EINKLANG: Werden Falten sexy?
Bilder wecken Worte. Deshalb
werde ich jedes Kapitel mit einer Reihe von Worten beginnen, die ein
selbst photographiertes Bild in mir geweckt hat. Die Wahl dieser Worte
erfolgt übrigens so intuitiv wie jene der Bilder. Intuition ist
eine hervorragende Methode der unbewussten Informationsverarbeitung
und leistet deshalb gerade in Neuland gute Orientierungsdienste.
Was der Mann mit Hilfe seines
Fernglases beobachtet, ist nicht ersichtlich, und vorderhand auch gar
nicht wichtig. Entscheidend ist seine Rolle als Beobachter. Manches
lässt sich erst aus einer gewissen Distanz wirklich verstehen.
Der Beobachter ist, wie seine weiße Haarfarbe
deutlich macht, in reiferen Jahren. Es könnte also sein, dass er,
mit der nötigen Distanz zu sich selbst, sein eigenen älter
Werden studiert. Der immergrüne Efeu, der zwischen den Händen
rankt, könnte als Symbol dafür betrachtet werden, dass im
älter Werden, dem persönlichen ebenso wie dem gesellschaftlichen,
tatsächlich bisher kaum geahnte Potenziale stecken. Reife LebensQualität
zum Beispiel ...
Um Ihnen gleich zu Beginn die frohe
Botschaft nicht vorzuenthalten, werfe ich sogar meinen Vorsatz über
Bord, in diesem Buch keine Zahlen zu verwenden, und präsentiere
Ihnen (siehe Grafik) einen klaren Beleg dafür, dass Reife LebensQualität
nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist.
*Frage: Jetzt geht es
um die Entwicklung Ihrer LebensQualität während unterschiedlicher
Lebensphasen. Auf einer Skala von 1 (tiefster Wert) bis 10 (höchster
Wert) stufen Sie bitte jeweils ein, wie hoch diese im jeweiligen Alter
war, ist, bzw. sein wird.
Quelle: SensoNet 2007 (www.sensonet.org)
Was die Säulen der Grafik nämlich
auch ohne Zahlen zeigen, ist dieses: Die höchste LebensQualität
im Lebenslauf ist zwischen 50 und 64 zu finden, die zweithöchste
zwischen 65 und 79! Wenn das kein Grund ist, sich auf das älter
Werden zu freuen, wüsste ich nicht, wie ich diese Freude besser
wecken könnte. Was schade wäre, denn genau das ist mein Anliegen.
Noch freuen sich keineswegs alle
auf das älter Werden, denn noch hat das Alter ein schlechtes Image.
Deswegen sind Begriffe wie "alte Menschen" verpönt, und
wer "Senioren" als solche anspricht, hat schon verloren, weil
niemand gerne an sein Alter erinnert werden will.
Deshalb haben findige Marketing-Strategen
Begriffe erfunden, welche die Tatsache des höheren Alters beschönigen
sollen, "Golden Age" etwa oder "Best Agers". Da
solche Wort-Klauber und Trend-Erfinder in der Regel weit unter 50 Jahre
alt sind, glaube ich nicht, dass sie das mit dem "Best Age"
wirklich ernst gemeint haben. Aber nun stellt sich heraus, dass es stimmt,
dass in Sachen LebensQualität die Jahre zwischen fünfzig und
achtzig tatsächlich die besten sind.
Damit Sie mir ob der frohen Botschaft
nicht allzu euphorisch werden, muss ich zu den Daten der Umfrage, aus
der dieses Ergebnis stammt, zwei kleine Einschränkungen anbringen.
Zunächst stammen die Antworten nicht aus einer repräsentativen
Umfrage. Vielmehr vertreten die Antwortenden eine kleine, aber feine
Minderheit, nämlich die "Bewusstseins-Elite" des deutschsprachigen
Raums. Allerdings zeichnet sich diese gesellschaftliche Vorhut dadurch
aus, dass sie "sich bewusst frühzeitig mit Themen auseinandersetzt,
die noch nicht auf der allgemeinen Tagesordnung stehen, aber in der
evolutionären Logik liegen". Deshalb besteht "ihre Stärke
in der sensiblen Wahrnehmung dessen, was unser künftiges Bewusstsein
prägt".
Wenn wir dann noch hören, dass
zu den Kernthemen dieser "Bewusstseins-Elite" bewusste
LebensGestaltung, Lebens-Qualität, LebensSinn sowie Werte
gehören, sollten wir aufmerken und davon ausgehen, dass
uns diese Minderheit im Sinne eines "Frühwarnsystems"
tatsächlich etwas zu sagen hat.
Als zweite Einschränkung ist
zu erwähnen, dass die Einschätzung der eigenen LebensQualität
in den einzelnen Lebensphasen nur zum Teil auf Erfahrungen beruht. Weil
doch annähernd die Hälfte der Antwortenden unter 50 Jahre
alt ist, beruht ein Teil der Zahlen auf Vorschau und damit auf Vermutungen.
Allerdings werden diese natürlich durch die Beobachtung des persönlichen
und des allgemeinen Umfelds gestützt. Zudem haben solche Prognosen
bekanntlich die Macht, sich selbst zu erfüllen. Anders gesagt:
Die Chancen stehen gut, dass sich die Realität dem Erwartungshorizont
annähern wird. Was im Klartext bedeutet, dass Reife LebensQualität
mehr ist als ein frommer Wunsch.
Gilt dies auch für die noch
kühnere Behauptung Falten werden sexy? Dasselbe Orakel,
das schon die Verbesserung der eigenen LebensQualität zischen 50
und 80 bestätigt und prophezeit, sagt dazu ganz klar Ja. In derselben
Umfrage unterstützen nämlich stolze 86 Prozent diese Prognose:
"Im 21. Jahrhundert merken wir endlich, dass wir uns in einen Jugendlichkeitswahn
verrannt haben. Eine reife Gesellschaft braucht reife Leitbilder, denn
Weisheit ist eine Frucht des Alters. Falten werden deshalb sexy."
Die Gegenthese lautete übrigens
so: "Im 21. Jahrhundert wird der Jugendkult noch zunehmen. In einer
alten Gesellschaft ist das Gut Jugend knapp und entsprechend hoch geschätzt.
Nur wer jung und schön ist, hat deshalb Chancen, zum Leitbild zu
werden." Und noch eine interessante Information: Sieben Jahre vorher
glaubten nur 63 Prozent, dass Falten sexy werden.
Wenn Sie trotz dieser eindrücklichen
Zahlen immer noch daran zweifeln, dass Falten wirklich sexy werden,
dann haben Sie dazu guten Grund, denn die Fakten sprechen, zumindest
vordergründig, gegen diese Prognose.
Die (eigenen) Falten werden heut
zu Tage keineswegs mit Hochachtung behandelt. Im Gegenteil, sie werden
erbittert bekämpft, mit allen Mitteln. Schönheitschirurgen
können sich vor Aufträgen, Falten zum Verschwinden zu bringen,
oder sie jedenfalls besser zu kaschieren, kaum retten. Und wenn in der
Sonntagszeitung ein Filmstar eine neue Anti-Aging-Creme erwähnt,
sind am Montag die entsprechenden Regale in den Läden so leer geräumt
wie zu den schlimmsten Ostblockzeiten. Kurzum: Anti-Aging boomt und
brummt.
Nun weiß man allerdings,
dass dieses teilweise doch recht seltsame Gebaren keineswegs alle älter
werdenden Menschen einschließt. Es gibt nämlich durchaus
unterschiedliche Positionen und Haltungen zum eigenen älter Werden.
Am einen Ende des Spektrums sind jene zu finden, die diesen Prozess
voll und ganz bejahen, am anderen jene, die ihn ablehnen und aufs Heftigste
bekämpfen. Logischerweise konsumieren die einen mehr Anti-Aging-Mittel
als die anderen. Und dazwischen sind die vielen, die sich mit ihrem
eigenen älter Werden arrangieren und nichtsdestotrotz ein bisschen
besser, sprich jünger aussehen möchten, solange das mit vertretbarem
Aufwand zu erreichen ist.
Entscheidend sind also nicht
die Stirnfalten selbst, sondern das, was sich dahinter verbirgt.
Dort entscheidet sich, wie wir mit unserem älter Werden umgehen,
und was wir daraus machen. Und diese Entscheidung wiederum Sie
haben es sicher schon vermutet kann niemand anderes fällen
als Sie selbst.
Es ist jetzt gerade mal ein halbes
Jahrhundert her, dass in der Schweiz die staatliche Altersrente eingeführt
wurde. Erreichte man damals das Rentenalter, hatte man noch eine durchschnittliche
Lebenserwartung von zwei, drei Jahren. Sich vorher groß Gedanken
über die Gestaltung dieses Lebensabschnitts zu machen, wäre
also überflüssiger Luxus gewesen. Zumal es ohnehin keine großen
Auswahlmöglich-keiten gab. Nach einem anstrengenden Arbeitsleben
waren die meisten so ausgepumpt, dass sie nichts anderes wollten als
ihren Ruhestand, der eigentlich mehr ein Ruhesitz war: Auf dem Bänklein
vor dem Häuslein sitzen und Däumchen drehen.
Heute dagegen umfasst der Lebensabschnitt
nach der Pensionierung leicht noch fünfzehn oder zwanzig Jahre,
und kaum jemand will ihn als Ruheständler im Wortsinne absitzen.
Der Umgang mit dem eigenen älter Werden und Alter wird so immer
mehr zu einer Kernkompetenz von geglückter LebensGestaltung.
Um dabei eine echte Wahl treffen
zu können, brauchen wir Alternativen zu den gängigen Altersbildern.
Diese halten sich ebenso hartnäckig, wie sie simpel gestrickt sind:
Alter ist Abbau und Defizit, ist Verlust und Verzicht, ist Müh
und Plag. Basta. Aufhellungen, lichte Flecken gar, sind in diesem Bild
nicht zu finden, es dominiert ein tristes Grau.
Dass dieses Bild gänzlich
frei sei von Wahrheitsgehalt, wird kein vernünftiger Mensch behaupten.
Älter Werden und Alter sind kein reines Honiglecken. Nur: Wer will
denn wirklich die ganze Zeit Honig lecken?
Doch wer will umgekehrt unaufhaltsam
auf einen Zustand hin schreiten, dessen Bild nur Angst und Schrecken
verbreitet? Je klarer uns wird, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit
älter und alt werden, desto stärker stellt sich die Frage,
ob es denn gar nichts gäbe, worauf wir uns dabei freuen könnten.
Seit einigen Jahren gibt es eine
ganze Erfahrungs- und Bekenner-Literatur, die eindeutig zum Schluss
kommt: Ja, es gibt Grund zur Freude. Das Alter kann eine ebenso spannende
wie bereichernde Lebensphase sein. Und immer mehr Menschen leben dies
einfach vor.
Mit meinem Alter von gerade mal
Mitte Fünfzig kann ich mich noch nicht dazu zählen. Nichtsdestotrotz
interessiert mich die Frage nach den Potenzialen, die im älter
Werden stecken, und zwar gleich doppelt. Zum einen als Gestalter meines
eigenen Lebens auf der Suche nach Perspektiven für den Rest desselbigen,
und zum anderen als Beobachter der Zeitläufe, für den die
älter werdende Gesellschaft eines der ergiebigsten Studienfelder
bildet.
Dass es diese Potenziale gibt,
hatte ich schon lange vermutet, und deshalb mit einigen Freunden vor
etlichen Jahren im Internet eine Homepage zu deren Erforschung gestartet:
REIFE.CH Die Plattform für
eine neue Sicht des älter Werdens. Die Namenswahl erfolgte sehr
bewusst. Der schöne alte Begriff der Reife enthält eine klare
Botschaft: Das größte Potenzial, das im älter Werden
steckt, ist die Möglichkeit der Reifung. Und dieses Potenzial ist
allen zugänglich, dem einzelnen Menschen ebenso wie einer ganzen
Gesellschaft. Als Lohn von Reifung winkt nicht weniger als eine bessere
LebensQualität im eigenen Leben ebenso wie im Miteinander.
Wenn Sie die Potenziale, die im
Prozess der Reifung stecken, voll ausschöpfen wollen, hilft es,
sie besser zu verstehen. Einen Beitrag dazu zu leisten, ist das erklärte
Ziel dieses Buchs.
Dazu müssen wir zunächst
einen Schritt zurück treten und gucken, was läuft.
Schließlich leben wir in unseren westlichen Breitengraden in Zeiten
tief greifender Veränderungen, die oft nicht leicht zu durchschauen
sind, obwohl sie uns alle direkt als Individuen betreffen etwa
die gesellschaftlichen Megatrends Individualisierung, Werte-Wandel
und älter werdende Gesellschaft. Zur Selbstklärung ist
es deshalb zunächst nützlich, Fragen zu stellen wie: Wieso
sind wir eigentlich alle zu LebensGestaltern geworden? Was hat es mit
dem Werte-Wandel auf sich? Gibt es in der allgemeinen Orientierungslosigkeit
neue Muster zu entdecken? Was könnte zum Leitwert der Zukunft werden?
Die Antwort auf diese letzte Frage
finden Sie im ersten Teil: LebensQualität. Im zweiten Teil
geht es um den Nachweis, dass eine reife LebensQualität
eine bessere LebensQualität sein kann, ja muss. Sie werden
danach besser verstehen, warum die Aussage Die Trendsetter der Zukunft
haben graue Haare weit weniger absurd ist, als sie zunächst
klingt.
Warum es sich lohnt, diese reife
LebensQualität anzustreben, wird im dritten Teil klar, in dem eine
Vision der persönlichen Reife entwickelt wird. Dabei wird
auch deutlich werden, dass absolute Reife ein unerreichbares Fernziel
ist, zu dem hin wir aber ein Leben lang unterwegs sein können.
Eine zunehmende Zahl reifender
und reifer Menschen übernimmt die Rolle, Agent dieser kulturellen
Evolution zu sein, und so wird auch die Gesellschaft als Ganzes reifer.
Was das bedeuten könnte, wird in der Vision der gesellschaftlichen
Reife gezeigt. Fazit: Wir erleben gerade einen hochgradig spannenden
Freilandversuch der kulturellen Evolution, in dem das erste Mal in der
Geschichte der Menschheit die Möglichkeiten einer reifen Gesellschaft
erprobt werden können.
Im Schlusskapitel schließlich
wird die einzige konkrete Empfehlung des Buchs geliefert: Eile mit
Weile! Reifungsprozes-se brauchen ihre eigene Zeit. Überhastetes
Vorgehen wirft zurück. Gerade, wenn wir auf unserem Weg der Reifung
vorankommen wollen, sollten wir uns die nötige Zeit nehmen und
gönnen, auch wenn uns das Entwicklungstempo langsamer vorkommt
als uns lieb ist. Wie meine Großmutter von einem klugen Herrn
aus der Frühzeit des Automobils zu berichten wusste, pflegte dieser
seinen Fahrer zu mahnen: Fahr langsam, Johann, wir haben es eilig!
Sollten bei Ihrem eigenen, manchmal
nur langsam verlaufenden, Reifungsprozess Momente oder Phasen von Langeweile
aufkommen gönnen Sie sich diese einfach! Lange-weile heißt
ja ursprünglich nichts anderes, als eine lange Weile Zeit für
sich zu haben, Zeit, um in sich hinein zu hören, zu erfahren, was
die inneren Stimmen zum Prozess der eigenen Reifung zu sagen haben.
Wenn es diesem Buch gelingt, bei
Ihnen ein paar dieser inneren Stimmen zum Klingen zu bringen, hat es
seinen Zweck erfüllt. Für dessen Lektüre wünsche
ich Ihnen natürlich keine Langeweile, sondern anregende und hoffentlich
auch vergnügliche Impulse.
Wald AR (Schweiz), im Sommer 2007,
Ihr