschrieben habe, alle Möglichkeiten der Online-Kommunikation
nutzen, durchaus auch als virtueller Testmarkt für Zukunfts-Ideen
zu verstehen. Dieses Modell wiederum funktioniert nur mit einem hoch
professionell betriebenen Netz-Knoten - eine weitere wesentliche
Rolle in der Marktforschung der Zukunft.
Der Wandel beginnt im Kopf
Die Vorstellung, man könne die normale Marktforschung
unter grösserer Einsparung von Kosten einfach so ins Internet verschieben,
hat sich als Illusion erwiesen: Als Medium dafür, unwillige zufällig
ausgewählte Menschen erst einmal zur Teilnahme zu überreden,
eignet sich das Netz nicht. Nur mit Menschen, die freiwillig und
gerne mitmachen, funktionieren Online-Befragungen wirklich. Und
dafür müssen erst einmal die Umfragen anders aussehen.
Entscheidend dafür, dass das gelingt, sind
nicht technische Fortschritte, sondern ein mentaler Wandel in den Köpfen
der Marktforscherinnen und Marktforscher, unabhängig davon, auf
welcher Seite sie agieren.
Die wichtigsten Elemente dieses mentalen Wandels,
die nötig sind, damit die Marktforschung nicht stehen bleibt -
und damit eine Zukunft hat - habe ich genannt:
- Sehr viel mehr Investitionen in intelligente
Fragestellungen
- Konzentration auf Markt-Wissen statt Anhäufung
von Datenbergen
- Erfassung von Zukunfts-Bildern statt Geschichtsschreibung
- Lösung von der starren Fixierung auf klassische
Repräsentativität und grosse Zahlen
- Aufbau von Markt-Dialog-Systemen
All das hilft aber wenig, wenn eine elementare Haltung
der Marktforschung fehlt: eine offene Neugier, die nicht einfach Bekanntes
bestätigen will, sondern das Neue und Überraschende liebt.
Ich werde nie die Szene auf der Terrasse eines
Zürcher Zunfthauses vergessen, als mich die Mitbesitzer eines grossen
Münchner Modehauses, das in Zürich eine Filiale eröffnen
wollte, ins Gebet nahmen. Ihr Bruder hätte ohne ihr Wissen eine
Marktforschung zum besten Standort bestellt. Anstandshalber müsste
diese Marktforschung jetzt wohl durchgeführt werden, doch da der
Standort insgeheim längst entschieden sei, müsse mir klar
sein, welches Ergebnis dabei herauszukommen hätte...
So geht es freilich nicht. Marktforschung, die nur
noch vorgefasste Meinungen bestätigen soll, verliert ihren letzten
Rest an Zukunft. Viel Zukunft gewinnt sie jedoch, wenn sie mutig nicht
das beschreibt, was gewünscht wird, sondern das, was ist und sein
wird. Dann wird sie statt lästiger Pflicht vermehrt wieder lustvolle
Kür und damit attraktiver.
Klassische Marktforschung wird und muss nicht verschwinden.
Die Zufuhr von frischem Blut und neuen Ideen aus ihren evolutionären
Seitenästen kann jedoch auch sie nur beleben. Wenn die Marktforschung
eine Zukunft haben will, wird eine Fähigkeit unabdingbar sein,
die der damalige Boss meines Lieblingsinstituts schon vor über
einem Jahrzehnt unnachahmlich formuliert hat: den Wandel lieben lernen
!
© 27. April 2003 by Andreas Giger