Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

4. Anforderungsprofil an den neuen Leit-Wert

Es ist eine evolutionär bewährte Strategie des Menschen, nicht vorschnell zu wechseln. Selbst wenn die Mängel des Alten offenkundig sind, lassen wir es nicht los – es sei denn, es stünde eine wirklich überzeugende Alternative zur Verfügung. Das gilt für die Wahl eines Politikers genau so wie für die Wahl unserer Leit-Werte.
Es genügt also nicht, auf die Mängel einer einseitig materialistisch ausgerichteten Orientierung zu verweisen. Selbst wenn immer mehr Menschen klar wird, dass es so nicht weitergehen kann, so halten sie daran doch fest, weil noch nichts Neues in Sicht ist, das glaubhaft verspricht, besser zu sein. Der neue Leit-Wert muss deshalb  grundsätzlich zwei Bedingungen erfüllen: Er muss die Vorzüge des alten ebenfalls aufweisen. Und er darf dessen Nachteile nicht haben.
Als die beiden wichtigsten Vorzüge des Konzepts Lebensstandard haben wir Universalität und Einfachheit identifiziert. Über beides muss auch die ideale Kandidatin oder der ideale Kandidat für den Posten des neuen Leit-Werts verfügen. Der neue Leit-Wert muss, wenngleich nicht alles, so doch möglichst vieles, was in unserem Leben wichtig ist, abdecken, und zwar mit einer möglichst einfachen Grundidee, die von allen sofort und problemlos zu begreifen ist.
Allerdings, so einfach ist die Sache mit der Einfachheit denn doch nicht. Es gibt nämlich zwei Arten von Einfachheit. Für die eine Art steht das Vereinfachungsprinzip der Geldwirtschaft. Dabei wird alles über einen Kamm geschert, wird alles und jede(r) auf den eindimensionalen Geldwert reduziert. Die bunte, vielfältige Wirklichkeit wird geradezu vergewaltigt, indem man einen Ausschnitt davon für absolut gültig erklärt und den ganzen Rest ausblendet.
Die andere Form von Einfachheit besteht aus einer Komplexitätsreduktion durch Ausbildung einer neuen Ordnung auf höherer Ebene, auch Emergenz genannt. Das klingt zunächst furchtbar kompliziert, begegnet uns jedoch täglich. Ein Beispiel: Solange wir Menschen ausschließlich als Individuen betrachten, die Beziehungen zu anderen Individuen haben, bildet die Beschreibung aller Einzelbeziehungen zwischen Eltern und Kindern, und mit Geschwistern, Großeltern, Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen ziemlich schnell ein reichlich komplexes und kaum noch zu durchschauendes Geflecht von Einzelbeziehungen. Erst wenn wir unser Blickfeld erweitern und damit auch die nächst höhere Ebene ins Auge fassen, ergibt sich durch die Einführung des Begriffs der Familie eine massive Reduktion dieser Komplexität. Natürlich bleiben die Einzelbeziehungen innerhalb dieser Familie nach wie vor komplex, doch die Idee der Familie, zu der alle irgendwie gehören, macht das Verständnis des Ganzen wesentlich einfacher.
Es versteht sich von selbst, dass das Gebot der Einfachheit für unseren gesuchten neuen Leit-Wert nur von dieser zweiten Art sein kann. Gesucht wird, um ein Bild aus der Natur zu verwenden, gleichsam der Pilzhut, der mit seiner einfachen und klaren Form zugleich immer auch auf das unterirdische Mycel verweist, das den eigentlichen Pilz ausmacht und aus einem hochgradig komplexen System von ineinander verschlungenen Pilzfäden besteht. Der sichtbare Pilzhut ist also einfach, und integriert und überdacht doch zugleich auch eine komplexe Realität. Diesem Pilzhut sollte unser neuer Leit-Wert gleichen.
Und universal muss er sein, also etwas, über das sich Menschen überall auf der Welt und bei allen möglichen Gelegenheiten unterhalten und austauschen können, so wie dies beim Thema Geld möglich ist. Mit einem nicht ganz unwichtigen Unterschied: Beim Austausch über Geld müssen wir uns (manchmal) bewusst sein, dass wir von unterschiedlichen Währungen reden. Das ist nicht allzu kompliziert. Anspruchsvoller wird die Sache, wenn nicht mehr ganze Länder oder Wirtschaftsräume den Wert einer Währung definieren, sondern jeder einzelne Mensch. Und davon müssen wir bei unserem neuen Leit-Wert ausgehen: Es wird dafür keine allgemein gültigen Wert-Maßstäbe wie beim Geld mehr geben, und auch keine für große Gemeinschaften definierten Währungs-Werte, die leicht umzurechnen sind. Die inhaltliche Definition des neuen Leit-Werts muss vielmehr dem Individuum überlassen bleiben.
Das bedeutet nicht, dass jede und jeder darunter etwas völlig anderes verstehen wird. Selbstverständlich wird es Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in den Vorstellungen darüber geben, was dieser neue Leit-Wert bedeutet. Doch die letzte Definitionsmacht wird und muss das Individuum haben. Wir haben nicht über Jahrhunderte für unsere individuellen Freiheiten gekämpft, um uns diese Freiheit  bei der wohl wichtigsten Wahl wieder nehmen zu lassen, die es in unserem Leben gibt: die Wahl unseres Leit-Werts, die Entscheidung darüber, worum es im Leben eigentlich gehen soll.
Die Forderung an den gesuchten neuen Leit-Wert, universal zu sein, bedeutet also viel mehr, dass er gemeinsame Fragen stellen muss, als dass er allgemein gültige Antworten liefern soll.
Ein Teilaspekt der Universalität des Geldes ist dessen Standardisierbarkeit: Der Geldwert materieller Güter lässt sich jederzeit mit einem verbindlichen Maßstab messen – und damit vergleichen. Diese faszinierende Möglichkeit wird der neue Leit-Wert vermutlich nicht zu bieten haben. Wenn er jedoch im Sinne der Annäherung an dieses Modells ebenfalls so etwas wie einen vergleichbaren Maßstab bietet, also die Möglichkeit einer Quasi-Messung, kann das seiner Attraktivität kaum schaden...
Bei den zu vermeidenden Nachteilen des alten Leit-Werts Geld haben wir dessen Eindimensionalität bereits abgehakt. Der neue Leit-Wert muss vieldimensional sein und so der bunten Vielfalt des Lebens gerecht werden. Und er muss das Suchtpotenzial der materiellen Werte-Orientierung vermeiden, die Maßlosigkeit der Gier nach immer mehr vom Gleichen.
Das geht nur, wenn wir uns mit unserem neuem Leit-Wert auf einen Weg machen, der das Ankommen nicht nur kennt, sondern als höchstes und sinnvollstes Ziel beinhaltet. Der Drang nach Geld und materiellen Gütern kennt dieses Ankommen nicht, kaum hat man ein Ziel erreicht, lockt schon das nächste, denn es gibt immer die Möglichkeit, noch mehr zu ergattern.
Ankommen meint dagegen, dass es einen Punkt der Sättigung gibt, einen Ort, an dem es genug ist, an dem es weder möglich noch verlockend ist, noch weiter zu gehen. Vermutlich ist dieser Punkt von uns höchstens in den seltensten Fällen wirklich zu erreichen, es geht vielmehr um Annäherung daran. Für unseren neuen Leit-Wert heißt das: Er soll uns die Möglichkeit geben, die darin enthaltenen Einzel-Werte zu optimieren. Und er soll uns vom Zwang zur Maximierung befreien.
Auch die letzte Anforderung ist elementar: Der neue Leit-Wert darf den alten nicht beseitigen, verdrängen, ersetzen oder sonst wie ausschließen wollen, er muss ihn vielmehr integrieren. Oder, noch besser, sich bewusst werden, dass er Teil einer Polarität ist, wie jener von materiellen und immateriellen Werten, von Geld und Geist, von Quantität und Qualität. Und Polaritäten sind immer eine Herausforderung an uns, zwischen den beiden Polen eine vernünftige, lebbare und sinnvolle Balance zu finden...

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Polaritäten

Manchmal, vor allem auf meinen Spaziergängen, überkommt es mich: Mein innerer Dialog stellt auf Reime um, zunächst noch mehr oder weniger sinnvolle; doch immer stärker werden die Silben, die mein Gehirn produziert, sinnlos. Und wenn ich weit und breit allein bin, geschieht es gar, dass dieses sinnlose innere Gebrabbel laut und hörbar wird. Wozu dann passt, dass ich anfange, die kindischsten Grimassen zu schneiden.

Bevor Sie jetzt den psychiatrischen Notfalldienst alarmieren, kann ich Sie beruhigen: Dieser Zustand leichter geistiger Verwirrung hält nie lange an. Vielmehr kehrt mein Gehirn jeweils bald wieder zu seiner normalen Tätigkeit zurück. Und in diesem Zustand kann ich erkennen: Die gelegentliche Produktion von völligem Unsinn macht für mein Gehirn Sinn. Und damit natürlich auch für mich. Schließlich bestehen meine Tätigkeiten zu einem wesentlichen Teil aus der Produktion von Sinn. Ich versuche, in Worten oder Zahlen so etwas wie Sinn zu entdecken – und diesen zu vermitteln.

Doch kein Gehirn kann ununterbrochen Sinn produzieren, so wenig wie kein Körper ununterbrochen Höchstleistungen erbringen kann. Und wie der gesunde Körper als Ausgleich zur Anstrengung Entspannung braucht, und umgekehrt, so braucht der üblicherweise Sinn produzierende Geist Momente des Unsinns.

Natürlich ist dies das Polaritäten-Prinzip auf die Spitze getrieben, aber gerade von dort aus erkenne ich dessen universales Walten am besten. Und die Anstrengungen, zu dieser Erkenntnis zu gelangen, sind der Mühe wert. Anstrengungen sind es deshalb, weil wir das Denken in Polaritäten nicht wie anderes früh gelernt haben. Der uns üblicherweise vermittelte Denk-Stil basiert nämlich nicht auf Polaritäten, sondern auf Gegenteilen. Gegenteile aber schließen sich gegenseitig aus. Die Pole einer Polarität dagegen ergänzen, ja bedingen sich gegenseitig.

Die Wahl zwischen zwei Gegenteilen ist digital, es gibt nur das eine oder das andere. Bei er „Wahl“ zwischen den beiden Polen einer Polarität dagegen geht es analog zu, das heißt, wir können einen Punkt der Balance finden, der ein fließendes Gleichgewicht zwischen den Polen schafft.

Die Ergänzung „fließend“ verweist darauf, dass dieser Punkt der optimalen Balance kein fixer Ort ist, sondern sich je nach Situation und Bedarf verschieben kann. Dabei habe ich gelernt, dass sich dieses optimale Fließgleichgewicht mit rationalen Methoden nicht berechnen oder gar planen lässt. Vielmehr gibt es nur ein „Rezept“: Sich dem Fluss des Lebens anvertrauen und dabei seiner Intuition vertrauen.

 Zwischen zwei Polen tanzen zu können, braucht Übung und Erfahrung, oder, blumiger formuliert, ist die Frucht eines Reifungsprozesses. Der übrigens auch zur Erkenntnis führen kann, dass man zwischen Polen wie Lebensstandard und Lebensqualität nicht immer mit großen Sprüngen tanzen muss. Manchmal genügt es auch, sich dazwischen mehr oder weniger elegant durchzuschlängeln.