DER ZUKUNFTS-PHILOSOPH ANDREAS
GIGER
Die Zukunft als Beruf
Von Anna Imfeld
An der European Futurists Conference in Luzern diskutieren derzeit Dutzende
Wissenschaftler und Marktforscher aus aller Welt über die Epoche,
die wir nicht kennen, weil sie uns stets eine Nasenlänge voraus
ist: die Zukunft. Mit Wahrsagerei und Magie hat dies wenig zu tun. Es
geht nicht ums Detail, sondern um Trends, und diese können, falls
sie sich bewahrheiten, für Unternehmen durchaus nützlich sein.
Jemand, der sich seit 20 Jahren hauptberuflich mit der Zukunft beschäftigt,
ist Andreas Giger. Der studierte Soziologe mit Doktortitel ist einer
der Organisatoren der Luzerner Konferenz. Weil es den Beruf nicht gab,
hat ihn Giger gleich selbst erfunden: Auf seiner Visitenkarte steht
«Zukunftsphilosoph». Wenn er in seinem langen, grün-rot
karierten Regenmantel die Halle betritt, sieht er aus wie ein altenglischer
Professor auf Reisen. Giger hofft, dass dank der Konferenz dereinst
eine europäische Vereinigung für Zukunftsforscher entsteht.
Mit Sicherheit weiss er es jedoch nicht - wie so vieles, worüber
er nachdenkt. Er beschäftige sich nicht mit Gewissheiten, sondern
mit Wahrscheinlichkeiten, sagt Giger und vergleicht sich mit einem Meteorologen:
«Die können auch nicht genau das Wetter vorhersagen.»
Im Unterschied zu einem Wissenschaftler interessiert sich der Zukunftsphilosph
weniger für nackte Zahlen als für die Gefühle und Befindlichkeit
der Gesellschaft, insbesondere für den Wertewandel. Dabei stellt
sich Giger Fragen wie: Was heisst Lebensqualität? Oder: Welches
Verhältnis hat der Mensch zum Geld? Um solche Fragen zu beantworten,
hat Giger ein eigenes Messinstrument erfunden: SensoNet nennt sich seine
interaktive Internetplattform. Gemäss Anleitung funktioniert sie
so: Eine Bewusstseinselite nimmt «Tiefentrends im kollektiven
Bewusstsein auf, macht sie sichtbar und gibt sie weiter». Teilnehmer
der Studien sind «überdurchschnittlich gebildete, an der
Zukunft interessierte Menschen». Bei einer der letzten Umfragen
stellte sich heraus, dass die Lebensqualität wichtiger wird als
materielle Werte und dass es der Schweizer Bildungselite nicht schlecht
geht: Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie zufrieden seien.
Zufrieden mit seiner Lebenssituation ist auch Andreas Giger: Seit nunmehr
zwölf Jahren lebt der gebürtige Schaffhauser in seiner Wahlheimat
Wald in Appenzell Ausserrhoden. Als Unterkunft genügt dem 54-Jährigen
ein Zimmer in einem Landgasthof (na ja, ein paar mehr sind es schon,
und eine eigene Wohnug ist es auch - der Setzer) , mit Aussicht
auf Wald und Hügel. «Hier habe ich den Überblick über
grössere Zusammenhänge, die ich in der Stadt nicht hätte.»
Seine Ideen und Gedanken formt Giger am liebsten während langer
Spaziergänge. Oft nimmt er die Fotokamera mit und hält inspirierende
Motive fest. Jüngst hat er seine Gedanken und Bilder in einem Foto-
und Gedichtband verewigt, eine Ode an das Provinzleben, nach dem Motto:
Was in Appenzell - das überall. Doch von geistiger Nahrung allein
kann auch ein Zukunftsphilosoph nicht leben. Das Internet ermöglicht
es Giger, auch in der Abgeschiedenheit seinen SensoNet-Studien nachzugehen.
Studien, die er regelmässig in Buchform herausgibt und die er in
Vorträgen bespricht, oft auch in Deutschland und Österreich.
Auf seine Methode, in die Zukunft zu blicken, vertrauen übrigens
auch grosse Firmen: Im Auftrag einer Telecomgesellschaft tastet SensoNet
beispielsweise die Bedürfnisse der künftigen Telefonkunden
ab. Oder ermittelt für eine Kosmetikfirma, inwiefern sich das Verhältnis
zur eigenen Haut verändert hat: Ist sie mehr Schutzschild oder
ein durchlässiges Organ?
Wenn er die Zukunft selbst gestalten könnte, würde Giger vor
allem im Arbeitsbereich einiges ändern: «Wir brauchen mehr
Freiheit und Eigenverantwortung am Arbeitsplatz.» Auch die politische
Kultur der Schweiz benötigt neue Impulse: «Wir müssen
uns auf unsere gemeinsamen Werte besinnen.» Wie man das konkret
umsetzt, überlässt der Philosoph den Verantwortlichen. Eines
jedoch weiss er genau: «Wir können mit Gelassenheit in die
Zukunft blicken.»
© Tages-Anzeiger;
12.07.2005; Seite 9 /
Analyse