Werte werden was wert
Menschen brauchen Werte als Orientierungspunkte
für ihre Lebensgestaltung. Die Frage ist deshalb nicht, ob Werte
weiterhin wichtig bleiben, sondern welche. Dabei zeichnet sich ein
fundamentaler Werte-Wandel ab: Von Geld zu Geist. Unsere Werte werden
reifer.
In grauen Vorzeiten war alles einfacher. Über
Werte brauchte man weder nachzudenken noch zu diskutieren, man hatte
sie einfach und lebte nach ihnen. Mächtige gesellschaftliche
Instanzen wie Staat oder Kirche gaben die Werte vor, nach denen man
zu leben hatte, sei es als braver Staatsbürger oder gute Mutter.
Die Lebensläufe waren klar vorgezeichnet, die mächtigen
Leitplanken der herrschenden Werte liessen Abweichungen von der Normalbiographie
nur in Ausnahmefällen zu.
So lange sind diese grauen Vorzeiten noch gar
nicht her. In der heute als so offen und weltläufig geltenden
Stadt Zürich etwa gab es bis in die Siebziger Jahre des letzten
Jahrhunderts ein Konkubinatsverbot. Heute können auch gleichgeschlechtliche
Partner den Bund fürs Leben schliessen, und das Angebot an Möglichkeiten
des Zusammenlebens (oder auch nicht) ist unübersehbar geworden,
vom Single-Leben bis zur Wohngemeinschaft, von der Patchwork-Familie
bis zum Zusammenleben auf Distanz. Wohl dominiert die klassische Familie
noch zahlenmässig, doch die anderen Zusammenlebensformen wachsen
und werden immer selbstverständlicher akzeptiert.
In nur dreissig Jahren haben wir einen entscheidenden
Wandel erlebt, der zwei Komponenten umfasst: Zum einen hat sich das
Angebot an Lebensformen und an Möglichkeiten, unser Leben zu
gestalten, drastisch ausgeweitet. Wir leben tatsächlich in einer
Multioptionsgesellschaft. Zum anderen hat die Instanz gewechselt,
die über unsere Lebensgestaltung entscheidet: An die Stelle gesellschaftlicher
Institutionen sind wir selbst getreten. Heute entscheiden wir als
Individuen selbst, wie wir unser Leben gestalten wollen.
Weil dieser Wandel sich nicht spektakulär
über Nacht ereignet hat, sondern sanft und unspektakulär
daher kam, haben ihn viele kaum bemerkt. Dabei ist hier in einem
historisch betrachtet sehr kurzen Zeitraum etwas Entscheidendes
geschehen. Wir haben in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmass das
gewonnen, was in der westlichen Kultur schon lange als Versprechen
angelegt war: ein Höchstmass an persönlicher Freiheit.
Wie jede Entwicklung von solcher Tragweite hat
auch diese ihre Schattenseiten. Je grösser die Auswahl, desto
stärker die Qual der Wahl. Freiheit erlaubt nicht nur eigenverantwortliche
Entscheidungen, sie erzwingt sie auch. Und das bedeutet: Wenn wir
uns auf dem offenen Mehr der unzähligen Möglichkeiten von
Lebensgestaltung nicht verlieren oder uns von zufälligen Launen
hin- und er schaukeln lassen wollen, brauchen wir eine verlässliche
Orientierung. Genau hier schlägt die Stunde der Werte.
Das auf sich selbst geworfene Individuum braucht
zum Steuern seines Lebensschiffs Orientierungspunkte, die verlässlicher
sind als spontane Launen oder flüchtige Meinungen. Für die
Rolle solcher verlässlicher Orientierungspunkte sind Werte hervorragend
geeignet, denn sie sitzen tief in unseren Persönlichkeitsstrukturen
und sind deshalb stabil was nicht ausschliesst, dass auch Werte
über längere Zeiträume hinweg wandelbar sein können.
Was aber sind eigentlich Werte? Die einfachste
Antwort liefert unsere Sprache gleich selbst: Werte sind das, was
uns etwas wert ist. Wenn uns etwas etwas wert ist, sind wir bereit,
da hinein auch etwas zu investieren: Zeit, Energie, Aufmerksamkeit,
Geld. Wenn nicht, lassen wir es. So wird das, was uns etwas wert ist,
also die Gesamtheit unserer Werte, tatsächlich zum zentralen
Entscheidungskriterium für unsere Lebensgestaltung.
Und noch etwas verrät unsere Sprache: Werte
können sowohl materiell als auch immateriell sein. Wenn wir von
"Wertschöpfung" sprechen, denken wir im Allgemeinen
an materielle Werte, beim Wort "Werteverlust" dagegen an
immaterielle. Der Supermarkt der Werte umfasst ein breites Spektrum.
"Werteverlust" ist übrigens ein
gern und viel beklagtes Phänomen. Bei näherem Zusehen erweist
es sich allerdings als ein auf einem Denkfehler beruhendes Phantom.
Weil wir Menschen zur Orientierung bei unserer Lebensgestaltung immer
Werte brauchen, und zwar mehr denn je, können die Werte insgesamt
nicht einfach verschwinden. Werte als Orientierungspunkte gab es immer
und wird es immer geben.
Wie kommt es dann, dass viele Beobachter des Zeitgeschehens
trotzdem einen Wertverlust konstatieren? Dafür gibt es zwei Gründe.
Der erste besteht darin, den ganzen Kanon möglicher und vorhandener
Werte auf jene Werte zu reduzieren, die einem selber in den Kram passen.
Wer etwa eine strikt konservative Sexualmoral zu den wichtigen Werten
zählt, wird tatsächlich ein Schwinden dieser Werte feststellen
und dann einen Werteverlust beklagen. Dabei übersieht er, dass
dafür andere Werte wichtiger geworden sind. Bei einer weniger
engen Betrachtungsweise konstatieren wir also keinen Werteverlust,
sondern einen Werte-Wandel.
Der zweite Grund liegt darin, dass wir erst daran
sind, wieder ein Bewusstsein für Werte zu entwickeln. Solange
nämlich die dominierenden Werte klar und selbstverständlich
waren, brauchte sich niemand bewusst damit zu beschäftigen, über
Selbstverständliches muss man nicht nachdenken. Das ist wie beim
Autofahren: So lange als glatt läuft, müssen wir uns als
Fahrende nicht bewusst damit beschäftigen, wir können mit
der Begleitung plaudern, vom letzten Urlaub träumen oder uns
um die nächste Steuerrechnung Sorgen machen. Erst wenn der Verkehr
stockt oder wir eine Polizeisirene hören, schalten wir vom Autopiloten
wieder auf bewusste Steuerung um.
In dieser Situation sind wir jetzt. Die alten
Werte haben ihren selbstverständlichen Charakter verloren, und
das Angebot im Supermarkt der Werte, aus dem wir auswählen dürfen
und müssen, ist so unüberschaubar geworden wie die Zahnpastaregale
in unseren realen Supermärkten. Dazu kommt, dass wir durch andere
Kulturen, derzeit vor allem vom Islam, auch von aussen dazu gezwungen
werden, uns unsere Gedanken darüber zu machen, was denn eigentlich
unsere Werte sind und welche davon wir unbedingt verteidigen wollen.
Kurzum: Es bleibt uns, als Einzelne wie als Gesellschaft,
gar nichts anderes übrig, als uns bewusst mit unseren Werten
zu beschäftigen. Allerdings sind wir in dieser Tätigkeit
noch ungeübt. Solche Prozesse der Bewusstwerdung eines bisher
weitgehend ausgeklammerten Themas brauchen ihre Zeit. Und bis es so
weit ist, entsteht oft der Eindruck eines nackten Chaos. So auch bei
der Diskussion um Werte.
Marktschreierisch werden uns alle möglichen
und unmöglichen Werte angepriesen, gern auch im Multipack als
Sonderangebot. Da den Überblick zu behalten oder gar klare Entscheidungen
zu treffen, fällt schwer. Dazu kommt, dass Werte in der öffentlichen
Diskussion, etwa in den Medien, nach wie vor kaum ein Thema sind.
Löbliche Ausnahmen wie diese Zeitschrift können nicht darüber
hinweg täuschen, dass das Individuum mit der Frage, nach welchen
Werten es sein Leben ausrichten soll, ziemlich allein gelassen wird.
Und sich, wenn es sich dieser Frage in bewusster Auseinandersetzung
stellt, oft ziemlich isoliert fühlt.
Dabei sind die Menschen, für welche die Frage
nach ihren Werten zu einem zentralen Thema geworden ist, längst
keine kleine radikale Minderheit mehr, sondern zumindest eine respektable
Minderheit. Sie bilden gleichsam den gesellschaftlichen Sauerteig,
der frühzeitig Entwicklungen vorweg nimmt, welche später
die ganze Gesellschaft prägen werden. Im Klartext: Was Werte-Wandel
heisst und heissen wird, sehen wir am besten bei jenen Menschen, die
sich schon heute bewusst mit Werten beschäftigen.
Dieser Blick zeigt, dass sich die Wolken des scheinbar
chaotischen Werte-Wandels zu lichten beginnen. Die Horrorvorstellung,
dass die konsequente Umsetzung des Grundsatzes, wonach jeder nach
seiner Façon selig werden solle, zu einer heillosen Fragmentierung
und Zersplitterung der Werte-Landschaft führen müsse, erweist
sich als unbegründet. Es gibt vielmehr Anzeichen dafür,
dass diese Werte-Landschaft gerade dabei ist, sich neu zu ordnen.
Eine Rückkehr zu den ebenso wohl geordneten
wie starren und einengenden Verhältnissen der eingangs beschworenen
früheren Zeiten, in denen alle dieselben Werte hatten, erscheint
allerdings ausgeschlossen, zu fortgeschritten ist der Trend zur Individualisierung,
und das ist auch gut so. Was allerdings nicht ausschliesst, dass es
sehr wohl wieder Gemeinsamkeiten geben wird.
Als Beispiel können wir jenen Wert heran
ziehen, der sich immer mehr als zukunftsträchtiger Leitwert heraus
schält: Lebensqualität. Was genau für den einzelnen
Menschen Lebensqualität bedeutet, kann nur dieser Mensch selbst
entscheiden. Doch es kann dennoch Einigkeit darüber herrschen,
dass zu Lebensqualität bestimmte Elemente unbedingt dazu gehören,
zum Beispiel, am richtigen Ort zu leben, das heisst an einem Ort,
an dem es einem wohl ist und der einem Kraft gibt. Ob das die Stadt
ist oder das Land, ist je nach Person (oder auch Lebensphase) verschieden,
doch der richtige Ort ist für alle ein wichtiges Element von
Lebensqualität.
Sein Leben nach dem Leitwert Lebensqualität
auszurichten ist dies nur nebenbei kein Egotrip. Zur
eigenen Lebensqualität gehören soziale Beziehungen unbedingt
dazu, es gibt keine Selbstverwirklichung ohne die anderen. Individualisierung
im Sinne der Suche nach Eigen-Sinn bleibt ein zentraler Wert, doch
geht es dabei immer auch um die Balance zwischen sich selbst und den
anderen.
Lebensqualität als Leitwert ist Teil eines
umfassenden Phänomens des Werte-Wandels: Die Prioritäten
verschieben sich weg von Quantität hin zu Qualität, von
Materie zu immateriellen Werten, von Geld zu Geist. Die Erkenntnis,
dass die Jagd nach immer noch mehr Geld nicht glücklich macht,
setzt sich ganz allmählich durch. Das eigentliche postmaterielle
Zeitalter, auch schon vor Jahrzehnten ausgerufen, beginnt erst jetzt.
Das zeigt sich besonders schön in den gewandelten
Vorstellungen darüber, was denn heute und morgen Luxus sei, also
besonders viel wert. Immer weniger werden darunter eigentliche Luxus-Güter
verstanden, vielmehr immaterielle "Güter" wie Ruhe,
Sicherheit, intakte Natur, aber auch Freundschaft und Liebe. Und dazu
Seelenzustände wie Gelassenheit, Souveränität, Echtheit,
Zufriedenheit und Lebens-Sinn.
Das alles sind, was die Leserinnen und Leser dieser
Zeitschrift besonders interessieren dürfte, Werte, die man auch
als "reife Werte" bezeichnen könnte. Unsere älter
werdende Gesellschaft wird sich stärker nach diesen reifen Werten
ausrichten als zuvor. Und das ist, nehmt Alles nur in Allem, eine
erfreuliche Perspektive.
Dieser Artikel
erscheint in VISIT, der Zeitschrift von Pro Senectute des Kantons
Zürich, im November 2006.