Als
ich ein Student war – lang, lang ist’s her – pflegte unser
Professor die Geschichte zu erz?hlen, dass er bei einem Ferienjob in der
eigenen Studentenzeit von einem Arbeiter gefragt wurde, was er denn studiere.
Und als er ?Sozialpsychologie“ antwortete, verstand der zwar nix, meinte aber
trocken: ?Sozial ist immer gut!?
Mag
sein, dass der gute Mann dabei an irgendwelche sozialdemokratische oder
sozialistische Ideen gedacht hat, doch die Wahrscheinlichkeit ist gro?, dass er
sozial ganz allgemein als Hinwendung zu den Mitmenschen verstand. (Schlie?lich
kommt ?sozial“ vom lateinischen ?socius“ = der Begleiter.) Und diese Hinwendung
zu den Mitmenschen ist tats?chlich nicht nur gut, sondern auch unvermeidlich.
Theologisch
betrachtet kommt dieses soziale Erbe der Menschheit schon in der
Sch?pfungsgeschichte vor: ?Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!?
Nüchterner k?nnen wir es auch als biologische Mitgift der Evolution betrachten:
Der Mensch ist ein Hordentier. Wer in den meisten Zeiten der
Menschheitsgeschichte auf den Einsiedler-Trip ging, merkte schnell: Kein
überleben ohne die andern.
Daran
hat sich bis heute nichts ge?ndert, im Gegenteil: In einer so extrem
arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen h?tte jemand, der jeglichen
sozialen Kontakt vermeidet, wenig überlebenschancen. Doch für uns, denen es
l?ngst nicht mehr ums nackte überleben geht, l?sst sich die Formel abwandeln:
Keine Lebensqualit?t ohne die anderen.
Das
ist nicht direkt eine überraschung. Durch Augenschein und aus unz?hligen
Studien wissen wir um den hohen Stellenwert zwischenmenschlicher Beziehungen.
So steht zum Beispiel eine lebenslange Liebesbeziehung nach wie vor ganz weit
oben auf der Wunschliste der meisten Menschen, auch wenn es um die Realisierungschancen
bekanntlich nicht zum Besten steht. Auch ein intakter Familien- und
Freundeskreis steht im Zentrum der allgemeinen Werte-Landschaft.
Fragt
man Menschen danach, wo sie für ihr Leben Sinn finden, steht ?in meinen
Beziehungen zu anderen Menschen“ fast gleichauf mit ?in meinem Inneren“ ganz
zuoberst, deutlich vor allen anderen Sinn-Quellen.
Neu
ist h?chstens, dass menschliche Beziehungen heute auch im virtuellen Raum
stattfinden k?nnen, so dass aus Freundeskreisen Beziehungsnetze werden. Der
Erfolg von Kontaktplattformen wie ?Facebook“ macht deutlich, dass das Bedürfnis
nach sozialen Kontakten ungebrochen ist, auch wenn es sich in neue Gew?nder
kleidet.
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Wie
wichtig unsere menschlichen Beziehungen, vor allem die nahen, für unsere
Lebensqualit?t sind, zeigt sich in einem Ergebnis der Glücksforschung –
immerhin ein verwandtes Gebiet. Demnach ist das menschliche Empfinden für Glück
(und damit vermutlich auch für Lebensqualit?t) sehr elastisch und pendelt immer
etwa in derselben Bandbreite. Ausschl?ge nach oben wie nach unten sind nur
kurzfristiger Art, selbst nach einem Lottogewinn oder einer Querschnittl?hmung
pendelt sich das Glücks-Ma? nach einiger Zeit wieder um den Ausgangspunkt herum
ein. Das hei?t, wir gew?hnen uns an alles. Mit zwei Ausnahmen: Dauerhafter
Ehestreit und der Verlust eines geliebten Menschen führen zu Glücks-Verlusten,
die sich nicht mehr korrigieren lassen.
Und
auch wenn wir unser Radar weiter schweifen lassen, sto?en wir überall auf
Belege für das starke menschliche Bedürfnis nach anderen. Statt vor der Glotze
hocken zu bleiben, gehen wir ins Kino oder Sportstadion, nur um dort mit lauter
Unbekannten gemeinsam das Spektakel zu genie?en. Und das Modell der Telearbeit,
bei der alle zu Hause vor ihrem mit der Firma vernetzten Computer sitzen, hat
sich deswegen nicht durchsetzen k?nnen, weil die meisten Angestellten es nicht
ohne ihren Kollegenkreis aushielten. Selbst wenn dort mürrische Gesichter und
banale Gespr?chsthemen vorherrschen, ziehen die meisten Menschen die gemütliche
Horde dem Alleinsein vor.
All
diese Belege sind so überw?ltigend, dass sie ernsthaft an einer These zweifeln
lassen, welche von schwarz malenden Zivilisationskritikern gerne vertreten
wird. Demnach führe der unübersehbare Megatrend Individualisierung zwangsl?ufig
dazu, dass wir alle zu v?llig ichbezogenen und abgekapselten Individuen würden,
die untereinander jeden Kontakt verl?ren. Atomisierungs-Tendenz wird dieser
vermeintliche Trend auch genannt, doch k?nnen wir beruhigt feststellen, dass
diesen Einzelatomen genau wie in der Chemie ein unwiderstehlicher Drang
innewohnt, sich zu Molekülen zusammen zu fügen.
Anders
als in der Chemie klappt bei der Beziehungsaufnahme menschlicher Atome nicht
alles automatisch und von selbst. Sozial- und Kommunikationskompetenz müssen
gelernt werden. Je mehr uns bewusst wird, wie wichtig die Sph?re des Sozialen
für unsere Lebensqualit?t ist, desto mehr werden wir in sie investieren, vor
allem auch die Bereitschaft zu lernen.
Ist
sozial also wirklich immer gut? Ich habe da so meine Zweifel, und zwar
ausschlie?lich wegen des Ausschlie?lichkeitsanspruchs, der im W?rtchen ?immer“
steckt. Mir geht manchmal ein Spruch von Blaise Pascal durch den Kopf, der
meint, alles Elend dieser Welt rühre daher, dass es der Mensch nicht aushalte,
l?ngere Zeit allein mit sich in einem Zimmer zu sein. So weit würde ich
natürlich nicht gehen. Aber bedenkenswert scheint es mir schon, bei aller
Lobpreisung der mitmenschlichen Lebensqualit?ts-Sph?re gelegentlich auch den
Gegenpol ins Auge zu fassen, n?mlich das Alleinsein.
Auch
hier stehen die beiden Pole nicht im Widerspruch zueinander, sie erg?nzen, ja
sie bedingen sich gegenseitig. Oder k?nnen Sie sich Sozialkompetenz ohne
Selbstkompetenz vorstellen? Wer mit anderen ins Reine kommen will, muss erst
mit sich selbst im Reinen sein. Was wiederum das Ergebnis eines langen
Prozesses der Selbsterkenntnis ist. Nun erkennen wir uns natürlich auch, indem
wir uns in anderen spiegeln, doch ganz ohne Phasen des Alleinseins ist
Selbsterkenntnis schwer vorstellbar. Die Schlussfolgerung, es k?nnte sinnvoll
sein, in die eminent wichtige Lebensqualit?ts-Sph?re des Sozialen auch einige
Untersph?ren des Alleinseins einzubauen, liegt da nahe.
Einsiedeln
ist gewiss keine zukunftstaugliche Lebensform. Doch gelegentlich den Einsiedler
in uns zu leben, macht fit für die Begegnung mit den anderen...