Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

11. Die Sphäre des Tuns

Arbeitslosigkeit gilt den meisten Menschen als beklagenswertes Schicksal, und zwar weniger wegen des Verlusts an Einkommen, sondern weil jemand, der seine Arbeit los ist, arm dran ist, eines zentralen Lebensbereichs, oder, wie wir sagen würden, einer wichtigen Lebensqualitäts-Sphäre beraubt.

Das war keineswegs immer so. In der Antike und bis weit ins Mittelalter hinein waren die, die arbeiteten, entweder arme Schlucker oder Sklaven. Die Elite vermied es tunlichst, zu arbeiten, sie frönte ganz selbstverständlich dem Müßiggang. Was für ein Kontrast zu den heutigen Eliten der Topmanager und Spitzenpolitikerinnen, die zur Legitimation ihrer Position gerne auf ihre überfüllten Terminkalender als Beweis für ihren überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz verweisen.

Arbeit als bedeutsame Lebensqualitäts-Sphäre einzuschätzen, ist also keineswegs selbstverständlich. Wenngleich diese Bedeutung für die meisten Menschen von heute in unseren Breitengraden faktisch existiert. Arbeit sorgt eben nicht nur für Einkommen, sondern auch für Status und Sinn. Und hat deshalb ein gutes Image. Nur führt das mal wieder zu Übertreibungstendenzen. Wenn wir glauben, noch mehr Arbeit sei immer noch besser, dann befinden wir uns auf dem Holzweg. Wer eine Lebensqualitäts-Sphäre zu sehr aufbläst, gefährdet dadurch andere, ebenso wichtige. Das ist der tiefere Sinn der viel beschworenen „Work-Life-Balance“, wobei ich mich immer gefragt habe, worin denn der Gegensatz bestünde, und ob Arbeit denn nicht auch Teil des Lebens sei.

Der achtzigjährige Bauer in meiner Umgebung jedenfalls, der nach wie vor bei jedem Wetter irgendwo draußen am Werken ist, trotz eines leichten Schlaganfalls und Verletzungen beim Holzschlag, kann, allen Versprechen, kürzer zu treten, zum Trotz, gar nicht anders, denn Arbeit ist sein Leben. Das müssen wir uns nicht unbedingt zum Vorbild nehmen, doch Tatsache bleibt, dass unsere Arbeit eng mit unserer Lebensqualität gekoppelt ist, im Guten wie im Schlechten. Arbeit kann ebenso gut eine einflussreiche Lebensqualitäts-Fördererin wie eine ebensolche Lebensqualitäts-Killerin sein.

Doch ist „Arbeit“ überhaupt die richtige Bezeichnung und Definition für die Lebensqualitäts-Sphäre, von der wir hier sprechen? Verorten wir diese richtig, wenn wir sie einfach von „Freizeit“ abgrenzen? Was meinen wir überhaupt mit „Arbeit“? Denken wir dabei nur an bezahlte Tätigkeiten? Was ist dann mit jenen Tätigkeiten außerhalb unseres Jobs wie Hausarbeiten oder Steuererklärungen ausfüllen, denen immerhin zumindest die Schattenseiten unseres Bildes von Arbeit anhaften, nämlich dass sie ungeliebt und unfrei ausgeübt werden?

Unsere Vorstellungen von einer strikten Trennung zwischen Arbeit und dem Rest des Lebens entsprechen den Realitäten des industriellen Zeitalters. Für den alten Bauern gelten sie viel weniger. Und für den modernen Freiberufler, der gleichsam Tag und Nacht erreichbar und am Tüfteln ist, ebenso wenig. Dasselbe gilt für den Professor der Geisteswissenschaften, der mir schon vor Jahrzehnten auf die Frage, wie viele Stunden er pro Woche arbeite, nicht antworten konnte, weil ihm oft in der Badewanne oder beim Jäten im Garten etwas einfiele und er nicht wisse, ob er das nun als Arbeitszeit oder als Freizeit verbuchen solle.

Dazu kommt, dass wir in der Zeit, in der wir keiner bezahlten Arbeit nachgehen, also in unserer Freizeit oder nach unserer Pensionierung, ja keineswegs einfach nichts tun. Wir treiben Sport und betätigen uns ehrenamtlich, putzen die Wohnung und mähen den Rasen, wir lesen und sehen fern, unterhalten uns mit Freunden oder betreiben ein Hobby. Kurzum, wir widmen uns Tätigkeiten, die andere als bezahlte Arbeit betreiben. Der Unterschied zwischen diesen Profis und uns Amateuren besteht keineswegs zwangsläufig in der Qualität der Tätigkeit, aber immer in der Existenz oder eben Nichtexistenz von Bezahlung dafür.

Abgesehen von dieser materiellen Gratifikation kann jede Tätigkeit, egal ob bezahlt oder nicht, wesentliche Beiträge zu unserer Lebensqualität leisten, indem sie uns hilft, Werte zu realisieren, die uns wichtig sind: Selbstverwirklichung. Kreativität. Etwas bewegen können. Einen Beitrag zum Ganzen leisten. Sinn. Identität. Menschliche Bindungen. Statt von der Sphäre der Arbeit spreche ich deswegen lieber von der Sphäre des Tuns. Arbeit gehört dazu, aber eben nicht allein. Wichtig für unsere Lebensqualität ist, was und wie wir es tun, und nicht, wo und für wen und zu welcher Bezahlung.

Natürlich kommen wir, jedenfalls so lange, bis wir eine ausreichende Rente beziehen können, gar nicht umhin, einen Teil unseres Tuns zu zweckentfremden, indem wir eine Arbeit nicht als reinen Selbstzweck und aus purem Spaß an der Freud verrichten, sondern um damit das nötige Geld zu verdienen. Im Interesse unserer Lebensqualität empfiehlt es sich allerdings, diesen Anteil möglichst klein zu halten. Im Idealfall werden wir für unsere Tätigkeiten, die uns am meisten Spaß machen und die wir am besten können (was meistens Hand in Hand geht), auch noch bezahlt. Oder, aus der Sicht des Brötchengebers, würden wir eine Tätigkeit auch ausüben, wenn wir dafür nichts bekämen. Wie immer sind das Idealziele, die wir so zwar selten erreichen, denen wir uns aber immer annähern können.

Wenn wir die Auswirkungen der Sphäre des Tuns auf unser generelles Lebensqualitäts-Konto bedenken, sollten wir jedenfalls immer unser gesamtes Tätigkeiten-Portfolio ins Auge fassen. Wenn unsere Arbeit im engeren Sinne zu wenig zu unserer Lebensqualität beiträgt oder diese gar verschlechtert, sollten wir uns außerhalb davon befriedigendere Tätigkeiten suchen. Oder den Job wechseln.

Theoretisch ist es denkbar, dass die Sphäre des Tuns für jemanden keinerlei Bedeutung hat, weil für ihn der ideale Lebenszweck darin besteht, die ganze Zeit auf der faulen Haut zu liegen und darauf zu warten, dass ihm die gebratenen Tauben von selbst in den Mund fliegen. Schlaraffenland halt. Für die meisten von uns besteht die Vorstellung hoher Lebensqualität nicht aus diesem Traum des permanenten süßen Nichtstuns. Auch wenn das zwischenrein wunderbar erholsam sein kann. Doch irgendwann nach einer Periode im Liegestuhl entsteht dieses bekannte Kribbeln. Wenn wir jetzt nichts tun, wird uns unwohl.

So sind wir nun mal programmiert, ob durch die Biologie oder die Gesellschaft oder beides, sei mal dahingestellt. Die meiste Zeit unseres Lebens müssen wir einfach irgendetwas tun, sonst ist uns nicht wohl. Untätigkeit kann ein gewichtiger Lebensqualitäts-Killer sein. Umso wichtiger ist es, dass wir uns genau überlegen, was wir wann wie tun wollen. Sinnvolles Tun trägt entscheidend zu unserer Lebensqualität bei. Dummerweise sind wir wieder die einzigen, die herausfinden können, was für uns selbst sinnvolles Tun  bedeutet...

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Handarbeit

Vor ewigen Zeiten, direkt nach meinem Studium, war ich auch mal fest angestellt. Doch bald ist in mir eine bohrende Frage aufgetaucht (Bitte entschuldigen Sie die drastische Formulierung): Will ich wirklich für die Zeit bezahlt werden, in der ich meinen Hintern auf einem Bürostuhl wetze, oder nicht doch lieber für das, was ich abliefere, also für das Ergebnis meiner Tätigkeit? Die Frage stellen, hieß, sie zu beantworten, und so machte ich mich selbständig, ein Entschluss, auf den ich nie mehr zurückkam.

Das hatte den für mich wichtigen angenehmen Nebeneffekt, dass ich mir mein Tätigkeiten-Portfolio frei zusammenstellen konnte und kann. Es besteht, nur falls es Sie interessieren sollte, im Wesentlichen aus Forschen, Analysieren, Schreiben, Photographieren, Reden, Kommunizieren – und vor allem viel Denken. Es hat lange gedauert, bis ich nicht nur gemerkt, sondern voll und ganz akzeptiert habe, dass das wirklich Spannende daran das Zusammenspiel der verschiedenen Tätigkeiten ist.

Und wenngleich als Überschrift über dieses mein Tätigkeiten-Portfolio wohl am besten „Allzweck-Intellektueller“ stehen würde, dessen Tun erwartungsgemäß von Kopfarbeit dominiert wird, so faszinieren mich doch auch die handwerklichen Anteile daran. Auch wenn ich meine Texte nicht in Handschrift verfasse, sondern tippe, so bleibt dieser Teil meiner Arbeit doch Handarbeit. Noch besser gefällt mir die Vorstellung, die der große Pädagoge Pestalozzi schon vor zweihundert Jahren formulierte. Demnach sollte jede Tätigkeit mit Kopf, Hand und Herz ausgeführt werden.

Diese Forderung hat, wie ich aus eigener Erfahrung beisteuern kann, keineswegs nur moralische Motive, sondern auch ganz pragmatische: Je mehr die Balance zwischen Kopf, Hand und Herz in meinem Tun stimmt, desto besser werden die Ergebnisse. Und je mehr mein Tun sich meinen eigenen Qualitätsvorstellungen annähert, desto größer wird sein Beitrag zu meiner Lebensqualität.

Ich gehöre zu jenen Menschen, für die nicht nur, aber doch ganz zentral gilt: Ich bin, was ich tue. Das kommt meinem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit entgegen, denn darin, was ich tun will, bin ich autonomer als in anderen Sphären. Wobei es natürlich auch hier Grenzen des Nicht-Könnens gibt. Es dürfte wenig zur Lebensqualität beitragen, sich als Nichtschwimmer in offene Gewässer zu wagen.