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Interview mit dem St.Galler Tagblatt
Dieses
Interview erschien am 12. September 2006 im St.Galler
Tagblatt (Schweiz):
Erfinde dich selbst!
Er nennt sich Zukunftsphilosoph, schweigt sich
aber über die Zukunft aus. Er lebt fern von Menschen in einem
Gasthof im Appenzellerland, definiert sich aber als geselligen Menschen.
Er ist der Verkünder einer Bewusstseinselite, zu der aber jeder
gehören kann. Wer ist Andreas Giger? Ein Besuch in seiner Einmann-Wohnung.
Herr Giger, Sie wohnen als Zukunftsphilosoph
zurückgezogen im Appenzellerland und treten öffentlich kaum
in Erscheinung. Ihre Botschaften verbreiten Sie in Mails, in denen
von "Bewusstseinselite" die Rede ist. Und Sie schreiben
Bücher über Lebenskunst, in denen Sie Ihre Appenzeller Spaziergänge
schildern und photographisch dokumentieren. Sind Sie ein Kauz?
Andreas Giger: Durchaus. Der Kauz gehört
zur Familie der Eulen, und die Eulen werden gemeinhin mit Weisheit
in Verbindung gebracht.
So habe ich das nicht gemeint.
Giger: Oft ist es nützlich, die Dinge nicht
in ihrem landläufigen Sinne zu verstehen.
Sind Sie ein Aussteiger?
Giger: Eher ein Umsteiger. Wobei ich präzisieren
muss: Ich war abgesehen von meiner Parlamentszugehörigkeit
in Schaffhausen in keiner Institution jemals etabliert. Nach
meinem Studium habe ich einige Monate in einem Wirtschaftsunternehmen
gearbeitet, danach war ich stets selbständig. 1995
bin ich ins Appenzellerland gezogen, meine Wahlheimat, um mich dem
Denken und Schreiben zu widmen.
Denken und Schreiben, dazu lange Spaziergänge
das klingt nach Einsiedler.
Giger: Es gibt Phasen kreativen Schaffens, in
denen ich mich zurückziehe. Ansonsten aber bin ich ein sehr geselliger
Mensch. Ich reise viel, halte Vorträge, treffe Menschen.
Welche Frage bewegt Sie am meisten?
Giger: Die Frage nach dem, was die Welt im Innersten
zusammenhält. So gesehen, hat mein Wohnsitz Symbolcharakter:
Er bietet Überblick und Weitblick. Ich muss nicht mitten im Gewühl
stecken, um die Welt zu verstehen, sondern halte mich lieber abseits.
"was die Welt im Innersten zusammenhält"
das ist eine alte Frage.
Giger: Ich interessiere mich für den dynamischen
Aspekt der Welt. Nicht für die Frage nach dem Sein, sondern für
die Frage nach dem Werden. Veränderungen geschehen durch Handlungen
von Menschen, und Menschen lassen sich in ihren Entscheidungen von
Werten leiten.
Den Wertewandel thematisieren Sie in Rundmails,
die ich seit einiger Zeit von Ihnen erhalte. Sie gratulieren mir darin,
zur Bewusstseinselite zu gehören. Ich weiss nicht, welchem Club
ich da angehöre. Können Sie mich aufklären?
Giger: Klappern gehört zum Handwerk. Ein
Allzweckintellektueller muss sich heute auf dem Markt behaupten, und
da muss man eben manchmal ungewöhnliche Kommunikationswege gehen.
Aber gut, ich kann Sie beruhigen: Es geht hier nicht um einen geschlossenen
Club, sondern um ein Stück Identitätsbildung. Fragen nach
Lebensqualität, Lebenskunst und Lebenssinn bewegen viele Menschen,
sind aber kein öffentliches Thema. Ich will diese Menschen miteinander
vernetzen und ihnen sagen: Ihr seid nicht alleine, ihr gehört
vielmehr zu einer Gruppe, die die Zukunft wesentlich mitprägt.
Was sind das für Menschen?
Giger: In den Sozialwissenschaften spricht man
seit einiger Zeit von der "kreativen Klasse". Damit sind
Menschen gemeint, die im weitesten Sinne schöpferisch tätig
sind. Man kann sie überall antreffen, im Atelier ebenso wie in
einer Versicherung, doch sind es oft Personen mit höherer Bildung,
grosser Selbständigkeit und mit Einfluss. Sie ziehen die in unserer
Gesellschaft herrschende Gleichsetzung von Glück und materiellem
Wohlstand in Zweifel und widmen einen Teil ihrer Zeit den erwähnten
Lebensfragen.
Wer über genügend Geld verfügt,
hat leicht reden.
Giger: Das stimmt nur zum Teil. Es gibt eine grosse
Anzahl Menschen, die Geld haben und deren Bestreben es ist, noch mehr
Geld anzuhäufen.
Wie sind Sie auf die Menschen der "kreativen
Klasse" gestossen?
Giger: Ich habe vor zehn Jahren "SensoNet"
gegründet, ein Netz, das als Plattform für Zukunftsmarkt-Forschung
gedacht war. Ich habe die Personen zuerst aktiv gesucht. Schon bald
haben an Lebens- und Zukunftsfragen interessierte Leute freiwillig
mitgewirkt. Die grosse Stabilität in den Antworten war auffällig.
Das begann mich zu interessieren. Für wen spricht dieses Netz?
Dann habe ich das Netz gefragt, mit welchem Begriff es sich am ehesten
identifizieren kann. Die Antwort war: Bewusstseinselite.
Von wie vielen Menschen sprechen Sie?
Giger: Das sind je nach Thema zwischen 150 und
300.
Das ist, statistisch gesehen, eine vernachlässigbare
Grösse. Wie repräsentativ sind deren Einschätzungen?
Giger: Man muss hier zwischen quantitativer und
qualitativer Forschung unterscheiden. Wenn das Netz den Anspruch hätte,
für die ganze Bevölkerung zu sprechen, hätten Sie Recht.
Diesen Anspruch hat es aber nicht. Es spricht für eine einflussreiche
Minderheit von Meinungsführern, die ihre nähere und weitere
Umgebung beeinflussen.
Und Sie sind ein Sprachrohr für diese
Gruppe.
Giger: Man muss sich das trichterförmig vorstellen:
Es gibt diese Gruppe, die ihrer Zeit voraus ist; es gibt das Netz,
das für diese Gruppe spricht; und es gibt mich, der ich für
dieses Netz spreche.
Das klingt sehr vage.
Giger: Klar, ich muss mit Unschärfen leben.
Ich halte dieses Modell jedoch für interessant. Die Soziologie
hat sich bisher vor allem darauf beschränkt, repräsentative
Umfragen zu machen, indem sie Mitglieder jeder Bevölkerungsschicht
befragt. Ich versuche, nur eine bestimmte Gruppe zu befragen, um ein
Bild von der Zukunft zu erhalten.
Wie leben wir in 10 Jahren?
Giger: Kein seriöser Zukunftsforscher wagt
Prognosen. Man kann bloss Szenarien entwerfen.
Sie nennen sich Zukunftsphilosoph und wollen
sich nicht zur Zukunft äussern. Eine Provokation?
Giger: Provokation ist ein Teil der Geschichte.
Ich habe bei mir selbst schon oft festgestellt, dass Irritation der
Beginn eines Erkenntnisprozesses ist.
In Ihren Büchern vertreten Sie die These,
dass die Fragen nach Lebenssinn, Lebenskunst und Lebensqualität
in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. Was ist an diesen Fragen
neu?
Giger: Sie sind nicht neu, aber sie werden neuerdings
wieder in verstärktem Masse gestellt. Das hat mit unserem Wohlstand
zu tun: Wir haben Zeit, solche Fragen zu stellen. Es hat aber auch
mit einem Bewusstseinswandel zu tun: Unser Reflexionspotential ist
grösser als früher. Wir leben nicht mehr einfach in den
Tag hinein, sondern fragen uns ständig, ob wir das Richtige tun.
Uns steht eine unendliche Auswahl an Möglichkeiten zur Verfügung.
Wie werden wir mit der Qual der Wahl umgehen?
Giger: Die Zeit des Ego-Trips ist vorbei, Harmonie
im Kommen. Wir bemühen uns wieder stärker, ein Gleichgewicht
im Leben zu finden: zwischen Selbstverwirklichung und Beruf, zwischen
unseren eigenen Wünschen und den Anforderungen unseres Umfelds,
zwischen Produktivität und Ruhe, zwischen Leben in der Fremde
und Heimat.
Ist das die frohe Botschaft, die Sie in die
Welt hinaustragen?
Giger: Wir können uns selbst erfinden. Das
ist die gute Botschaft. Wir wissen aber nie, ob wir das Richtige getan
haben und müssen mit dieser Ungewissheit leben. Das ist
die schlechte Botschaft.
Das erinnert mich an Thesen, die Peter Gross
im Buch "Die Multioptionsgesellschaft" vertritt.
Giger: Ich bin eine Stimme in diesem Chor.
Wenn Sie an einem Kongress auftreten, was ist
dann das Spezielle an Ihrer Botschaft?
Giger: Bei Vorträgen, aber auch bei Büchern
geht es letztlich stets um die Persönlichkeit dessen, der dahinter
steht.
Sind Sie ein Narziss?
Giger: Keineswegs. Was ich eben sagte, ist kein
Lob auf den Narzissmus, sondern die Konsequenz meiner Botschaft: Es
kommt auf das Individuum an.
Heisst das, dass Ihr Leben auch ein inszeniertes
ist?
Giger: Meine These ist ja gerade, dass jedes Leben
inszeniert ist. Wir leben heute sehr reflektiert. Was wir von uns
zeigen, wollen wir auch zeigen. Sich zu inszenieren heisst nichts
anderes, als bestimmte Facetten seiner Persönlichkeit bewusst
darzustellen. Die Frage ist also nicht, ob das Leben inszeniert ist,
sondern ob die Inszenierung gut ist. Sie ist gut, wenn sie Aspekte
der Person in den Vordergrund rückt, die zu ihr passen. Und sie
ist misslungen, wenn die Person etwas zu sein versucht, was sie nicht
sein kann.
Sie publizieren Bücher, halten Vorträge,
leiten Seminare Ihre Inszenierung ist offensichtlich erfolgreich.
Können Sie davon leben?
Giger: Echte
geistige Unabhängigkeit, wie sie mir wichtig ist, lässt
sich natürlich nicht mit dem Ziel vereinbaren, reich zu werden.
Als im eigentlichen Sinne frei Schaffender kenne ich San Precario,
den neuen Schutzheiligen für so genannte prekäre Lebensverhältnisse,
sehr wohl. Bisher hat er mich jedoch immer gut beschützt, und
ich habe volles Vertrauen, dass er dies weiterhin mit steigender Tendenz
tun wird.
Porträt:
Gesucht und gefunden
Andreas Giger sucht die Leute nicht, er wartet,
bis sie ihn finden. Dazu muss er sie wissen lassen, dass er überhaupt
existiert. Dies tut er, indem er Mails schreibt, in denen er dem Adressaten
dazu gratuliert, zur Bewusstseinselite zu gehören. Und indem
er Bücher verfasst, die von den Gedanken erzählen, die ihm
auf seinen Wanderungen durch das Appenzellerland einfallen. Seit über
einem Jahrzehnt führt er das Leben eines zurückgezogenen
Autors. Der gebürtige Schaffhauser, der das Appenzellerland als
seine Wahlheimat betrachtet, hat Geduld. Er weiss, dass die Zeit für
ihn arbeitet und das Interesse des Journalisten irgendwann geweckt
ist.
Die Mails verweisen auf seine Homepage. Doch schafft
ein Besuch (www. gigerheimat.ch) keine Klarheit. Klar ist nur, dass
hier jemand ein Spiel mit dem Adressaten treibt. So nimmt man eine
Autofahrt nach Wald im Ausserrhodischen auf sich, um diesen Menschen
zu treffen, der sich immer wieder meldet, um sich immer wieder zu
entziehen. Der Himmel weitet sich, die Strassen werden schmaler. Schliesslich
gelangt man zum Gasthof Hirschen. Der Zukunftsforscher hat den Ankommenden
schon lange erwartet und begrüsst ihn vor der Türe.
Zur Schau gestellte Ungewöhnlichkeit ist
Gigers Programm. Der 55-jährige promovierte Sozialpsychologe
bewohnt keine Stadtwohnung, wie es sich für einen Gesellschaftswissenschafter
geziemt, sondern eine Maisonette in einem Gasthof in Waldnähe.
Der Wirt redet ihn mit Herr Doktor an und nimmt mit Befriedigung zur
Kenntnis, dass ein Journalist den Weg zu seinem Gast gefunden hat.
Gigers Bekleidung - hellbraune Manchester-Hosen und ein dunkelbraunes
Gilet - erinnert an einen Privatgelehrten, der viel Wert auf seine
äussere Erscheinung legt. Das Fehlen einer Krawatte deutet andererseits
eine Lockerheit an, die schon eher zum Bild passt, das man sich von
einem macht, der sich Zukunftsphilosoph nennt.
Das Gespräch verläuft ruhig. Giger spricht
leise, fast flüsternd. Ihn amüsiert offensichtlich die Idee,
dass ihn wieder mal jemand gesucht und gefunden hat. Jede Frage ist
ihm willkommen, jeder Einwand eine Möglichkeit, ihn mit einem
Einfall zu parieren. Die Freundlichkeit, mit der er antwortet, vermag
nicht darüber hinwegzutäuschen, dass er ein Spiel mit dem
Gesprächspartner treibt. Giger will sich nicht festlegen lassen,
gibt eine Antwort und gibt doch keine. Am Ende ist klar: Er schreibt
und spricht, um zu spielen. (rs)
Andreas Giger: Die Bewusstseins-Elite. Wie sie
unsere Zukunft prägt, J. Kamphausen Verlag, Bielefeld: 2006,
S. 237, Fr. 39.50.
Interview und Porträt: René Scheu
Ein anderes Interview (ChangeX)
finden Sie hier