DIE BEWUSSTSEINS-ELITE

 

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Rettet das Individuum!

Wer sich das Denken abnehmen lässt, dieses einzig absolut Eigene, was der Mensch besitzt, mit dem ist es aus.

Diese Zeilen fand ich in einem Notizbuch meines vor einigen Jahren verstorbenen Vaters, eines einfachen Mannes, dem nie eine höhere Bildung beschieden war. Ob die Zeilen ein Zitat sind oder eine eigene Formulierung, ist nicht ersichtlich. Fest steht, dass ihm der Gedanke des eigenständigen Denkens so wichtig war, dass er sich ihn notiert hat.

Äußerlich war seinem Leben nichts von diesem Eigensinn anzumerken, er lebte es so, wie es von den Zeitläuften vorgesehen war. Rebellion oder Extravaganzen zum Zwecke der Selbstverwirklichung waren nicht sein Ding. Doch in seinem Inneren bewahrte er sich Freiheit und Unabhängigkeit, wissend, dass dort der Raum für das "einzig absolut Eigene" war.

Frage ich heute SensoNet als Sprachrohr der Bewusstseins-Elite, in welchen Lebensbereichen der generell sehr hoch gehandelte Wert Selbstverwirklichung besonders wichtig sei, dann sind die meist genannten Antworten in meinem geistigen Leben, in dem was ich glaube, was mir wichtig ist sowie im Setzen meiner Lebensziele. Es geht also um Werte und Denken, um das Innenleben. Hier lässt sich Individualität und Eigen-Sinn am besten verwirklichen.

Das ist freilich die Ansicht einer Elite, einer Avantgarde, zu der zu gehören eine höhere Bildung keine notwendige Bedingung ist, wie das Beispiel meines Vaters zeigt. Die große Mehrheit verstand den Megatrend Individualisierung zunächst anders, nämlich als Befreiung von äußeren Zwängen.

Und davon gab es reichlich. Im heute zu Recht als weltoffen und liberal geltenden Zürich etwa gab es bis in die Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Konkubinatsverbot, das heißt, unverheiratete Paare durften offiziell nicht zusammenleben. Vergleicht man das mit der heutigen Vielfalt der Formen des Zusammenlebens, von Patchwork-Familien bis Homo-Ehen, von Wohngemeinschaften aller Art bis zur Beziehung auf Distanz (nicht zu vergessen die nach wie vor häufige klassische Familienform), dann wird klar, wie viel sich in - in den Größenordnungen der kulturellen Evolution gesehen - kurzer Zeit verändert hat.

Ähnliches gilt für das ganze Leben. Den klassischen Lebensweg gibt es kaum noch, er stirbt aus wie eine seltene Art. Die Zeiten, da man in den Zug einstieg und Station für Station abfuhr (Schule, Studium, Heirat, Kinder), sind vorbei. Das Leben ist eine Baustelle. Und zwar eine individuelle. Bei jeder und jedem sieht sie etwas anders aus.

Das ist die für jeden Menschen direkt erfahrbare Realität des Megatrends Individualisierung, der sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem mächtigen Strom ausgeweitet hat. Wie jede solche Entwicklung hat auch die Individualisierung ihre helleren und dunkleren Seiten. Als negativ empfinden viele den Verlust an Sicherheit. Die für einem vorgesehene Karriere (das Wort stammt direkt vom Karrengeleise ab) bot zwar keine Möglichkeit auszubrechen, bot aber dafür viel Sicherheit und Orientierung von außen. Daraus nährt sich die verbreitete nostalgische Sehnsucht rückwärts nach den verflossenen Zeiten, in denen alles klar und wohlgeordnet war.

Diesem Verlust steht ein enormer Zugewinn an Freiheitsspielräumen gegenüber. Wir sind nicht mehr an vorgegebene Geleise gebunden, sondern können auch das Gelände links und rechts davon erkunden. Wir sind nicht mehr gezwungen, den Beruf des Vaters zu ergreifen. Wir müssen uns an keine engstirnigen Vorschriften halten, wenn es um unseren Lebensstil geht. Wir sind von Verwaltern unseres Lebens, denen sowohl die Ziele als auch die Wege dahin vorgegeben waren, zu Lebensgestalterinnen und Lebensgestaltern geworden, die über Ziele und Wege frei bestimmen können.

Das ist meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein gewaltiger Fortschritt. Und zwar kein zufälliger. Wir haben das Glück, in einer Kultur zu leben, die in der Vergangenheit viele Quellen zur aktuellen Individualisierung beigesteuert hat, von den alten Griechen über das Christentum, von der Aufklärung bis zu den Menschenrechten. Sie alle haben den großartigen Gedanken genährt und gefestigt, wonach der Mensch als freies und eigenverantwortliches Individuum geboren sei, dessen Recht auf persönliche Entfaltung nur durch dieselben Rechte der anderen begrenzt werden dürfe.

Mächtig Institutionen wie Kirche und Staat haben mit ihren einengenden Zwängen über Jahrhunderte und Jahrtausende dafür gesorgt, dass dieser Gedanke für das Gros der Menschheit Makulatur blieb. Erst in jüngster Zeit haben sich die Einflüsse dieser Institutionen so weit verflüchtigt, dass für die meisten Menschen endlich Raum für individuelle Entfaltung entstand. Selbst gute Katholiken lassen sich ihr Intimleben beispielsweise nicht mehr vom Papst vorschreiben.

Kein vernünftiger Mensch möchte diese Errungenschaften aufgeben und sich in die früheren Verhältnisse mit ihren Kleidervorschriften und Sittenmandaten zurückversetzen lassen. Doch, wie es so ist, kaum ist etwas wirklich besser geworden, treten schon wieder die Meckerer auf den Plan.

Und plötzlich wird "übertriebener Individualismus" zum Sündenbock für alle möglichen Übel, von der zunehmenden Gewaltbereitschaft bis zum Gebärstreik. Wo verbindliche Normen fehlten, so wird geklagt, flöge eine Gesellschaft auseinander, und wenn jeder nur für sich schaue, sei bittere soziale Kälte die unvermeidliche Folge.

Hinter solchen Befürchtungen steckt die Überzeugung, Individualismus sei gleichzusetzen mit Egoismus. Das ist ein Missverständnis, wenngleich ein verständliches. Es basiert auf dem uramerikanischen Archetypus des Individualisten, nämlich des Marlboro-Manns, des einsamen Cowboys, dem nichts wichtiger ist, als für sich und die Seinen das Beste herauszuholen, sprich, im Klartext, möglichst viel Profit.

Die grassierende Raffgier der Bosse, denen nichts wichtiger scheint, als immer noch mehr Millionen auf ihr Konto zu scheffeln, bestätigt dieses Zerrbild aufs Unerfreulichste. Doch die zunehmend kritischer werdende Reaktion der europäischen Öffentlichkeit auf solche Tendenzen macht eben auch klar, dass wir hier zu Lande eine andere Vorstellung von Individualismus haben.

Darin bedeutet Individualismus nicht, möglichst viel Eigenes zu haben, sondern möglichst viel Eigenes zu sein. Das wiederum ist undenkbar ohne die anderen. Als soziale Wesen sind wir zur Realisierung der uns wichtigen Werte wie Lebensqualität oder Selbstverwirklichung auf ein intaktes soziales Umfeld angewiesen. Deshalb sind in unserem europäischen Verständnis Eigen-Sinn und Miteinander keine sich ausschließende Gegensätze, sondern sich bedingende Seiten derselben Münze. Der Egoismus des Seins hat unabdingbar eine soziale Ader.

Vor diesem Soft-Individualismus braucht sich niemand zu fürchten. Natürlich leben wir in einer Phase des Übergangs, in der sich das Alte ins Chaos aufgelöst hat, noch bevor die Umrisse neuer Muster sichtbar geworden sind. Wir erleben deshalb die schleichende Auflösung der sozialen Bindungen aus Zwang, ohne dass schon klar wäre, wie sich die neuen Bindungen entwickeln werden, die aus Freiheit geboren sind. Wenn wir der kulturellen Evolution noch etwas Zeit lassen, haben wir jedoch gute Chancen zu erleben, dass freiwillige soziale Beziehungen eine neue Form von Tragfähigkeit entwickeln werden. Anzeichen dafür gibt es schon heute genug.

Individualisierung ist ein Megatrend und als solcher nicht zu stoppen. Zu erwarten ist jedoch eine Verlagerung seines hauptsächlichen Wirkungsfelds. Die Individualität des äußerlichen Lebensstils wird weniger wichtig, jene des eigenen Innenlebens dafür umso mehr - ganz im Sinne meines Vaters.

Hier wird die Individualisierung ein dankbares Betätigungsfeld finden, denn so bunt und vielfältig unser äußerliches Leben geworden ist, so viel Uniformität und Konformität herrscht nach wie vor in unserem Denken. Während man viel in möglichst individuelles Aussehen investiert, begnügt man sich mit Denkschablonen von der Stange. Das dürfte sich ändern.

Der Wert eines wirklich individuellen, sprich unabhängigen Innenlebens wird steigen. Mehr Menschen werden erkennen, dass das wirklich Eigene nur im eigenen Wahrnehmen, Empfinden, Denken und schöpferischen Tun liegen kann.

Dazu wiederum sollte man natürlich wissen, was das Eigene ist. Das herauszufinden, ist eine lebenslange Herausforderung, wenn man sich nicht damit begnügt, jede momentane Laune und jeden aktuellen Furz für das Eigene zu halten. In diesem lohnenden Prozess wird aus Individualismus zunehmend Individuation, das Werden seiner selbst, immer schön dem rätselhaften Motto folgend "werde, der du bist!".

So wird aus Eigensinn im Sinne von sturem Festhalten an irgendwelchen Spleens Eigen-Sinn im Sinne von eigenem Sinn. Wer solchen Eigen-Sinn empfindet, ist nicht mehr gekränkt, wenn die anderen nicht genau gleich denken oder ticken wie er selbst, womit eine der wichtigsten Ursachen für soziale Konflikte entfällt. Selbst-bewusste und eigen-sinnige Individuen können andere Individualitäten in Frieden leben lassen, weil sie um den Wert von Individualität wissen.

Dieser Wert wird sich übrigens buchstäblich noch auszahlen. In einer künftigen globalen Aufgabenteilung wird dem guten alten Europa seine Tradition des sozial abgefederten Individualismus zugute kommen, denn aus diesem kulturellen Biotop wachsen jene Ideen für Produkte und Dienstleistungen, für Strukturen und Prozesse, die dem weltweit wachsenden Bedarf nach Maßschneiderei statt Konfektion entsprechen.

Diese Perspektive entschärft auch die Angst vor dem chinesischen Riesen. Von einer Kultur, in der das Wort für "lernen" gleichzeitig "imitieren" bedeutet, sind noch auf absehbare Zeit hinaus keine wirklich individuellen Lösungen zu erwarten. Von in der Wolle der Individualisierung gefärbten Europäerinnen und Europäern dagegen schon.

Wir brauchen also nicht weniger, sondern mehr Individualisierung. Ob dabei jede(r) einen eigenen Haarschnitt auf dem Kopf trägt, ist unwichtig. Entscheidend ist das Eigene im Kopf darunter.

Wenn wir schon Papst sind oder Deutschland, können wir ruhig auch dazu stehen: Wir sind das Individuum.

PS. Zum Thema noch ein Zitat von Wilhelm Genazino über den verkannten Schweizer Schriftsteller Robert Walser: Walser ist ein Solitär, weil er keinen anderen Menschen (und kein anderes Werk) mit den Kosten seiner Individuierung belastet. Er wollte niemanden dafür bestrafen, dass ein Individuum aus ihm geworden ist und werden musste.