Gibt es eine
"Zukunfts-Marktforschung" ?
Streng logisch genommen ist
jeglicher Gedanke an so etwas wie Zukunftsforschung absurd: Man kann
nicht etwas erforschen, das es (noch) gar nicht gibt. Im Falle der Marktforschung
kommt noch erschwerend hinzu, dass für repräsentative Umfragen
der kleinste inhaltliche Nenner zwingend vorgeschrieben ist, und zu
dem gehören differenzierte Äusserungen zu Zukunftsfragen sicher
nicht. Deshalb schlägt die klassische Marktforschung um Zukunftsfragen
lieber einen weiten Bogen.
Damit verhält sie sich
wie jener berühmt-berüchtigte Angesäuselte, der den zu
Boden gefallenen Schlüssel nicht dort sucht, wo er ihn verloren
hat, sondern dort, wo das Licht der Strassenlaterne hinfällt. Gesucht
wird von der Marktforschung Wissen dort, wo es am leichtesten zu haben
ist: in der Vergangenheit. Ob sich daraus direktes Zukunfts-Wissen ableiten
lässt, ist mehr als fraglich. Genau das aber würde gebraucht:
Zukunfts-Wissen, um aktuelle Entscheide besser abstützen zu können.
Gebraucht würde also so etwas wie eine Zukunfts-Marktforschung.
Gibt es so etwas ?
Prognosen sind illusorisch,
Szenarios sind möglich
Niemand kann über die
Zukunft im eigentlichen Sinne etwas "wissen". Weder in den Kristallkugeln
selbst ernannter Hellseher noch in den Supercomputern der Konjunkturforscher
finden sich wirklich verlässliche Prognosen. Möglich ist es
allerdings, Zukunfts-Szenarios zu entwickeln und die Wahrscheinlichkeit
ihrer Realisierung abzuschätzen.
Szenarios sind Zukunfts-Bilder
in den Köpfen von Menschen. Um diese Bilder anzuzapfen, hat die
Zukunftsforschung die Methode der Delphi-Studie entwickelt. Dabei schätzt
eine handverlesene Schar von Experten die Wahrscheinlichkeit bestimmter
Szenarios ein, also etwa die Frage, um wieviel der Flugverkehr in den
nächsten Jahrzehnten zunehmen wird.
Wie die Erfahrung zeigt,
ist diese Methode für die Einschätzung zukünftiger Märkte
nur bedingt tauglich - oder haben Sie euphorischen Expertenprognosen
zur Entwicklung des E-Commerce schon wieder vergessen ? Das liegt an
zwei entscheidenden Mängeln:
- Zum einen an der Beschränkung
auf quantitative Faktoren. Märkte sind komplexe chaotische Systeme,
in denen qualitative Faktoren - Soft Factors - eine zentrale Rolle
spielen. Wer sie übersieht, verpasst deswegen oft das Entscheidende.
- Zum anderen an der Beschränkung
auf sogenannte Fachexperten. In einer Marktwirtschaft sind alle Konsumenten
Experten, denn sie entscheiden darüber, was auf den Märkten
der Zukunft Erfolg hat und was nicht. Zukunfts-Marktforschung muss
also die Märkte selber fragen, wie es guter alter Brauch ist.
Demokratisches Delphi
Potentiell gehört jede
Konsumentin und jeder Konsument zu den Experten in Sachen Zukunfts-Märkte.
Faktisch allerdings nicht. Nicht jede(r) kann und will sich Gedanken
über die Zukunft machen und sich dazu äussern. Das ist die
schlechte Nachricht: Zukunfts-Marktforschung kann nicht auf klassischen
repräsentativen Umfragen beruhen.
Die gute Nachricht heisst:
Das ist nicht weiter schlimm - im Gegenteil. Um diese Einsicht so richtig
geniessen zu können, muss man sich allerdings von einigen lieb
gewonnen Vorstellungen verabschieden. Etwa: Nur repräsentative
Umfragedaten sind brauchbar. Also solche, die möglichst die ganze
Bevölkerung vertreten.
Seltsamerweise stört
sich in der viel gepriesenen Schweizer direkten Demokratie niemand ernsthaft
daran, dass in den meisten Abstimmungen die Bevölkerungsmehrheit
nicht vertreten ist, weil im Schnitt nur eine Minderheit von
vierzig Prozent daran teilnimmt. Demokratie wird also nicht beeinträchtigt,
wenn nur jene mitreden, die das können und wollen.
Genau so funktioniert ein
Demokratisches Delphi: Es beteiligen sich an einer Umfrage jene, die
wollen und können. Das ist, wenn es um vertiefte Fragen zur Zukunft
geht, eine Minderheit von vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung.
Für diese kleine, aber feine Minderheit lässt sich eine repräsentative
Stichprobe bilden, eine, welche eben diese "Zukunfts-Elite repräsentiert,
also vertritt.
Klein, aber fein ist diese
Zukunfts-Elite nicht nur deswegen, weil sie über kostbare Ressourcen
verfügt, nämlich Interesse, Wissen und Engagement - alles
Dinge, die ihre Beiträge kostbar machen. Sondern auch, weil dieses
Engagement auch nach aussen abstrahlt: Diese Minderheit weiss nicht
nur mehr über die Zukunft als die anderen, sie beeinflusst sie
auch stärker.
Die Zukunfts-Bilder dieser
Zukunfts-Elite zu kennen, verbessert das eigene Verständnis von
Zukunft also entscheidend. Auch ein Demokratisches Delphi kann die Zukunft
nicht vorhersagen, aber es lässt die zukünftigen Märkte
doch in einem helleren Licht erstrahlen.
Virtueller Testmarkt
Vom funktionierenden Testmarkt
träumen alle: Man könnte so im kleinen Massstab und damit
mit viel weniger Aufwand die Erfolgschancen von Neuheiten testen. Noch
besser allerdings wäre ein virtueller Testmarkt: Man gibt nur die
Simulation eines neues Produktes ein und schon hat man dessen Erfolgschancen,
braucht also im Zweifelsfall nicht mal einen Prototypen zu fertigen.
Natürlich kann so etwas
nicht einfach eins zu eins funktionieren, in vielen Fällen braucht
es für einen echten Test eben doch die sinnlich fassbaren Qualitäten
eines Produkts. Allerdings: Auf dem langen Weg von der Idee einer neuen
Dienstleistung oder eines neuen Produkts bis zu dessen konkreter Realisierung
kann es mehr als sinnvoll sein, schon frühzeitig die Idee als solche
in einen virtuellen Testmarkt einzuspeisen. Hat sie dort Erfolg, kann
man mit Rückenwind an ihre Realisierung gehen. Scheitert sie schon
dort, kann man sich eine Menge Mühe und Ärger ersparen, indem
man die Übung rechtzeitig abbricht.
Nimmt man die eben beschriebene
Zukunfts-Elite und bildet aus ihr einen solchen virtuellen Testmarkt,
ergibt sich für jede getestete Idee eine klare Aussage: Kommt sie
nicht mal bei der Zukunfts-Elite an, kann man sie gleich vergessen.
Stösst sie dort dagegen auf klare Zustimmung, ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sie morgen und übermorgen auch im Markt ankommt, so gross,
dass sich weitere Realisierungsschritte lohnen.
Damit das funktioniert, müssen
die Qualitäten der getesteten Idee richtig rüber kommen. Und
die Reaktionen darauf müssen mit den richtigen Fragen getestet
werden. Weil der Erfolg von den Qualitäten einer Idee abhängen
und nicht von ihren Quantitäten, beschäftigt sich ein Demokratisches
Delphi mit intelligenten Fragen. Und ist so besonders wertvoll.
Mehr als Zukunftsmusik
Die Idee von einer Zukunfts-Marktforschung,
die keine Gewissheiten vorgaukelt, aber einen nützlichen Beitrag
zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von Zukunfts-Szenarios
und der Potenziale von Zukunfts-Ideen leistet, ist mehr als Theorie.
Ein Demokratisches Delphi, das sich als virtueller Testmarkt für
Zukunfts-Ideen eignet, existiert in der Praxis. Es heisst SensoNet und
leistet seit 1996 wertvolle Beiträge zur Klärung von Zukunfts-Bildern
aller Art. Mit ihm wird Zukunfts-Marktforschung auch in Zukunft möglich
und ertragreich sein.
Dr. Andreas Giger, Zukunfts-Forscher und
Zukunfts-Philosoph