Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

3. Materialistische Sackgassen

Das Problem ist also nicht der Materialismus an sich, sondern dessen maßlose Übertreibung, die sich zur Überhöhung als eigentliche Quasi-Religion gesteigert hat: Materiellen Wohlstand anzuhäufen, wird zum eigentlichen Lebensinhalt verklärt, und der einzige Maßstab zur Bewertung von Dingen und Menschen wird deren materieller Wert. Dieser Weg führt zwangsläufig in die Sackgasse, oder präziser, in deren drei. Die drei Fallen des Materialismus sind:


1. Uneinlösbare Versprechen: Wie jede Religion, die etwas auf sich hält, verspricht auch die Quasi-Religion Materialismus ihren Anhängern zwei wertvolle „Güter“ als Lohn: Glück und Sinn. Doch dieses Versprechen erweist sich leider als Illusion. Das lässt sich leicht statistisch nachweisen: Während in unseren westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten der materielle Wohlstand unaufhörlich gewachsen ist, also eine aufwärts strebende Kurve bildet, ist das durchschnittliche subjektive Empfinden von Glück (oder Zufriedenheit) im selben Zeitraum ungefähr stabil geblieben, zeigt also einen flachen Kurvenverlauf. Gäbe es den Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Glück tatsächlich, müssten beide Kurven parallel ansteigen. Doch das ist offensichtlich nicht der Fall.


Erweitert man solche Studien auf einen globalen Maßstab, zeigt sich, dass es ein bestimmtes gesichertes Minimaleinkommen braucht, um halbwegs glücklich zu sein. Bei Menschen, die unter diesem Minimum leben müssen, bewirkt ein Anstieg des Einkommens deshalb tatsächlich einen Anstieg des subjektiven Glücksempfindens. Doch dieser Zusammenhang hört auf, wenn der Grenzwert überschritten wird. Dann bringt  mehr Einkommen keinen Zuwachs an Glück mehr.


Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir bei der Bewertung unseres Lebensstandards nicht in absoluten Werten denken, sondern in relativen, das heißt, wir schielen ständig auch auf die Nachbarn. Steigt deren Lebensstandard im selben Ausmaß wie unserer, haben wir nichts davon. Das klingt zwar pervers, ist aber ebenfalls eine längst empirisch erhärtete Tatsache. Und selbst wenn wir uns in diesem Rattenrennen ein Stück weit von unseren Gegnern absetzen können, erweist sich der so erzielte Glücksgewinn als flüchtig und vergänglich. Zum dauerhaften Glück dagegen, das wir besser als Zufriedenheit bezeichnen, weil dauerhaftes Glück ein Widerspruch in sich ist, kann eine Erhöhung des Lebensstandards offenbar kaum etwas beitragen.


Selbiges gilt auch für das Versprechen von Sinn. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen, und deshalb ahnen wir alle zumindest, dass der Sinn des Lebens nicht darin bestehen kann, möglichst viele materielle Reichtümer anzuhäufen. Wäre ja auch noch schöner, wenn es so einfach wäre...


2. Eindimensionalität: Die verführerische Verlockung von Geld als universalem Wertmaßstab ist bei näherer Betrachtung eine Falle, weil sie nicht nur alles und jedes, sondern auch alle und jeden auf eine einzige Dimension reduziert, nämlich auf Geldwert: Was kein Geld wert ist, ist überhaupt nichts wert. Das klingt zwar für einfache Gemüter verlockend einfach, nur ist dieses Modell leider zu einfach. Viel zu einfach. Wenn wir die ganze vielschichtige, bunte und vieldimensionale Wirklichkeit von Dingen, vor allem aber von Menschen, brutal auf eine einzige Dimension, eben den Geldwert, eindampfen, erweisen wir uns als „terribles simplificateurs“, also als schreckliche Vereinfacher.


„Money can’t buy you love!“, heißt eine Liedzeile der guten alten Beatles. Sie verweist auf die elementare Tatsache, dass es in einem menschlichen Leben – und im menschlichen Zusammenleben - viel Wertvolles gibt, das sich mit Geld weder aufwiegen noch kaufen lässt. Die zwanghafte Reduktion auf die eine Dimension des materiellen Werts bildet also eine Vergewaltigung der Wirklichkeit und des Lebens. Was für die psychische Gesundheit von Individuen und Gesellschaften auf Dauer nicht gut gehen kann.


3. Suchtcharakter: Als naive Kinder haben wir alle mal daran geglaubt, mehr vom Selben sei auf alle Fälle besser. Bis wir uns eines Tages an Schokoladenpudding oder so überfressen haben. Und damit lernten, dass dieser Grundsatz auch bei den erstrebenswertesten Dingen nicht immer gilt. Es gibt für alles so etwas wie das richtige Maß, und dabei kann weniger manchmal tatsächlich mehr sein.


Der maßlose Materialismus hat diese Lektion nie gelernt. Und entwickelt deshalb zwei Charakteristika, die typisch sind für Suchtverhalten: totale Fixierung auf einen einzigen Lebensinhalt, und unbezwingbaren Drang nach stetiger Steigerung der Dosis.


Sucht ist dabei nicht gleichzusetzen mit Abhängigkeit. Abhängigkeit gehört unabdingbar zu unserem Leben, auch wenn uns dieser Gedanke nicht leicht fällt. Denn wir sind von vielem und von vielen abhängig, von gesunder Luft und funktionierender Müllabfuhr, vom Wohlwollen unserer Mitmenschen, und natürlich auch von so manchem materiellem Wert. Ein Mensch mit Diabetes ist abhängig von Insulin, und davon unterscheidet sich jemand, der für sein Wohlbefinden täglich ein oder zwei Gläschen Wein braucht, nur graduell. Ein ordentliches Maß an Abhängigkeit gehört ganz einfach zum menschlichen Leben.


Und mit all diesen Abhängigkeiten, auch mit jenen von materiellen Werten, also von Geld, können wir gut leben, solange sie nicht die feine Linie zur Sucht überschreiten. Diese beginnt dort, wo wir an nichts anders mehr denken können als an das, wovon wir abhängig sind, wenn dieses also zum einzigen Lebensinhalt wird. Wenn dies eintritt, schneiden wir uns selbst von der ganzen Fülle des übrigen Lebens ab, was eine enorme Verarmung bedeutet.


Das zweite zentrale Element von Sucht ist der Drang nach stetiger Steigerung der Dosis. Der Alkoholiker kennt, anders als der Genusstrinker, keinen optimalen Punkt der Sättigung, er will mehr und immer mehr, bis zum unweigerlichen Zusammenbruch. Und wenn Sie jetzt „Alkohol“ durch „Geld“ ersetzen, haben Sie eine hübsch passende Beschreibung der Finanzkrise...


In der Tat: Völlig fixiert zu sein auf Gelderwerb, dabei immer mehr und noch mehr zu wollen, und wegen des so entstehenden Tunellblicks sowohl alle Risiken auszublenden als auch den Illusionscharakter der damit verbundenen Heilsversprechen zu übersehen – das ist die perfekte Beschreibung nicht nur eines Süchtigen, sondern eben auch des maßlosen Materialismus.


Auch Süchtige haben gelegentlich Momente der Klarheit, in denen sie erkennen, dass ihre Sucht für sie selbst höchst gefährlich ist – und für ihre Umwelt. Die Parallele ist unübersehbar: Der maßlose Materialismus der Akteure des Finanzsystems, aber, wenngleich gemildert, von uns allen, gefährdet ja nicht nur unsere Wirtschaft und unsere Seelen. Er ist auch die tiefere Ursache der ökologischen Krisen, in denen wir schon stecken und die noch auf uns zukommen.


Wenn der Süchtige erkennt, dass es so nicht weitergehen kann, ist der erste wichtige Schritt getan, selbst wenn die alternativen Pfade sich noch im Nebel der Ungewissheit verlieren. Vielleicht verschafft uns ja die gegenwärtige Krise diesen Augenblick der Klarheit, in dem wir erkennen, dass maßloser Materialismus in die Sackgasse führt. Noch immer gilt die alte Volksweisheit: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung...

 

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Preisfrage

In Goethes Faust lautet die berühmte Gretchenfrage: »Sag, Heinrich, wie hältst Du es mit der Religion?« Wenn denn der Materialismus tatsächlich zur Quasi-Religion geworden ist (siehe Spalte links), dann lautet für mich die analoge Frage: »Sag, Andreas, wie hältst Du es mit dem Streben nach materiellen Werten?«


Meine Antwort lautet: mäßig, aber regelmäßig. Um meinen bescheidenen Lebensstandard zu finanzieren, bin ich auf entsprechende Einkünfte angewiesen, und das bedeutet, dass auch ich einen Teil meiner Ressourcen, also Zeit, Aufmerksamkeit, Energie, Können und so in das Streben nach materiellen Werten investieren muss.


Und wo ich schon dabei war, hätte ich doch die Gelegenheit nutzen können, um über diesen Minimalbedarf hinaus etwas materiellen Mehrwert für mich zu schaffen. Könnte man meinen. Hat aber nie geklappt. Über die Gründe dieses Phänomens habe ich gelegentlich gegrübelt. Und bin dabei auf hübsche Hypothesen gestoßen. Wie etwa jene, ich sei halt einfach mehr an geistigen Werten interessiert als an materiellen. Was ich als ausgesprochen edel empfand.


Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich geschnallt habe, dass es diese ganze idealistische Verbrämung des Sachverhalts gar nicht braucht. In Wirklichkeit ist nämlich meine Weigerung, mehr in die Jagd nach materiellen Gütern zu investieren als unbedingt nötig, das Ergebnis einer kühlen, nüchternen und rationalen Kalkulation.
Wie jeder Mensch verfüge ich über eine begrenzte Menge an jenen Ressourcen, die ich in meine Lebensgestaltung investieren kann. Wenn ich aber nicht alles, was ich allenfalls möchte, erreichen kann, muss ich wählen, muss mich entscheiden, in was ich diese beschränkten Ressourcen investieren will. Und wie bei jeder Investitionsentscheidung erstelle ich dafür eine Rechnung: Was kostet mich diese Investition? Und was ist der zu erwartende Ertrag?


So wird alles zur Preisfrage: Ist mir der zu erwartende Ertrag den zu entrichtenden Preis wert? Wozu auch jene Dinge gehören, auf die ich wegen des Preises für die Investition verzichten müsste.
In meinem Fall wurde mir im Laufe der Zeit immer klarer, worauf ich hätte verzichten müssen, wenn ich mehr in den Gelderwerb investiert hätte. Auf meine geistige Unabhängigkeit zum Beispiel. Auf die Freiheit, meine Zeit weitgehend selbst gestalten zu können. Auf das Vergnügen, viel Zeit zu Hause mit meiner Katze zu verbringen. Kurzum: Auf wichtige Elemente meiner Lebensqualität. Und genau dieser Preis war mir schlicht zu hoch.


„There is nothing like a free lunch“, sagen eingefleischte Investoren, und der etwas bescheidenere Volksmund meint, es gäbe nichts umsonst im Leben. Recht haben sie beide. Immer, wenn wir alles auf eine Karte setzen, wie dies beim maßlosen Materialismus der Fall ist, geht dies auf Kosten anderer Lebensbereiche. Also habe ich mich entschieden.


Gegenüber den Versuchungen der Religionen bin ich Gott sei Dank immun, auch gegen jene der Quasi-Religion Materialismus, die das Streben nach materiellen Werten zum Selbstzweck erheben will. Doch ein Bibelwort hat mich seit Jugendzeiten begleitet, weil es Anlass für eine sinnvolle Besinnlichkeit liefert – vielleicht auch Ihnen: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er alles Gold der Welt gewänne – und nähme doch Schaden an seiner Seele?“