Wir
Menschen leben so selbstverständlich in der Zeit-Dimension, dass wir kaum
jemals darüber nachdenken, welchen Beitrag diese Lebens-Sphäre zu unserer
Lebensqualität leistet. Das ist bedauerlich, denn so wie es unserem Lebensqualitäts-Konto
gut tut, wenn wir am richtigen Ort leben, so nützt es ihm, wenn wir richtig in
der Zeit leben. Und das Umgekehrte gilt natürlich auch.
Wie
bei unserer Verortung im Raum gibt es auch bei unserem Verhältnis zur Zeit eine
stabile und eine dynamische Komponente. Dabei gibt es drei große Zeit-Räume:
Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Einer neulich publizierten Studie war zu
entnehmen, dass sich die Menschen tatsächlich danach unterscheiden lassen, in
welchem dieser Zeit-Räume sie bevorzugt leben. Es gibt so etwas wie primär an
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft orientierte Typen.
Selber
habe ich ähnliche Fragen meinem Netz auch schon gestellt. Zugegeben, dieses
Netz bildet eine geistige Avantgarde, eine Bewusstseins-Elite gleichsam, und
ist damit nicht unbedingt repräsentativ, doch interessant sind die
entsprechenden Ergebnisse schon. 1999, als ich diese Frage zum ersten Mal
stellte (mitten in der vorletzten Spekulationsblase des Internet-Booms),
ordnete sich eine Mehrheit bei der Zukunft ein. Sechs Jahre später hatte sich
dieser Anteil deutlich reduziert, jetzt war Gegenwarts-Orientierung angesagt.
So wirkt sich der Zeitgeist auch auf unser eigenes Verhältnis zur Zeit aus.
Allerdings
hat mich an dieser Fragestellung schon damals der Zwang zur Festlegung auf
einen einzigen Zeit-Raum gestört. Eine zu starke Konzentration auf eine
Zeit-Dimension hat offensichtliche, unsere Lebensqualität beeinträchtigende
Nachteile. Wer sich zu sehr auf die Vergangenheit ausrichtet, bleibt an ihr
kleben. Wer immer nur in der Zukunft lebt, verpasst die Gegenwart. Und wer
ausschließlich ganz entspannt im Hier und Jetzt leben will, übersieht unsere
Wurzeln in der Vergangenheit und lässt sich einfach treiben, ohne Möglichkeit
des zielgerichteten Handelns.
Wie
so oft ist die Entscheidungsalternative entweder oder also ungeeignet, für ein
Optimum an Lebensqualität zu sorgen. Viel gescheiter ist es deshalb,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integriert zu betrachten, als Aspekte
einer einzigen Fließzeit, die je nach Situation und Lebensphase
unterschiedliche Aufmerksamkeits-Akzente erheischen. Der schon erwähnte
Zeitvergleich der Antworten meines Netzes hat das übrigens bestätigt: In den
sechs Jahren zwischen der ersten und der zweiten Erhebung war die Zuwendung zu
allen drei Zeit-Räumen gewachsen, wenn sie einzeln abgefragt wurden. Den
stärksten Zuwachs aber erzielte genau das Konzept der integrierten Fließzeit.
Manchmal
ist es wirklich angebracht, Vergangenes aufzuarbeiten, das die aktuelle
Lebensqualität stört. Manchmal trägt das totale Aufgehen im Jetzt am meisten
zur Lebensqualität bei. Und manchmal lohnt sich eine intensive
Auseinandersetzung mit der Zukunft, weil nur sie eine nachhaltige
Lebensqualität gewährleistet. Auch Zeiten haben ihre eigene Zeit, und es geht
uns am besten, wenn wir uns auf die jeweils angesagte einlassen. Dafür, welche
angesagt ist, können wir im Laufe der Zeit sehr wohl ein Gespür entwickeln.
Voraussetzung
dafür ist das Bewusstsein, dass wir auch hier die freie Wahl haben. Natürlich
machen die Zeiten manchmal mit uns, was sie wollen, aber meistens können wir
entscheiden, welchem Zeit-Raum wir uns zuwenden wollen, um ein Optimum für
unser Lebensqualitäts-Konto herauszuholen.
In
einem Punkt allerdings gibt es keine Wahlfreiheit: Der Zeitpfeil bewegt sich
nur in eine Richtung, so sehr wir uns auch wünschen mögen, ihn umdrehen zu
können. Das bedeutet im Klartext, dass wir unerbittlich immer älter werden.
Doch gemäß dem Motto An den Tatsachen können wir nichts ändern, wohl aber an
deren Interpretation haben wir auch
hier eine Wahl. Wir können den unvermeidlichen Prozess des älter Werdens
lauthals beklagen und ihn mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln
bekämpfen. Oder wir können ihn zunächst als gegebene Tatsache akzeptieren. Und
uns dann fragen, ob er wirklich so schlimm sei.
Ein
noch immer gängiges Vorurteil sagt ja, es ist schlimm: Nach der magischen
Grenze von fünfzig Altersjahren geht es mit der Lebensqualität nur noch bergab.
Was ja nun wirklich keine rosigen Aussichten wären. Nur, stimmt dieses
Vorurteil überhaupt (noch)? Verschiedene Studien, darunter auch eigene, besagen
das pure Gegenteil.
Demnach
sinkt die Kurve des allgemeinen Lebensqualitäts-Kontos nach fünfzig nicht etwa,
sondern steigt weiter an, um sich auf hohem Niveau zu stabilisieren. Die besten
Altersjahre in Sachen Lebensqualität sind somit jene zwischen fünfzig und
achtzig. Und dieser Zusammenhang gilt, mit Ausnahme der körperlichen
Gesundheit, für alle getesteten relevanten Lebensqualitäts-Sphären:
Geistig-seelische Gesundheit. Selbstverwirklichung. Eigene Sozialkompetenz und
Qualität des sozialen Umfelds. Fähigkeit, dem Leben einen Sinn zu geben.
Fähigkeit zu Balance und richtigem Maß. Frohe Kunde also: Älter werden bietet
die Chance zur Reifung und damit zu besserer Lebensqualität.
Auch
solche Reifungsprozesse haben ihre eigene Zeit, und das Gras wächst bekanntlich
nicht schneller, wenn wir daran zupfen. Womit wir bei der dynamischen
Komponente der Zeit-Sphäre wären: Tempo. Und damit der Frage: Was fördert
unsere Lebensqualität mehr, Schnelligkeit oder Langsamkeit?
Unsere
Gesellschaft ist von Schnelligkeit fasziniert, ja geradezu süchtig danach.
Schneller gilt grundsätzlich als besser. Nicht nur , wenn wir uns fortbewegen,
sondern auch bei unseren Tätigkeiten. Früher, so heißt es, hätten die Großen
die Kleinen gefressen. Heute dagegen würden die Schnellen die Langsamen
fressen. Dabei ist Schnelligkeit nur eine der Erfolgsstrategien, welche die
Evolution hervorgebracht hat. Langsamkeit, gepaart mit Köpfchen, kann auch eine
sein, wie die Geschichte vom Hasen und vom Igel zeigt. Wer mit hoher
Geschwindigkeit auf den Abgrund zu rast, hat nur geringe nachhaltige
Erfolgsaussichten.
So
faszinierend die heutigen Möglichkeiten des Informationsaustauschs ohne
Zeitverlust sind, so gefährlich sind sie auch: Wenn die Sache so komplex wird
wie das globale Finanzsystem, bleibt im Krisenfall zu wenig Reaktionszeit. Hier
war die Geschwindigkeit also offenbar zu groß, weil nicht mehr zu
kontrollieren. Generell gilt: Je höher die Geschwindigkeit, desto größer der
nötige Kontrollaufwand. Und das schafft Stress.
Solcher
Stress aber beeinträchtigt die Lebensqualität. Immer noch schneller ist also
eine schlechte Strategie zur Verbesserung derselben. Was nicht heißt, dass das
Gegenteil immer wahr wäre. Vielmehr geht es auch hier um ein gesundes
Gleichgewicht. Ich habe mein Netz mal gefragt, wie man sich im schnell
gewordenen Zeitstrom fühle. Die meist gewählte Antwort war „gut – solange
es genügend Inseln der Ruhe und Entspannung gibt“. Gefragt ist also zwecks
Optimierung des Lebensqualitäts-Kontos die jeweils passende Balance zwischen
Beschleunigung und Entschleunigung. Worauf man in einer ruhigen Minute
eigentlich auch von selbst kommen könnte...