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Das digitale Missverständnis — Ein Plädoyer für analoges Denken

Wohlverstanden: Ich habe absolut nichts gegen die Segnungen der digitalen Technik einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Sie ermöglichen es beispielsweise erst, dass ich auf diese Weise, via Internet, mit Ihnen kommunizieren kann. Erst die Möglichkeit, Texte oder Bilder oder Klänge in kleinste digitale Informationseinheiten aufzuteilen, macht den einfachen Transport von mir zu Ihnen möglich. Und bei Ihnen werden dank dieser Technik diese digitalen Informationen wieder genau zu jenen Texten und Bildern zusammengefügt, die ich ins Netz eingespeist habe. Eine geniale Technik, fürwahr.

Ich muss sogar gestehen, dass die gerüchteweise existierenden Unterschiede zwischen einer CD und einer klassischen analogen Schallplatte für mein Ohr unhörbar sind. Es mag ja sein, dass eine CD etwas weniger Feinheiten der Tonqualität transportiert als eine Platte, relevant sind diese Unterschiede nur für eine exklusive Minderheit von Spezialisten. Für die grosse Mehrheit ist und bleibt die digitale Technik ein Segen.

Dass Dumme ist nur, dass viele die Meinung, das Medium sei gleichzeitig auch die Botschaft ("the medium ist the message"), etwas allzu wörtlich nehmen. Aus der Tatsache, dass heute die meisten Ergebnisse unseres Denkens digital gespeichert und verbreitet werden, ziehen sie die Schlussfolgerung, am besten sei auch gleich dieses Denken selbst digital.

Was dabei leicht vergessen geht: Digitalisierung bedeutet immer eine scharfe, ja geradezu brutale Zweiteilung. Es gibt nur entweder oder, schwarz oder weiss, ja oder nein, Null oder Eins. Zwischentöne sind nicht vorgesehen.

Nach meiner unmassgeblichen Meinung hat der Mensch noch nie etwas erfunden, was nicht in seinem Kopf schon vorhanden war. Es muss also in unserem Gehirn etwas geben, was der Erfindung der Digitalisierung als Vorbild gedient hat. Und tatsächlich finden wir in den ältesten Regionen unseres Gehirns, treffenderweise "Reptiliengehirn" genannt, genau dieses Muster: Angriff oder Flucht. Fressen oder nicht fressen. Klassischer Fall von Digitalisierung.

Fatalerweise strahlt dieses Grundmuster auch auf unsere neueren Gehirnteile aus, dorthin, wo wir erst eigentlich anfangen zu denken. Und so basieren unsere Denkmuster allzu oft auf digitalen Dichotomien, auf einfachen, weil unversöhnlichen Gegensätzen: Richtig oder falsch. Gut oder Böse. Dazugehörig oder ausgeschlossen.

Fatal ist solches Denken deshalb, weil es unweigerlich zu Konflikten und Gewalt führt. Wer sich im Besitz der einen und ganzen Wahrheit wähnt (was immer ein Wahn ist), wird eines Tages unweigerlich jene, die diese Sicht nicht teilen, mit Gewalt bekehren wollen — schon in dessen ureigenstem Interesse. Heilige Kriege basieren immer auf digitalem Denken.

Die Relativität jeglicher Wahrheit nicht nur zu sehen, sondern auch zu akzeptieren, ist eine der grössten Errungenschaften unserer aufgeklärten abendländischen Zivilisation. Die Wirklichkeit um uns herum ist nun mal ebenso wenig wie unser eigenes Leben digital. Es gibt kaum je ein reines Schwarz oder Weiß, dagegen gibt es viele subtile Grautöne — und eine ganze Palette von Farbtönen. Das Leben folgt selten einer klaren Ja-Nein-Logik, ist dagegen voll von Widersprüchen und fraktalen Brüchen. In die klar abgetrennten Schubladen eines digitalen Denkens passt es selten.

In seinem "Steppenwolf" lässt Hermann Hesse seinen Helden in einem mühsamen Prozess erkennen, dass tatsächlich zwei Seelen, ach, in seiner Brust leben, neben jener des zivilisierten Kulturmenschen auch jene des wilden und ungebärdigen Steppenwolfs. Doch dann trifft der "Held" im Magischen Theater einen Lehrmeister, der ihn ob seiner Erkenntnis der Dualität nur auslacht, weil er zu Recht darauf verweisen kann, jeder Mensch bestehe aus viel mehr als nur zwei Teilpersönlichkeiten.

Der Schritt vom digitalen zum analogen Denken ist also durchaus möglich. Und unsere Kultur unterstützt diesen Schritt auch mit ihren Wertvorstellungen: Ein Roman, der analog das Leben abbildet, also voller Zwischentöne und Widersprüche steckt, gilt mehr als ein holzschnittartiger Comic, der die Wirklichkeit auf simple Gegensätze beschränkt.

Natürlich ist digitales Denken einfacher und bequemer als analoges. Analoges Denken muss sich immer wieder aufs Neue darum bemühen, dem Drang zur schrecklichen Vereinfachung zu widerstehen, muss lernen, Widersprüche und Unentschiedenheit auszuhalten, muss aktiv die Freude an Zwischentönen erwerben. Das ist eine Form geistiger Anstrengung, die viele nicht auf sich nehmen wollen — und manche wohl auch nicht können.

Doch die Anstrengung lohnt sich. Denn ein digitales Denken, dass dort nur künstliche Unterschiede sieht, wo das Leben selbst sich in seiner ganzen bunten widersprüchlichen Vielfalt entfaltet, geht an eben diesem Leben vorbei und verfehlt so seinen eigentlichen Sinn und Zweck, nämlich uns Orientierung in einer komplexen Welt zu geben. Kurzfristig mag digitales Denken die Illusion von klarer Orientierung vermitteln, doch auf Dauer übersieht jener, der in einer farbigen Welt nur Schwarz und Weiss sieht, das Meiste.

Derzeit sind wir in Form des radikalen Islamismus mit einer knallharten Manifestation des digitalen Denkens konfrontiert. Wenn ein prominenter islamischer Geistlicher zu Protokoll gibt, man könne selbstverständlich über alles reden, doch sei zum vornherein klar, dass er im Besitz der ganzen und einzigen Wahrheit sei, dann kann einem Verfechter des analogen Denkens nur die Spucke wegbleiben. Es wäre jedoch ein Rückfall in digitales Denken, dieses nur bei den anderen wahrzunehmen. Auch in unserer eigenen Kultur ist digitales Denken noch weit verbreitet, und wenn wir offen genug hin gucken, entdecken wir Restbestände davon immer wieder auch in unserem eigenen Kopf.

Das ist nicht weiter schlimm, schliesslich gibt es Elemente unseres Lebens, die eindeutig digital sind - den Tod zum Beispiel. Doch insgesamt plädiere ich entschieden für die Vormacht des analogen Denkens. Wir können uns nun mal der Wirklichkeit nur annähern, so weit das überhaupt möglich ist, wenn wir ein möglichst differenziertes Bild von ihr haben. Wir können uns in uns selbst und in andere Menschen nur hineindenken, wenn wir das Leben und die Menschen als von Zwischentönen und Widersprüchen geprägt wahrnehmen. Und dazu macht analoges Denken einfach mehr Spass...