Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualit?t schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualit?t

12. Die Sph?re der Beziehungen

Als ich ein Student war – lang, lang ist’s her – pflegte unser Professor die Geschichte zu erz?hlen, dass er bei einem Ferienjob in der eigenen Studentenzeit von einem Arbeiter gefragt wurde, was er denn studiere. Und als er ?Sozialpsychologie“ antwortete, verstand der zwar nix, meinte aber trocken: ?Sozial ist immer gut!?

Mag sein, dass der gute Mann dabei an irgendwelche sozialdemokratische oder sozialistische Ideen gedacht hat, doch die Wahrscheinlichkeit ist gro?, dass er sozial ganz allgemein als Hinwendung zu den Mitmenschen verstand. (Schlie?lich kommt ?sozial“ vom lateinischen ?socius“ = der Begleiter.) Und diese Hinwendung zu den Mitmenschen ist tats?chlich nicht nur gut, sondern auch unvermeidlich.

Theologisch betrachtet kommt dieses soziale Erbe der Menschheit schon in der Sch?pfungsgeschichte vor: ?Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!? Nüchterner k?nnen wir es auch als biologische Mitgift der Evolution betrachten: Der Mensch ist ein Hordentier. Wer in den meisten Zeiten der Menschheitsgeschichte auf den Einsiedler-Trip ging, merkte schnell: Kein überleben ohne die andern.

Daran hat sich bis heute nichts ge?ndert, im Gegenteil: In einer so extrem arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen h?tte jemand, der jeglichen sozialen Kontakt vermeidet, wenig überlebenschancen. Doch für uns, denen es l?ngst nicht mehr ums nackte überleben geht, l?sst sich die Formel abwandeln: Keine Lebensqualit?t ohne die anderen.

Das ist nicht direkt eine überraschung. Durch Augenschein und aus unz?hligen Studien wissen wir um den hohen Stellenwert zwischenmenschlicher Beziehungen. So steht zum Beispiel eine lebenslange Liebesbeziehung nach wie vor ganz weit oben auf der Wunschliste der meisten Menschen, auch wenn es um die Realisierungschancen bekanntlich nicht zum Besten steht. Auch ein intakter Familien- und Freundeskreis steht im Zentrum der allgemeinen Werte-Landschaft.

Fragt man Menschen danach, wo sie für ihr Leben Sinn finden, steht ?in meinen Beziehungen zu anderen Menschen“ fast gleichauf mit ?in meinem Inneren“ ganz zuoberst, deutlich vor allen anderen Sinn-Quellen.

Neu ist h?chstens, dass menschliche Beziehungen heute auch im virtuellen Raum stattfinden k?nnen, so dass aus Freundeskreisen Beziehungsnetze werden. Der Erfolg von Kontaktplattformen wie ?Facebook“ macht deutlich, dass das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ungebrochen ist, auch wenn es sich in neue Gew?nder kleidet.

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Wie wichtig unsere menschlichen Beziehungen, vor allem die nahen, für unsere Lebensqualit?t sind, zeigt sich in einem Ergebnis der Glücksforschung – immerhin ein verwandtes Gebiet. Demnach ist das menschliche Empfinden für Glück (und damit vermutlich auch für Lebensqualit?t) sehr elastisch und pendelt immer etwa in derselben Bandbreite. Ausschl?ge nach oben wie nach unten sind nur kurzfristiger Art, selbst nach einem Lottogewinn oder einer Querschnittl?hmung pendelt sich das Glücks-Ma? nach einiger Zeit wieder um den Ausgangspunkt herum ein. Das hei?t, wir gew?hnen uns an alles. Mit zwei Ausnahmen: Dauerhafter Ehestreit und der Verlust eines geliebten Menschen führen zu Glücks-Verlusten, die sich nicht mehr korrigieren lassen.

Und auch wenn wir unser Radar weiter schweifen lassen, sto?en wir überall auf Belege für das starke menschliche Bedürfnis nach anderen. Statt vor der Glotze hocken zu bleiben, gehen wir ins Kino oder Sportstadion, nur um dort mit lauter Unbekannten gemeinsam das Spektakel zu genie?en. Und das Modell der Telearbeit, bei der alle zu Hause vor ihrem mit der Firma vernetzten Computer sitzen, hat sich deswegen nicht durchsetzen k?nnen, weil die meisten Angestellten es nicht ohne ihren Kollegenkreis aushielten. Selbst wenn dort mürrische Gesichter und banale Gespr?chsthemen vorherrschen, ziehen die meisten Menschen die gemütliche Horde dem Alleinsein vor.

All diese Belege sind so überw?ltigend, dass sie ernsthaft an einer These zweifeln lassen, welche von schwarz malenden Zivilisationskritikern gerne vertreten wird. Demnach führe der unübersehbare Megatrend Individualisierung zwangsl?ufig dazu, dass wir alle zu v?llig ichbezogenen und abgekapselten Individuen würden, die untereinander jeden Kontakt verl?ren. Atomisierungs-Tendenz wird dieser vermeintliche Trend auch genannt, doch k?nnen wir beruhigt feststellen, dass diesen Einzelatomen genau wie in der Chemie ein unwiderstehlicher Drang innewohnt, sich zu Molekülen zusammen zu fügen.

Anders als in der Chemie klappt bei der Beziehungsaufnahme menschlicher Atome nicht alles automatisch und von selbst. Sozial- und Kommunikationskompetenz müssen gelernt werden. Je mehr uns bewusst wird, wie wichtig die Sph?re des Sozialen für unsere Lebensqualit?t ist, desto mehr werden wir in sie investieren, vor allem auch die Bereitschaft zu lernen.

Ist sozial also wirklich immer gut? Ich habe da so meine Zweifel, und zwar ausschlie?lich wegen des Ausschlie?lichkeitsanspruchs, der im W?rtchen ?immer“ steckt. Mir geht manchmal ein Spruch von Blaise Pascal durch den Kopf, der meint, alles Elend dieser Welt rühre daher, dass es der Mensch nicht aushalte, l?ngere Zeit allein mit sich in einem Zimmer zu sein. So weit würde ich natürlich nicht gehen. Aber bedenkenswert scheint es mir schon, bei aller Lobpreisung der mitmenschlichen Lebensqualit?ts-Sph?re gelegentlich auch den Gegenpol ins Auge zu fassen, n?mlich das Alleinsein.

Auch hier stehen die beiden Pole nicht im Widerspruch zueinander, sie erg?nzen, ja sie bedingen sich gegenseitig. Oder k?nnen Sie sich Sozialkompetenz ohne Selbstkompetenz vorstellen? Wer mit anderen ins Reine kommen will, muss erst mit sich selbst im Reinen sein. Was wiederum das Ergebnis eines langen Prozesses der Selbsterkenntnis ist. Nun erkennen wir uns natürlich auch, indem wir uns in anderen spiegeln, doch ganz ohne Phasen des Alleinseins ist Selbsterkenntnis schwer vorstellbar. Die Schlussfolgerung, es k?nnte sinnvoll sein, in die eminent wichtige Lebensqualit?ts-Sph?re des Sozialen auch einige Untersph?ren des Alleinseins einzubauen, liegt da nahe.

Einsiedeln ist gewiss keine zukunftstaugliche Lebensform. Doch gelegentlich den Einsiedler in uns zu leben, macht fit für die Begegnung mit den anderen...

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Mit-Menschliches

Gewiss, ich kenne wenige Menschen, die das Alleinsein so lieben wie ich, aber ein Einsiedlerkrebs, wie meine Liebste gelegentlich behauptet, bin ich deswegen noch lange nicht. Sie ist der beste Gegenbeweis, schlie?lich halten wir es jetzt schon über zwanzig Jahre lang miteinander aus, obwohl (oder vermutlich besser, weil) wir nicht unter einem Dach zusammenleben.

Aus ihrer Sicht hat sie natürlich Recht. Ich pflege zwar auch meine Kontakte, n?here zu meiner Familie und meinen Freunden, lockerere zu Berufskollegen oder zu meinem virtuellen Netzwerk, und ganz lockere zu den Leuten in meinem Dorf oder zum Publikum meiner Vortr?ge. Doch tue ich dies tats?chlich alles weniger umfangreich und intensiv als sie. Das k?nnte den Anschein erwecken, dass wir in zwei ganz verschiedenen Welten leben, wenn es um die Lebensqualit?ts-Sph?re des Sozialen geht.

Die Unterschiede sind jedoch nicht prinzipiell, sondern graduell. Wir sind einfach der lebende Beweis dafür, dass die Sph?re des Sozialen zwar für alle Menschen wichtig ist, aber nicht für alle gleich wichtig. Entsprechend unterschiedlich ist das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, und entsprechend unterschiedlich viele Ressourcen investieren wir in ihre Pflege. Wenn man das einmal erkannt hat, kann man ganz gut damit leben.

Ich wei? natürlich, dass ich mit meiner ausgepr?gten Liebe zum Alleinsein ziemlich allein da stehe, aber jede statistische Normalverteilung weist gegen die beiden Pole hin nur noch wenige Fallzahlen auf. Und es ist nun mal so, dass meine beiden Lieblingst?tigkeiten, n?mlich Denken und Schreiben, am besten allein gehen. Wenn es so weit ist, teile ich die Früchte derselbigen dann gerne mit anderen, was ja schlie?lich auch eine Form des sozialen Austauschs ist, von der Sie sogar profitieren k?nnen. Wobei die Entscheidung natürlich bei Ihnen liegt, ob diese Früchte auch genie?bar sind...