Irgendwo
im Himalaja liegt, eingeklemmt zwischen China und Indien, das kleine Königreich
Bhutan, ungefähr so groß wie die Schweiz, aber mit zehnmal weniger Einwohnern. Die
Pflege der überlieferten Kultur wird dort groß geschrieben, und als vor einigen
Jahren der damalige König von oben die Demokratie einführte, wollten das seine
Untertanen eigentlich gar nicht. Und so wählten sie halt in die Regierung die
eine Partei, deren Slogan „wir lieben den König!� lautet, und als Opposition
die andere, die sich „wir lieben den König noch mehr!� auf die Fahne schreibt.
So konservativ ist man in Bhutan.
Konservativ
kommt ja von „bewahren�, und bewahrt wird in Butan beides, Natur und Kultur. Um
die Tradition zu schützen, wird nach wie vor nur eine begrenzte Anzahl
Ausländer ins Land gelassen. In den Augen aller rechtspopulistischer Parteien
in Europa also ein Paradies. Ebenso in den Augen von Grünen und
Nachhaltigkeits-Fans.
Und
auch, wenn wir ehrlich sind, in unseren eigenen Augen. Ein Teil von uns
wenigstens möchte immer, dass alles so bleibt, wie es ist. Natürlich vor allem
dann, wenn es etwas Schönes zu bewahren gilt: »Denn alle Lust will Ewigkeit,
will tiefe, tiefe Ewigkeit«, wie es Nietzsche einst formulierte. Doch selbst an
unbefriedigende Zustände klammern sich manche Menschen gerne, weil sie
letztlich doch das Vertraute der offenen Alternative vorziehen – es
könnte ja noch schlimmer kommen. Das Festhalten am Bestehenden und der Drang
nach Stabilität realisieren nämlich einen für die meisten Menschen zentralen
Wert: Sicherheit.
Das
Festhalten an traditionellen Werten schafft also Stabilität und damit
Sicherheit. Zum einen die Sicherheit, unbehelligt von Neuerungen zu bleiben, an
die man sich allenfalls schlecht oder gar nicht anpassen kann, zum anderen aber
auch die Sicherheit, alles unter Kontrolle zu haben. Bekanntes lässt sich nun
mal besser kontrollieren als Unbekanntes.
Tradition,
Stabilität, Sicherheit und Kontrolle sind also eng miteinander verflochtene
Werte. Welche Werte im Einzelnen dahinter stecken, ist zunächst gar nicht so
wichtig, Hauptsache, es gibt sie schon lange. Schließlich verteidigen die
Traditionalisten unterschiedlicher Kulturen keineswegs immer dieselben Werte.
Stabilität selbst ist entscheidend, nicht das, was stabil bleiben soll.
Ob
dieser menschliche Drang nach Stabilität gut oder schlecht sei, brauchen wir
gar nicht zu beantworten, denn er ist Teil unserer Natur. Und nicht nur
unserer. Schon in der Physik gibt es das Trägheits-Moment und das Entropie-Gesetz,
wonach alles nach stabilen Zuständen strebt. Und auch die Evolution ist, so
seltsam das zunächst klingen mag, konservativ. Wenn sie einmal etwas erfunden
hat, hält sie daran fest, es sei denn, gewandelte Umweltbedingungen verlangten
nach neuen Lösungen. Der Drang nach Stabilität ist also ein zentrales Element
der Natur.
In
der belebten Natur haben alle Lebewesen Strategien entwickelt, die ihnen mehr
Sicherheit verschaffen sollen. Auch das Streben nach Sicherheit ist also nicht
spezifisch menschlich. Schon eher könnte man dies beim Wunsch sagen, möglichst
alles kontrollieren zu wollen. Weil wir Menschen uns als vermutlich einziges
Lebewesen mögliche Zukünfte ausmalen können, wollen wir die reale Zukunft
möglichst in unserem Sinne gestalten, und das geht nur, wenn wir möglichst viel
Kontrolle ausüben können, über uns, über andere und über die äußeren Umstände.
Dass der Wert Kontrolle einen hohen Wert hat, gehört also zur menschlichen
Grundausstattung, genau so wie der hohe Stellenwert der Werte Tradition,
Stabilität und Sicherheit.
Ohne
ein Mindestmaß an Stabilität und Sicherheit ist deshalb eine befriedigende
Lebensqualität kaum vorstellbar. Selbst die quirligsten Liebhaber ständiger
Abwechslung pflegen ihre kleinen Rituale und schließen Versicherungen ab.
Allerdings steht auch fest, dass dieses Mindestmaß schon wieder nur subjektiv
festgelegt werden kann. Die einen brauchen für ihre Lebensqualität mehr
Sicherheit und Stabilität, die anderen weniger.
Etwas
davon brauchen alle, aber nicht alle brauchen gleich viel davon. Das bestätigte
sich aufs Schönste in meiner bereits einmal erwähnten Befragung über die
subjektive Bedeutung von 175 Werten. Während bei den meisten Werten die
Einstufungen bei allen Befragten ziemlich ähnlich waren, streuten sie bei den
traditionellen sehr viel stärker. Zu diesen traditionellen Werten gehören auf
der Ebene der persönlichen Lebensziele zum Beispiel ein stabiles und
berechenbares Leben, nie unangenehm aufzufallen, oder persönliche Ehre; auf der
Ebene der zwischenmenschlichen Werte Begriffe wie Pflichtbewusstsein,
Ordnungsliebe oder Prinzipientreue; und auf der Ebene der gesellschaftlichen
Werte Ideale wie Tradition, Zucht und Ordnung oder Respekt gegenüber
Autoritäten.
All
diese traditionellen Werte sind kaum jemandem völlig gleichgültig, doch dann
scheiden sich die Geister wie in keiner anderen Werte-Sphäre. Ausgesprochenen
Traditionalisten stehen andere gegenüber, für die diese traditionellen Werte
nur von mäßiger Bedeutung sind. Sie lehnen sie nicht gänzlich ab, doch von der
ausgeprägten Hochschätzung dieser Werte-Sphäre der Stabilität sind sie
meilenweit entfernt.
Wie
sehr Sie Ihre Lebensqualität davon abhängig machen, wie gut Ihr Bedürfnis nach
Sicherheit, Tradition, Stabilität und Kontrolle befriedigt wird, bleibt selbstredend
Ihnen überlassen. Wobei Sie sich nicht darauf verlassen können, das allein mit
Ihrem freien Willen entscheiden zu können, denn die subjektive Bedeutung der
Sphäre der Stabilität dürfte genetisch vorbestimmt sein. Es gibt nun mal Wesen,
denen Sicherheit weniger wichtig ist als anderen und die deshalb auch mehr
riskieren, das ist schon bei Tieren zu beobachten. Und deshalb müssen auch in
dieser Sphäre alle nach ihrer Facon selig werden dürfen, sprich, so viel
Stabilität anstreben, wie sie es für ihre Lebensqualität brauchen.
Wobei
auch an dieser Stelle eine Warnung vor Ãœbertreibungen angebracht ist. Wenn wir
zu viel Stabilität und Sicherheit und Kontrolle wollen, rennen wir einem
unrealistischen Ziel nach, und das kann für unsere Lebensqualität nicht gesund
sein. Es gibt diese Werte nun mal nicht in hundertprozentiger Realisierungsform
im Angebot.
Und
auch wer Traditionen kompromisslos verteidigen will, sollte sich gelegentlich
die hübsche Weisheit zu Gemüte führen, wonach sich alles ändern muss, wenn
alles so bleiben soll, wie es ist. Klingt zunächst paradox, entspricht jedoch
unserer Erfahrung: Um die Essenz zu retten, muss man manchmal die Form
verändern.
Ach
ja. Auch Bhutan kann sich vom Sprung aus dem Mittelalter ins 21. Jahrhundert
nicht vollständig retten und modernisiert sich so schnell, dass ein Kenner des
Landes jedes Mal, wenn er nach ein paar Monaten wieder kommt, etwas Neues
entdeckt. Selbst da gibt es also keine hundertprozentige Stabilität. Aber einen
bemerkens- und bedenkenswerten Umgang mit dem Spagat zwischen Tradition und
sinnvollem Neuem:
Als
eine Flut die Brücke vom wichtigsten Kloster, das auf einer Flussinsel liegt,
zum Ufer weggerissen hatte, und man die Brücke nicht einfach wieder genau
gleich aufbauen konnte, weil der Fluss durch die Flut auch deutlich breiter
geworden war, einigte man sich schließlich darauf, die Brücke äußerlich ganz
traditionell zu bauen, ihr aber im verborgenen Inneren durch eine moderne
Konstruktion mehr Stabilität zu verleihen...