Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

14. Die Sphäre der Zeit

Wir Menschen leben so selbstverständlich in der Zeit-Dimension, dass wir kaum jemals darüber nachdenken, welchen Beitrag diese Lebens-Sphäre zu unserer Lebensqualität leistet. Das ist bedauerlich, denn so wie es unserem Lebensqualitäts-Konto gut tut, wenn wir am richtigen Ort leben, so nützt es ihm, wenn wir richtig in der Zeit leben. Und das Umgekehrte gilt natürlich auch.

Wie bei unserer Verortung im Raum gibt es auch bei unserem Verhältnis zur Zeit eine stabile und eine dynamische Komponente. Dabei gibt es drei große Zeit-Räume: Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Einer neulich publizierten Studie war zu entnehmen, dass sich die Menschen tatsächlich danach unterscheiden lassen, in welchem dieser Zeit-Räume sie bevorzugt leben. Es gibt so etwas wie primär an Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft orientierte Typen.

Selber habe ich ähnliche Fragen meinem Netz auch schon gestellt. Zugegeben, dieses Netz bildet eine geistige Avantgarde, eine Bewusstseins-Elite gleichsam, und ist damit nicht unbedingt repräsentativ, doch interessant sind die entsprechenden Ergebnisse schon. 1999, als ich diese Frage zum ersten Mal stellte (mitten in der vorletzten Spekulationsblase des Internet-Booms), ordnete sich eine Mehrheit bei der Zukunft ein. Sechs Jahre später hatte sich dieser Anteil deutlich reduziert, jetzt war Gegenwarts-Orientierung angesagt. So wirkt sich der Zeitgeist auch auf unser eigenes Verhältnis zur Zeit aus.

Allerdings hat mich an dieser Fragestellung schon damals der Zwang zur Festlegung auf einen einzigen Zeit-Raum gestört. Eine zu starke Konzentration auf eine Zeit-Dimension hat offensichtliche, unsere Lebensqualität beeinträchtigende Nachteile. Wer sich zu sehr auf die Vergangenheit ausrichtet, bleibt an ihr kleben. Wer immer nur in der Zukunft lebt, verpasst die Gegenwart. Und wer ausschließlich ganz entspannt im Hier und Jetzt leben will, übersieht unsere Wurzeln in der Vergangenheit und lässt sich einfach treiben, ohne Möglichkeit des zielgerichteten Handelns.

Wie so oft ist die Entscheidungsalternative entweder oder also ungeeignet, für ein Optimum an Lebensqualität zu sorgen. Viel gescheiter ist es deshalb, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integriert zu betrachten, als Aspekte einer einzigen Fließzeit, die je nach Situation und Lebensphase unterschiedliche Aufmerksamkeits-Akzente erheischen. Der schon erwähnte Zeitvergleich der Antworten meines Netzes hat das übrigens bestätigt: In den sechs Jahren zwischen der ersten und der zweiten Erhebung war die Zuwendung zu allen drei Zeit-Räumen gewachsen, wenn sie einzeln abgefragt wurden. Den stärksten Zuwachs aber erzielte genau das Konzept der integrierten Fließzeit.

Manchmal ist es wirklich angebracht, Vergangenes aufzuarbeiten, das die aktuelle Lebensqualität stört. Manchmal trägt das totale Aufgehen im Jetzt am meisten zur Lebensqualität bei. Und manchmal lohnt sich eine intensive Auseinandersetzung mit der Zukunft, weil nur sie eine nachhaltige Lebensqualität gewährleistet. Auch Zeiten haben ihre eigene Zeit, und es geht uns am besten, wenn wir uns auf die jeweils angesagte einlassen. Dafür, welche angesagt ist, können wir im Laufe der Zeit sehr wohl ein Gespür entwickeln.

Voraussetzung dafür ist das Bewusstsein, dass wir auch hier die freie Wahl haben. Natürlich machen die Zeiten manchmal mit uns, was sie wollen, aber meistens können wir entscheiden, welchem Zeit-Raum wir uns zuwenden wollen, um ein Optimum für unser Lebensqualitäts-Konto herauszuholen.

In einem Punkt allerdings gibt es keine Wahlfreiheit: Der Zeitpfeil bewegt sich nur in eine Richtung, so sehr wir uns auch wünschen mögen, ihn umdrehen zu können. Das bedeutet im Klartext, dass wir unerbittlich immer älter werden. Doch gemäß dem Motto An den Tatsachen können wir nichts ändern, wohl aber an deren Interpretation haben wir auch hier eine Wahl. Wir können den unvermeidlichen Prozess des älter Werdens lauthals beklagen und ihn mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln bekämpfen. Oder wir können ihn zunächst als gegebene Tatsache akzeptieren. Und uns dann fragen, ob er wirklich so schlimm sei.

Ein noch immer gängiges Vorurteil sagt ja, es ist schlimm: Nach der magischen Grenze von fünfzig Altersjahren geht es mit der Lebensqualität nur noch bergab. Was ja nun wirklich keine rosigen Aussichten wären. Nur, stimmt dieses Vorurteil überhaupt (noch)? Verschiedene Studien, darunter auch eigene, besagen das pure Gegenteil.

Demnach sinkt die Kurve des allgemeinen Lebensqualitäts-Kontos nach fünfzig nicht etwa, sondern steigt weiter an, um sich auf hohem Niveau zu stabilisieren. Die besten Altersjahre in Sachen Lebensqualität sind somit jene zwischen fünfzig und achtzig. Und dieser Zusammenhang gilt, mit Ausnahme der körperlichen Gesundheit, für alle getesteten relevanten Lebensqualitäts-Sphären: Geistig-seelische Gesundheit. Selbstverwirklichung. Eigene Sozialkompetenz und Qualität des sozialen Umfelds. Fähigkeit, dem Leben einen Sinn zu geben. Fähigkeit zu Balance und richtigem Maß. Frohe Kunde also: Älter werden bietet die Chance zur Reifung und damit zu besserer Lebensqualität.

Auch solche Reifungsprozesse haben ihre eigene Zeit, und das Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn wir daran zupfen. Womit wir bei der dynamischen Komponente der Zeit-Sphäre wären: Tempo. Und damit der Frage: Was fördert unsere Lebensqualität mehr, Schnelligkeit oder Langsamkeit?

Unsere Gesellschaft ist von Schnelligkeit fasziniert, ja geradezu süchtig danach. Schneller gilt grundsätzlich als besser. Nicht nur , wenn wir uns fortbewegen, sondern auch bei unseren Tätigkeiten. Früher, so heißt es, hätten die Großen die Kleinen gefressen. Heute dagegen würden die Schnellen die Langsamen fressen. Dabei ist Schnelligkeit nur eine der Erfolgsstrategien, welche die Evolution hervorgebracht hat. Langsamkeit, gepaart mit Köpfchen, kann auch eine sein, wie die Geschichte vom Hasen und vom Igel zeigt. Wer mit hoher Geschwindigkeit auf den Abgrund zu rast, hat nur geringe nachhaltige Erfolgsaussichten.

So faszinierend die heutigen Möglichkeiten des Informationsaustauschs ohne Zeitverlust sind, so gefährlich sind sie auch: Wenn die Sache so komplex wird wie das globale Finanzsystem, bleibt im Krisenfall zu wenig Reaktionszeit. Hier war die Geschwindigkeit also offenbar zu groß, weil nicht mehr zu kontrollieren. Generell gilt: Je höher die Geschwindigkeit, desto größer der nötige Kontrollaufwand. Und das schafft Stress.

Solcher Stress aber beeinträchtigt die Lebensqualität. Immer noch schneller ist also eine schlechte Strategie zur Verbesserung derselben. Was nicht heißt, dass das Gegenteil immer wahr wäre. Vielmehr geht es auch hier um ein gesundes Gleichgewicht. Ich habe mein Netz mal gefragt, wie man sich im schnell gewordenen Zeitstrom fühle. Die meist gewählte Antwort war „gut – solange es genügend Inseln der Ruhe und Entspannung gibt“. Gefragt ist also zwecks Optimierung des Lebensqualitäts-Kontos die jeweils passende Balance zwischen Beschleunigung und Entschleunigung. Worauf man in einer ruhigen Minute eigentlich auch von selbst kommen könnte...

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Eile mit Weile

 »Ich gehe nur noch schnell gucken, was wir verpassen«, rief ich meiner Liebsten zu, die etwas weiter zurück geblieben war, und schon glitt ich auf dem heimtückischen, vom Regen aufgeweichten Grund (er war der Grund für unseren Entschluss umzukehren) aus, flog im hohen Bogen über einen kleinen Felsen, und brach mir beim Versuch, den Sturz aufzufangen, den Arm. Und das mir, dem großen Fußgänger! Ausgerechnet auf meiner Lieblingsinsel – und ziemlich weit weg vom nächsten Krankenhaus.

Nun, das Abenteuer ist letztendlich gut ausgegangen, doch mit der Formulierung „nur noch schnell!“ bin ich sehr vorsichtig geworden. Zumal ich, nachdem der Blick einmal geschärft war, auch in meiner Umgebung festgestellt habe, wie oft diese Haltung, ob ausgesprochen oder nicht, zu eigentlich völlig unnötigen Pannen oder auch Schlimmerem führt. Übertriebene Geschwindigkeit kann ein ziemlich übler Lebensqualitäts-Killer sein.

Deshalb gefällt mir die Bedeutung des griechischen „Sigà, sigà!“. Damit werden meistens ungeduldige und gespeedete Touristen ermahnt, doch etwas abzudampfen und ihr Tempo zu drosseln. Doch eigentlich meint der Begriff die Vorstellung der angemessenen Geschwindigkeit. Wenn jemand bei einem Notfall zu sehr trödelt, könnte ihn also derselbe Zuruf auch zu mehr Tempo mahnen. Entscheidend ist der Sinn für das der jeweiligen Situation angemessene Tempo.

Und natürlich auch der jeweiligen Person angemessen. Es gibt kein geeichtes Lebenstempo, das allen optimale Lebensqualität garantieren würde, der eine hat es eben lieber schneller als die andere, und diese Vorlieben können sich im Laufe eines langen Lebens erst noch verändern. Bei mir zum Beispiel gab es auch Lebensphasen, in denen ich dem Rausch der Geschwindigkeit verfallen bin. Zum Glück ging das vorüber.

Denn eigentlich bewege ich mich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit lieber etwas gemächlicher. Ich entdecke so einfach mehr. Wenn ich von einer Reise zurückkomme, breche ich nicht gleich zur nächsten auf, sondern pflege lieber bewusst noch die Erinnerung an die letzte.

Bestätigen kann ich aus persönlicher Erfahrung, dass ein flexibles Hüpfen zwischen den Zeit-Räumen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die beste Strategie zur Optimierung des Lebensqualitäts-Kontos ist. Und auch da bringt es übrigens Vorteile, schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel zu haben: Wenn ich mich heute mit der Zukunft befasse, was schließlich mein Beruf ist, dann kann ich immer öfter auf Gedanken, Erkenntnisse, Ideen oder Projekte zurück greifen, die ich irgendwann in der Vergangenheit entwickelt habe, um sie dann auf meiner persönlichen Recycling-Halde abzulagern, wo sie darauf warten, dass ihre Zeit gekommen ist.

Das erleichtert natürlich meine Gegenwart ungemein, wofür ich dankbar bin. Dankbarkeit übrigens, egal, an wen sie adressiert ist, ist immer ein sicherer Tipp, wenn es um Ihr Lebensqualitäts-Konto geht...